Читать книгу Magic Tales - Verhext um Mitternacht - Stefanie Hasse - Страница 13
ADELA
ОглавлениеNie wieder, schwor ich mir, würde ich auf diese Art reisen. Was bei allen Dunkelhexen hatte mich geritten, Glorias Angebot abzulehnen, mich via Sigillenfährte hierherzubringen?
Mein Koffer mit allem, was laut Gloria absolut notwendig für eine Woche war, wog nahezu eine Tonne, und nachdem ich ihn bereits über Bahnsteige in Mailand und Zürich gezerrt hatte, wurden die Bahnhöfe im Süden Deutschlands immer kleiner und die Distanzen, die ich zwischen Ankunfts- und Abfahrtgleis rennen musste, kürzer, bis endlich meine Endhaltestelle ausgerufen wurde.
Ich wuchtete den Koffer aus dem Zug, versicherte mich, dass ich meine Umhängetasche und die zusätzliche von Abelarda gepackte Tasche mit Lebensmitteln für die lange Reise – über zehn Stunden war lange, aber mit dem Inhalt der Tasche hätte man eine ganze Familie sicher eine Woche ernähren können – über der Schulter hatte.
Der Bahnsteig von Falkhausen war wie verwaist, nachdem der Zug wieder weitergefahren war. Das einzige Haus weit und breit war das winzige Bahnhofsgebäude, das nicht einmal einen Schalter hatte und eher die Bezeichnung Baracke verdient hätte – passend zu dem verfärbten Putz und den schlechten Graffiti darauf. Nur wenige Meter – ein paar Parkplätze und die Zufahrtsstraße – hinter dem Gebäude und den Gleisen begann ein dichter Wald, hinter dem laut Google Maps mein Ziel lag. Auf der anderen Seite gab es nur weitläufige Wiesen und Felder, die bis zum Horizont reichten, wo sich der Himmel gerade in feuriges Orangerot verfärbte.
Von Falkhausen selbst war von meinem Standpunkt aus nichts zu sehen. Ich zog meinen Koffer den Bahnsteig entlang auf das Bahnhofsgebäude zu, doch auch dort wartete niemand auf mich. Meine Gastmutter Ingrid hatte mir am Telefon versichert, mich abzuholen, weil die Busse um diese Uhrzeit extra bestellt werden mussten.
Ich wartete vor dem Gebäude, während es dämmerte und letztendlich die Laternen, die die fünf Parkbuchten beleuchteten, angingen.
Beinahe zeitgleich raste ein Auto die Straße entlang und blieb mit einer Vollbremsung direkt vor mir stehen. Eine Frau mit weißblonden kurzen Haaren stolperte aus der Fahrertür und stürmte auf mich zu. Sie hatte mich schneller im Arm, als ich irgendwas hätte einwenden können, und die Worte quollen so schnell aus ihrem Mund, dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen.
»Es tut mir entsetzlich leid, Kindchen. Ich habe mich mit Babs verquatscht und die Zeit vergessen.«
Ich lächelte meine Gastmutter nur an und nickte. Als sie tatsächlich meinen Koffer nehmen und ins Auto heben wollte, griff ich schnell ein. Ich wollte ungern mein Armband lösen, Magie einsetzen müssen und mich enttarnen, nur weil meine Gastmutter zusammenbrach.
Ingrid hatte einen mehr als flotten Fahrstil und mehrmals hatte ich Angst, dass ich die Fahrt ohne Magie nicht überleben könnte. Meine Finger waren um mein Armband gekrallt, sodass ich es notfalls jederzeit abreißen könnte.
Endlich hatten wir das Waldstück durchquert und in einer kleinen Senke dahinter zeigten sich die ersten Häuser von Falkhausen. Wir fuhren die Hauptstraße entlang und kamen in den alten Ortskern mit einem historischen Rathaus, dessen Fensterläden neben dem modernen Einkaufszentrum wie aus der Zeit gefallen schienen. Kurz bevor Ingrid in eine kleine Straße abbog, konnte ich Schloss Falk erkennen, das von einem zugebauten Hügel auf die Stadt hinabblickte. Es war eher ein Schlösschen, meine Aufmerksamkeit jedoch zog der mit Spots erleuchtete Turm an der Westseite auf sich. In den historischen Unterlagen wurde er Hexenturm genannt und ich erschauderte.
