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TRISTAN

Der blauschimmernde Lufthauch streifte mich noch vor der eigentlichen Magie und ich stolperte aus dem Bus, geriet ins Taumeln und suchte vergeblich nach meinem Gleichgewicht. Im letzten Moment fand meine Hand Halt an der taufeuchten Wand des Wartehäuschens. Darauf klebte das inzwischen verblichene und verunstaltete alte Plakat zum 150. Jubiläum der Stadterhebung. Der Turm von Schloss Falk war gerade noch zu erkennen. Wie gerne würde ich ihn manchmal nutzen – in Situationen wie eben.

Der Westturm gehörte zur Silhouette von Falkhausen. Nur ahnte heute keiner mehr, dass in jenem Turm damals echte Hexen untergebracht waren.

Zwei Jungs aus meinem Bus gingen kopfschüttelnd an mir vorbei und ließen sich über meine Tollpatschigkeit aus. »Und so jemand unterrichtet im Gemeindezentrum Selbstverteidigung. Mein Cousin Max schwärmt ständig von ihm.«

»Vielleicht solltest du ihm mal erzählen, dass sein Idol zwei linke Füße hat.«

Es tat weh.

Nicht die Lästerei, sondern der Gedanke, dass der Typ Max von meiner Stolperei erzählen könnte. Wie gerne hätte ich ihm an den Kopf geworfen, dass er keine Ahnung hatte, weder er noch der Kerl an seiner Seite oder all die anderen, die gerade wie bunte Wellen aus den Bussen quollen und auf die Schule zustrebten. Schwatzend, miteinander scherzend, lachend. Oder ruhig und in sich gekehrt wie Alex, die gerade gedankenversunken an mir vorbeizog und mich nicht beachtete. Ich folgte ihr, achtete auf jeden Luftzug. Schrak beim Zischen der sich schließenden Bustüren zusammen und ignorierte die Blicke von Chris und Noah, die vor der Bäckerei standen und mich beobachteten.

Die Sonne wärmte meinen Rücken, während ich zusah, wie die letzten Busse abfuhren, die Wogen an Schülern versiegten. Ich stand noch immer vor dem Schulgebäude und wartete. Der Platz leerte sich zunehmend.

Kurz vor dem ersten Klingeln kam Mara endlich den Weg vom Parkplatz entlanggerannt, sodass ihr in allen Regenbogenfarben leuchtender Pferdeschwanz auf und ab hüpfte.

»Wann schaffst du es endlich, deinen Wecker früher zu stellen?«, rief ich und ging ihr entgegen. Im Schatten der Bäume war es noch empfindlich kalt, obwohl es schon Mitte April war, und ich rieb mir fröstelnd die Gänsehaut von den Armen.

Mara holte keuchend Atem, grinste mich dann nur an und schob ihre Brille den Nasenrücken hoch. »Er ist früher gestellt. Aber ich schwöre dir: Meine innere Uhr weigert sich, auf den Wecker zu hören. Es ist wie verhext!«

»Hexerei sieht anders aus, glaub mir.«

Leuchtende Sigillen, bläulichweiße Wellen. Oder bronzene Brunnenfiguren, die davonrennen wie kleine Kinder. Ich wurde die Bilder der vorletzten Nacht nicht los.

»Vielleicht solltest du abends einfach mal eine Folge weniger auf Netflix schauen und früher schlafen gehen«, sagte ich und schob sie in Richtung Haupteingang. »Sonst werden deine Augenringe bald den Rest deines Gesichts erobern.«

Mara streckte mir die Zunge raus, als ich ihr die Tür aufhielt. Ihre grünen Augen funkelten dabei amüsiert, sodass ich nicht auf die Umgebung achtete und wir beinahe in Noah hineinliefen.

»Wo kommt ihr so plötzlich her?« Mara wandte sich zu den beiden um und kniff die Augen zusammen. Statt zu antworten, grinste Noah nur. In seinen Augen funkelte etwas, das mir Sorgen bereitete, und ich zog Mara schnell von der Tür weg in den langen Flur des Altbaus der Schule hinein.