Was Ingrid jedoch falsch deutete. »Ist dir kalt, Kindchen? Wir sind gleich da.«
Nahezu zeitgleich bremste Ingrid, schoss auf den großen Vorplatz eines Bauernhauses zu und legte erneut eine Vollbremsung hin, die mich dankbar für die Erfindung des Gurtes werden ließ.
Meine Tür wurde von außen aufgerissen und eine grauhaarige Frau mit Schürze begrüßte mich. »Wir freuen uns, dass du da bist, Ela. Wir hatten lange keine Gastschüler mehr aus Rom. Die meisten jungen Leute wollen raus aus Europa, gehen für ein paar Monate nach Amerika oder …«
»Lass das Kind in Ruhe, Babs«, ging Ingrid dazwischen, die im Gegensatz zu mir schon das Auto verlassen hatte und die Frau mit einem »das ist meine Nachbarin Barbara, du kannst sie Babs nennen« zur Seite schob. Ich lächelte unbeholfen, während ich ausstieg. Ingrid öffnete in der Zwischenzeit den Kofferraum und ich hastete zu ihr, weil ich nicht zusehen konnte, wie sich die haspeldürre Barbara einen Bruch anhob.
»Ist das Essen fertig?«, fragte Ingrid und Barbara antwortete empört.
»Natürlich. Was denkst du denn?«
Ich ließ mich von den beiden Frauen in das alte Bauernhaus ziehen, wo ich, noch ehe ich mein Zimmer auch nur sehen durfte, mit ihnen in der gemütlichen Küche zu Abend essen musste.
Ohne Magie zu sein, fühlte sich in ihrer Gegenwart jedoch gar nicht mehr so schlecht an.
Als ich am nächsten Morgen die knarrende Holztreppe herunterkam, saßen Ingrid und Barbara bereits am Küchentisch. Ingrid erklärte mir, dass sie und Barbara den kleinen Hof gemeinsam am Laufen hielten, seit Ingrids Mann verstorben war. Während wir aßen und Kaffee tranken, planten sie den Tag, der für das Alter der beiden Frauen durchaus ambitioniert war. Aufgrund des langen Winters war es erst jetzt warm genug, den Mais auszusäen. Barbara wollte allerhand im Garten hinter dem Haus erledigen.
So hörte ich zu, was es zu tun gab und, wichtiger noch, was es an neuem Klatsch im Ort gab – denn hierfür waren die beiden offenbar eine unerschöpfliche Quelle. Doch es fiel kein Wort über von Dunkelmagie zum Leben erweckte Brunnenfiguren. Die Jäger hatten tatsächlich alle Zeugen aufgespürt und ihre Erinnerungen gelöscht.
Nach dem Frühstück fühlte ich mich wie nach einem Crashkurs in Landwirtschafts- und Gartenkunde, zusätzlich vollgestopft mit etlichen Namen, die mir nichts sagten und die ich – wenn man bedachte, was so getratscht wurde – auch besser nie gehört hätte.
Mit einem Pausenbrot von Ingrid im Rucksack folgte ich der Wegbeschreibung der beiden zum Grimm-Gymnasium, meldete mich wie von Ingrid empfohlen im dortigen Sekretariat und suchte anschließend nach meinem Klassenzimmer für die erste Stunde.
»Ela Bianchi.«
Wieder und wieder flüsterte ich den Namen meiner neuen Identität vor mich hin. Er schmeckte falsch auf meiner Zunge. Vielleicht lag das aber auch an den vielen sich gegenseitig überlagernden Gerüchen. Die Wissenschaft im Wissenschaftstrakt hatte ich mir anders vorgestellt. Sauberer. Aber hier roch es abgestanden, nach Schweiß, Putzmittel, Aftershave, Haarspray und alten Socken. Alles auf einmal. Ich wollte gar nicht wissen, was hinter den metallenen Türen der Spinde, an denen ich gerade vorbeilief, vor sich hin gammelte. Der Ekel packte mich bei den Schultern und schüttelte mich. Daher konzentrierte ich mich auf die zarte Apfelnote, die ebenfalls in der Luft hing, und auf das ausgedruckte Blatt in meiner Hand mit meinem Stundenplan. Endlich hatte ich ihn gefunden: Raum 1.2.5. Mathematik bei Herrn Reeder. Mein Puls raste wie zuletzt bei … ich hatte keine Ahnung. Die Nervosität hatte mich fest im Griff und ich fürchtete, von der Türklinke abzurutschen, weil sich auf meinen Handflächen ein Schweißfilm gebildet hatte.
Mit jedem Blick auf die kahle Stelle, an der sich sonst meine Sigille befand, verspürte ich lähmende Sehnsucht. Meine Hexeninstinkte drängten darauf, das Armband sofort wegzureißen, es zumindest anzuheben, damit ich wenigstens zu einem Teil wieder ich selbst sein konnte.
Doch genau das durfte ich nicht sein, wenn ich hier etwas herausfinden wollte.
Ich rieb die Feuchtigkeit in meinen Handflächen an meiner Jeans ab und drückte anschließend die Klinke. Als ich eintrat, richteten sich sämtliche Blicke auf mich und eine neue Mischung aus Gerüchen strömte auf mich ein. Wie im Flur drang die zarte Apfelnote an meine Nase, aber da war noch etwas anderes, etwas … Überwältigendes, das mich mit voller Wucht traf.
Der Duft nach Sommerregen, nach glücklichen Gesichtern, die sich den Tropfen entgegenstreckten, Erneuerung nach langer Trockenheit. Er war so intensiv, dass mein Herz vor Freude aus dem Takt geriet. Ich sog tief den Geruch von purem Glück ein und schloss kurz die Augen, um ihn festzuhalten. Es war derselbe Rausch wie beim Wirken eines großen Zaubers, wenn die handgezeichnete Sigille an die Elemente übergeben wurde. Als ich die Lider wieder öffnete, sah ich direkt in die blauen Augen eines Jungen. Ich musste blinzeln, um von dem überwältigenden Glücksgefühl getrieben nicht darin einzutauchen, mich zu verlieren wie in einem endlosen Meer. Ich rang nach Luft wie nach einem langen Tauchgang und die Mischung aus Deodorant, Haarspray, billigem Aftershave und Schweißfüßen holte mich in die Realität zurück.
Ich stand vollkommen sprachlos vor einer Klasse mit ungefähr dreißig Schülerinnen und Schülern, die offenbar hocherfreut darüber waren, dass der Mathematikunterricht unterbrochen wurde – und vor denen ich mich gerade gnadenlos blamierte. Der Junge, den ich die ganze Zeit schamlos angestarrt hatte, schob sich verlegen die halblangen blonden Haare aus dem Gesicht. Seine Lippen waren leicht geöffnet, als wolle er mir etwas sagen, während ich noch immer nicht den Blick von ihm lösen konnte. Er besaß hohe Wangenknochen, kantige Gesichtszüge und eine etwas zu breite Nase. Instinktiv fragte ich mich, ob er sie irgendwann in der Kindheit vielleicht gebrochen hatte. Seine Lippen bildeten einen perfekten Bogen, ehe er sie zwischen die Zähne zog.
Ein Räuspern neben mir schreckte mich auf und ein paar Schüler kicherten. Meine Wangen brannten und ich riss mich endlich zusammen und lenkte den Blick auf den Mann, der neben mich getreten war, ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Sie müssen die neue Austauschschülerin sein«, sagte der Lehrer mit einem freundlichen Lächeln inmitten des grauen Vollbarts und sah kurz in ein Buch auf dem Lehrerpult. »Ela Bianchi, nicht wahr?«
Ich nickte und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen, mit dem ich mich dann auch an den Rest der Klasse wandte. Ein paar meiner Mitschüler erwiderten es sofort. Von einem schüchternen Zucken der Mundwinkel bis zu einem ehrlichen Lächeln unter neugierigen Augen war alles vertreten. Nur der blonde Junge starrte mich finster an. Dafür traf mich aus der letzten Reihe ein intensiver Blick aus dunkelbraunen Augen. Ich kannte das Gesicht von zahlreichen Fotos aus den Unterlagen, die mir mein Vater zur Vorbereitung auf die Mission mitgegeben und die ich während der langen Zugfahrt ausgiebig studiert hatte. Christoph Brands Augen blitzten voller Neugier auf, während mich sein Blick von oben bis unten abtastete, bis ich mich am liebsten bedeckt hätte. Dennoch lächelte ich ihn hoffentlich gewinnend an, während ich zu dem mir zugewiesenen Platz in der fast leeren ersten Reihe zuging.