»Was können wir dafür, dass du so blind bist?«, rief Chris uns hinterher. »Vielleicht solltest du über eine stärkere Brille nachdenken?«

Natürlich konnte ich kaum verhindern, dass Mara auf die Herausforderung reagierte und sich zu Chris umdrehte. Er fuhr sich gerade durch die Haare. Dabei spannten sich Brustmuskulatur und Bizeps unter dem hautengen Shirt übernatürlich stark an. Am liebsten hätte ich über seine Eitelkeit gelacht, aber trotz meines täglichen Trainings war ich ihm nicht gewachsen. Magie schlug Jiu-Jitsu. Das war eine Tatsache, weshalb ich nur einen Gedanken hatte: Mara sollte besser keinen Hexer provozieren.

Diese war weder beeindruckt von Chris’ Muskulatur noch von seiner herbeigehexten überteuerten Designerkleidung, den perfekt gestylten dunklen Haaren, die er ohne Magie nie so perfekt verstrubbelt hinbekommen würde, oder seiner schneidenden Stimme. Sie straffte ihre Schultern und setzte zu einer Erwiderung an. Jeder einzelne Nerv, jeder Muskel meines Körpers war angespannt, auch wenn ich wusste, dass ich den beiden rein gar nichts entgegenzusetzen hatte.

»Vielleicht lässt mich meine Brille auch nur die wirklich wichtigen Dinge sehen?«

Ich verschluckte mich an meinem Lachen und begann zu husten.

»Tristan habe ich sofort gesehen.« Sie schenkte Chris ein strahlendes Lächeln, ehe sie sich bei mir unterhakte. Ich sah hinab auf Chris’ linken Unterarm. Maras Blick folgte meinem. Doch sie konnte nicht sehen, wie die Linien an der Innenseite seines Unterarmes zu leuchten begannen.

Das Licht, das nun auf mich zuraste, kam allerdings von der anderen Seite. Von Noah. Sein Zauber kroch über meinen rechten Arm, direkt in den Träger meines Rucksacks und zerrte daran. Der Träger riss und mit einem lauten Poltern fiel der Rucksack hinab und der Inhalt ergoss sich über den Boden. Der Reißverschluss hatte sich durch Noahs Magie ebenfalls geöffnet.

Mara ging noch vor mir in die Hocke, um mir beim Einsammeln meiner verstreuten Sachen zu helfen.

»Du solltest besser aufpassen, Tristan«, sagte Noah, ehe er so dicht an mir vorbeiging, dass ich ins Taumeln geriet und mein Mäppchen wieder fallen ließ. Dann gingen beide mit schnellen Schritten Richtung Atrium und trennten sich dort, um ihre jeweiligen Klassenräume aufzusuchen.

»Das sind solche Idioten!«, schrie Mara ihnen laut genug hinterher, dass ich nur hoffen konnte, dass die beiden pünktlich im Unterricht sein wollten und nicht darauf eingingen, ehe sich auch der Inhalt von Maras Schultasche zufällig auf den Boden ergoss. »Sie hätten auch mal helfen können«, fügte Mara wesentlich leiser an mich gewandt hinzu.

»Du kennst die beiden doch.« Wir durchquerten das Atrium und strebten an zig Plakaten vorbei auf den Flur zu, in dem Chris verschwunden war. »Lass uns zum Matheunterricht gehen.«

Mara nickte gedankenverloren und schob sich die Brille den Nasenrücken hoch. »Auf ihre Bekanntschaft hätte ich gerne verzichtet. Selbst Mathe bei Herrn Reeder ist besser als deine Stiefbrüder.«

Da hatte sie recht, aber leider kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Ich war das schwarze Schaf. Der einzige Sprössling einer uralten Hexendynastie, der kein bisschen magisch begabt war. Ich war ein Wissender, damit aufgewachsen, dass zu Hause kein Handgriff ohne den Einsatz von Magie erfolgte. Aber ich hatte nur noch ein Jahr bis zum Abitur, noch 209 Tage bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Dann konnte ich meine Stiefmutter Carina bitten, mir den Status eines Wissenden zu entziehen. Ich würde alles, was mit Hexen zu tun hatte, vergessen und ein Leben führen können wie alle anderen. Ohne die Einwirkung von Hexen. Die magischen Dokumente hierfür lagen von mir bereits unterzeichnet zu Hause in meinem Nachtschrank. Es fehlte nur noch Carinas Unterschrift und ich wäre befreit.

Magic Tales - Verhext um Mitternacht

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