Herr Reeder widmete sich jetzt wieder der Gleichung an der Tafel. Die meisten im Raum schienen wenig Interesse am Änderungsverhalten von Funktionen zu haben, sie flüsterten leise miteinander oder zeichneten wie das braunhaarige Mädchen neben mir auf den Block. Ich versuchte, einen Blick auf ihr Kunstwerk zu erhaschen, doch sie bedeckte es größtenteils mit ihrem Arm. Danach sah ich mich noch einmal im Klassenzimmer um und erkannte, dass nur fünf Personen zumindest so taten, als würden sie etwas von Analysis verstehen. Ich versuchte, Herrn Reeders genuschelten Erklärungen zu folgen, während ich in dem Mathebuch, das ich zuvor im Sekretariat erhalten hatte, nach den entsprechenden Seiten suchte.
Das Zeichentalent zu meiner Rechten versteifte sich und seufzte genervt auf, als würde sie mein Blättern in ihrer Konzentration stören. »Seite 87«, sagte sie, ohne aufzusehen, ehe sie sich bereits wieder ihren Bleistiftstrichen widmete.
»Danke«, murmelte ich nur, schlug die entsprechende Seite auf und versuchte den Zusammenhang zu dem Gewirr von Graphen an der Tafel herzustellen. Offensichtlich hatte ich ein großes Defizit, was den Lernstoff an normalen Schulen anging, und meine Finger verhakten sich instinktiv in dem Armband an meinem linken Arm. Der Drang, den Kontakt des Kristalls mit meiner Haut zu unterbinden und mein Problem mit Magie zu lösen, war schier übermächtig. Doch dann würde Christoph Brand wissen, dass ich eine Hexe war wie er ein Hexer, und das durfte nicht passieren, wenn ich meine Mission erfüllen wollte.
Kaum dass es geklingelt hatte, sprangen die meisten meiner neuen Mitschüler auf und verließen fluchtartig den Raum. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Der Mief von rund dreißig Jugendlichen in einem Raum mit geschlossenen Fenstern war nahezu unerträglich. Draußen prasselten mittlerweile dicke Regentropfen gegen die Scheiben, weshalb vermutlich niemand die Fenster geöffnet hatte. Kurz überlegte ich, ob hier der Geruch von Petrichor, den man eigentlich nur nach einem Regenschauer im Sommer wahrnehmen kann, schon im Frühjahr vorkam oder ob mir meine Nase einen Streich gespielt hatte.
Die Letzten in der Schlange am Eingang waren das Mädchen mit den Regenbogenhaaren und der blonde Junge, die miteinander scherzten und lachten. Ihnen zuzusehen, wie sie entspannt aus dem Klassenzimmer schlenderten, sorgte für einen Stich in meiner Brust. Genau so etwas hatte ich mir immer gewünscht. Vor allem in den letzten Jahren.
Mittlerweile war das Klassenzimmer bis auf Herrn Reeder, der in seine Lektüre versunken auf die nächste Klasse wartete, und das Mädchen neben mir verwaist. Letztere war noch immer vollkommen in ihre Zeichnung vertieft, ihre dunkelblonden, fast schon braunen, gewellten Haare hingen wie ein Vorhang zwischen uns und sie summte kaum hörbar und in völlig dissonanten Tönen irgendein Lied, das ich nicht erkannte. Ihr musikalisches Talent war im Vergleich zu ihrem zeichnerischen praktisch nicht vorhanden. Ich packte meine Sachen extra laut ein, schob meinen Stuhl schabend über den Boden, doch sie zuckte nicht einmal, während Herr Reeder aufsah. Unschlüssig, ob ich sie einfach sitzen lassen sollte, zählte ich zehn Atemzüge zur Beruhigung. Dann stupste ich sie an der Schulter.
Sie erschrak so sehr, dass ein dicker Bleistiftstrich ihr Kunstwerk spaltete, ehe sie empört aufsprang. Mein Rucksack, den ich auf den Tisch gestellt hatte, geriet gefährlich ins Wanken und ich hielt ihn fest.
»Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass die Stunde zu Ende ist«, sagte ich und streckte ganz langsam eine Handfläche nach vorne.
Das Mädchen sah sich um und ihre graugrünen Augen wurden groß. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf mich und wirkte nun ebenso unentschieden wie ich zuvor.
»Danke«, murmelte sie dann und sammelte hastig ihre Unterlagen zusammen und steckte sie in die Tasche. In Sachen Kommunikation waren wir beide offensichtlich echte Asse. Ich gab mir einen Ruck und wollte mich eben vorstellen, da platzte das Mädchen nur für mich hörbar heraus: »Wenn Herr Reeder monologisiert, kann ich am besten zeichnen. Er ist meine persönliche Muse.«
Bei der Vorstellung des grauhaarigen Herrn Reeder als Muse musste ich einfach lachen. Meine Nervosität verschwand und mein Lachen fühlte sich so ungewohnt und sogleich befreiend an und so echt, dass mein Gegenüber ebenfalls schüchtern grinste.
»Ich bin Ela«, stellte ich mich noch einmal vor, obwohl Herr Reeder am Anfang der Stunde meinen Namen genannt hatte. Ich schob meine Tasche weiter zur Tischmitte und streckte ihr meine Hand entgegen.
»Ich bin Alex. Und nochmals danke fürs Aufwecken.« Alex nahm meine Hand zögernd entgegen, drückte sie dann ganz leicht.
»Jederzeit. Aber wäre es nicht einfacher, wenn du seine Stimme aufnimmst und zu Hause zeichnest?«
Alex zuckte nur mit den Schultern. »Ich kann das alles.« Sie wedelte mit der Rechten, die noch immer den Bleistift hielt, in Richtung Tafel.
»Wirklich?« Ich konnte nicht anders, als unauffällig auf ihren Unterarm zu linsen, ob sie eine Sigille trug, während sie ihre restlichen Sachen einpackte. Der süddeutsche Zirkel war recht groß. Früher, vor der Hexenverfolgung, musste es in der Gegend vor Magie geprickelt haben. Auch wenn etliche Hexen getötet worden waren, gab es noch einige Familien von hier bis zum Bodensee. Aber Alex war keine von uns. Sie nahm ihren Rucksack am Tragegriff und sah mich schon beinahe gelangweilt an, ehe sie tief Luft holte und die Worte aus ihrem Mund polterten wie auswendig gelernt.
»Du bist, soweit ich weiß, im zweiwöchigen Austauschprogramm, daher machen wir es kurz und knapp: Ich bin diejenige, von der sich alle fernhalten, weil sie immer alles besser weiß und jeden korrigiert. Also schön, dich kennengelernt zu haben.« Sie wirbelte so schnell herum, dass mir ihre Haare ins Gesicht peitschten. Apfelduft umfing mich. Sie war es, die ich im Flur gerochen hatte! Das war ein Zeichen und als Hexe nahm ich so etwas sehr ernst.
»Und warum rennst du dann jetzt weg?«, rief ich ihr hinterher. Alex war schon beinahe bei der Tür angekommen, während ich noch meinen Rucksack schulterte. Ihre dunklen Brauen bildeten beinahe eine nahtlose Linie, als sie sich zu mir umwandte.
»Sieh dich an! Du wirst schon ganz schnell die angesagte Clique hier kennenlernen. Die Hyänen warten draußen sicher schon auf ein neues Rudelmitglied.«
Mein Unverständnis musste sich in meinem Gesicht widerspiegeln, dennoch reagierte Alex nicht und ging durch die Tür in den Flur. Ich folgte ihr die Spinde entlang, froh über ihren Apfelgeruch, der mich selbst blind durch die teils scheußlichen Gerüche hier hätte leiten können. Für die nachfolgenden Tage würde ich mir etwas überlegen müssen. Meine Nase war offensichtlich immer noch zu empfindlich, auch wenn der Hämatit die Magie unterdrückte.
»Du weißt es wirklich nicht, oder?«, fragte sie nach einem kurzen Seitenblick und ich schüttelte langsam den Kopf. Sie schlängelte sich weiter zwischen Schülergruppen hindurch, die überall herumstanden. Das war eindeutig unhöflich und ich war drauf und dran, ihr das auch zu sagen – wenn sie nicht immer davongerannt wäre! Ich sah, wie sich ihr Brustkorb dehnte, als sie tief Luft holte und sich halb zur Seite drehte. Ich hatte weiterhin Mühe, mit ihr Schritt zu halten, was sie nicht im Geringsten veranlasste, langsamer zu werden. »Hör mir mal zu. Welche Schule du auch sonst immer besuchst …«
»Ich werde zu Hause unterrichtet«, unterbrach ich sie schnell. Sofort weiteten sich ihre Augen für einen Moment und ihre Schritte gerieten aus dem Takt, weshalb wir endlich etwas langsamer gingen. Ich war interessant für sie. Das war doch ein Anfang.
»Dann verkürzen wir das ganze Drama doch einfach und ich gebe dir einen kurzen Crashkurs in Sachen deutsches Schulsystem.« Sie blieb stehen und stellte sich mir direkt gegenüber auf. »Mit Strebern wie mir will keiner etwas zu tun haben. Es sei denn, jemand will meine Notizen oder Hausaufgaben. Und Menschen wie ich gehören niemals zu dieser einen Clique, die sich für besser hält als die anderen, deren Mitglieder hübscher sind, sich teure Kleider leisten und an Ausflügen teilnehmen können, ohne den Förderverein anzuschreiben …« Alex schluckte, was mir Zeit gab, sie zu unterbrechen.
»Aber was hat das mit mir zu tun?«
Sie fasste sich schnell wieder und sagte völlig emotionslos: »Du siehst aus wie eine von ihnen.« Dabei deutete sie mit der Hand den Flur entlang auf eine Gruppe lachender Schüler, die sich im Atrium rund um ein großes blaues Sofa versammelt hatten, das vor dem Schullogo mit den Silhouetten verschiedener Märchenfiguren stand. Die beiden Jungs erkannte ich sofort. Noah Brand sah aus wie eine weichgezeichnete Version von Christoph. So ähnlich sahen Gloria und ich uns nicht. Noah besaß noch einen Hauch kindlicher Züge, seine Haltung jedoch strahlte ungebändigtes Selbstbewusstsein aus.
Bei den Brüdern standen mehrere Mädchen, die, wenn man die aus menschlichen Zeitschriften bekannten Schönheitsideale zum Maßstab nahm, wohl gutaussehend waren.
»Ist es schlimm, wie eine von ihnen auszusehen?« Ich sah zurück zu Alex, die offenbar einen Moment länger über meine Frage nachdenken musste.
»Nein, ich denke nicht.« Es klang, als wäre sie nicht sehr überzeugt davon. Am Ende schwang deutlich ein Fragezeichen mit. Sie wollte noch etwas sagen, da lösten sich zwei der Mädchen aus der Gruppe und kamen auf uns zu. Alex wollte schon gehen, doch ich flüsterte ein »Bleib, bitte!«.
Unschlüssig sah sie von mir zu den Mädchen, schien jedoch neugierig genug, um abzuwarten, was passieren würde. Dennoch trat sie einen Schritt zur Seite, wie um den Ankömmlingen Platz zu machen.
»Du musst Ela sein. Willkommen am Grimm-Gymnasium«, sagte die eine mit honigsüßer Stimme, die für ein klebriges Gefühl in meinem Mund sorgte, während sie ihre blonden Locken über die Schulter warf. »Ich bin Patricia Gass, die Schülersprecherin. Rektorin Abt hat mich gebeten, dir alles zu zeigen.«
Ihre vermeintliche Freundlichkeit passte nicht zu dem abfälligen Blick, mit dem sie nun Alex bedachte.
Das Angebot war die perfekte Gelegenheit, mich der Gruppe Menschen anzuschließen, die sich um Christoph und Noah Brand scharten, die beiden kennenzulernen und Indizien für den Rat zu sammeln, damit sie eine Prüfung auf dunkle Magie durchsetzen konnten. Den anderen Grund – sie auf persönlicher Ebene kennenzulernen, um ihre Tauglichkeit für das Ritual zu prüfen – drängte ich zurück, ganz gleich, wie oft Mamma mir beiläufig erzählt hatte, dass beide sehr mächtig und talentiert seien und tatsächlich als Partner infrage kämen.
Mit einem kurzen Blick zu Alex schlugen meine Instinkte Alarm.
In weniger als zwei Atemzügen hatte ich mich entschieden. »Danke, aber das ist nicht nötig. Alex ist schon dabei, mir alles zu zeigen«, sagte ich schnell, weil ich einfach spürte, dass Alex mir weiterhelfen konnte. Sie war aufmerksam – wenn sie nicht gerade zeichnete – und könnte Details wahrnehmen, die für mich wichtig waren.
»Wenn du meinst«, sagte dann das andere Mädchen, das bislang nur dekorativ neben Patricia gestanden hatte. Sie hakte sich bei dieser unter und zog sie von mir weg. Laut genug, um auch ganz sicher von mir gehört zu werden, zischte sie Patricia zu, dass ich diese Entscheidung sicher bald bereuen würde.
»Warum hast du das getan?«, fragte Alex und sah den beiden hinterher, bis sie wieder beim Sofa angekommen waren und sofort in eine Unterhaltung mit den anderen Mädchen fielen, die prompt alle zu Alex und mir starrten.
»Ich mag sie nicht«, war meine ehrliche Antwort, was Alex wohl unfreiwillig zum Lachen brachte.
»Damit bist du nicht allein, glaub mir. Aber trotzdem haben sie irgendwie das Sagen hier. Und deine Abweisung ist für sie wie eine Kriegserklärung.«
»Das ist etwas übertrieben, oder?« Ich konnte keinerlei Anzeichen von Sarkasmus oder einer Lüge erkennen. Ich sah erneut zu Christoph und Noah. Rund um den Sitzplatz der Gruppe lag eine unsichtbare Grenze. Kein Schüler wagte es, in die private Zone der Gruppe einzudringen, als läge ein Bannzauber um sie.
»Wie wurden sie zu den Königen der Schule?«, fragte ich, ehe ich bemerkte, dass Alex nicht mehr an meiner Seite stand.
Ich hatte Mühe, sie einzuholen und mit ihr mitzuhalten. Den gesamten Weg zur nächsten Stunde ratterte Alex pflichtschuldig Namen von Mitschülern herunter – angefangen bei der Gruppe, die sich um Patricia versammelt hatte. Neben Patricia, die sich mir ja vorgestellt hatte, und Lea Walther, dem Mädchen, das sie begleitet hatte, interessierte ich mich natürlich am meisten für Christoph und Noah Brand. Alex’ Meinung über die beiden schwang so deutlich mit, als hätte sie das ›arrogante Idioten‹ direkt an den Nachnamen gehängt. Sie schob Christophs Beliebtheit auf die Tatsache, dass er Gitarrist und Sänger einer lokal erfolgreichen Band war. Ich bezweifelte, dass er dafür Talent und nicht Magie nutzte. Hexen und Hexer wurden in Sigillenschreiben, Kampf oder Kräuterlehre unterrichtet, nicht in mittels eines kurzen Zaubers erlernbaren Fähigkeiten. Alex erzählte mir auch, dass die Brands seit Generationen in einem uralten Anwesen in dem kleinen Wäldchen am Stadtrand wohnten, aber sich seit ein paar Jahren kaum mehr am Leben in der Stadt beteiligten. Außerdem ging das Gerücht um, dass die Familie eine uralte Fehde gegen die Falks, den Erbauern des Schlosses mit seinem Hexenturm, hegte. Das konnte ich sehr gut nachvollziehen. Letztendlich sind aber alle Nachfahren der Falks früh gestorben, bis der gesamte Besitz an die Stadt zurückfiel. Die frühen Tode waren sicher ebenfalls kein Zufall, fanden vermutlich noch vor der Erfindung des Occultatums statt. Denn seither war es Hexen und Hexern nicht mehr möglich, unwissende Menschen zu verfluchen.
Alex wusste wirklich jede Menge über die Familie, was mir einen Einblick vermittelte, wie die Menschen über die Hexenfamilie dachten. Insgesamt jedoch deckte sich mein erster Eindruck von den beiden Jungs aber mit ihrem, was mir Alex gleich noch etwas sympathischer machte. Ich konnte mir vorstellen, wie sehr sie versuchen würden, Eindruck zu hinterlassen, wenn sie gewusst hätten, dass ich eine Hexe war. Ich kannte diese Art Junghexer. Gloria hatte ständig welche im Schlepptau und ließ mich mit ihren Berichten alles hautnah miterleben. Dennoch versuchte ich unauffällig, noch mehr über die Geschwister zu erfahren.
Natürlich hatte Alex mehr als Stadtgeschichte zu berichten und gab mir bereitwillig Auskunft: »Ihre Mutter Carina hat einen stinkreichen Amerikaner geheiratet. Selbst nach dem Tod ihres Stiefvaters verbringen Chris – Christoph – und Noah die Ferien oft in den Staaten oder bei Freunden in Frankreich.« Sie klang nicht gerade enttäuscht darüber. Ich nickte bloß, um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich all das bereits wusste. In den Akten stand, dass sie oft nach Lyon reisten. Carina Brand pflegte seit ihrer frühen Jugend eine enge Freundschaft mit der dortigen Zirkelmeisterin Heloise Morèl.
Kurz vor dem Physikraum standen das Mädchen mit den Regenbogenhaaren und der Blonde mit den blauen Augen aus dem Matheunterricht an die Wand gelehnt, direkt unter unzähligen Postern, die für eine Aufführung der Theater-AG an der Schule warben. Ausgerechnet Wicked! Na ja. Ich konzentrierte mich auf das, was Alex über die beiden zu berichten hatte – und wie sie es sagte.
»Das sind Mara Rothschild und Tristan Atwood.«
Obwohl sie nicht laut sprach, sah Tristan zu uns, als hätte sie seinen Namen durch die gesamte Schule gebrüllt. Hitze schoss in meine Wangen. Dicht gefolgt von einem panischen Schaudern, als ich den Nachnamen erfasste.
Das … Das war unmöglich!
Von einer zur nächsten Sekunde schienen sich meine Pläne für den Aufenthalt in Deutschland in Luft aufzulösen und ich war kurz davor, das Armband mit dem Hämatit vom Handgelenk zu reißen und via Sigillenfährte zu verschwinden.
»Atwood?«, fragte ich mit einem peinlichen Krächzen in der Stimme. Wie bei allen Dunkelhexen konnte dem Rat so etwas entgehen?
Ich sah die Zeitungsberichte aus den Akten wieder direkt vor mir. Jede Hexe – ganz gleich wie alt sie war oder wie zurückgezogen sie lebte – kannte den Namen Atwood.
Liam Atwood war der mächtigste Hexer überhaupt gewesen. Bis der Rat herausgefunden hatte, woher er seine Magie bezog. Vor acht Jahren war er der Anwendung von Blutmagie überführt und nach einem kurzen Tribunal der Dunkelhexerei für schuldig erklärt und hingerichtet worden. Allein sein Name sorgte für ein Erschaudern bei den Junghexen, wann immer man ihnen die Geschichte am abendlichen Hexenfeuer der Zirkeltreffen erzählte – nicht ohne die Moral der Geschichte offensichtlich zu benennen: Machtgier führt zum Tod. Gänsehaut überzog meine Arme, die gebannte Magie drängte gegen die Fessel des Hämatits.
Alex bekam von meinem inneren Aufruhr nichts mit und nickte nur. »Atwood, genau. Er hat den Namen seines Vaters behalten. Er ist Chris’ und Noahs Stiefbruder.«