Читать книгу Magic Tales - Verhext um Mitternacht - Stefanie Hasse - Страница 18
TRISTAN
ОглавлениеChris war im Sportkurs in Höchstform – was bedeutete, dass er keine einzige Gelegenheit ausließ, mich in irgendeiner Weise bloßzustellen und dafür zu sorgen, dass ich zum Gespött aller anderen wurde, weshalb Noah, der von der Galerie der Turnhalle aus zusah, ihm immer wieder zujubelte. Herr Meißner, unser junger und überaus ambitionierter Sportlehrer, sah schon gar nicht mehr hin, wenn ich wieder einmal einen langsam gepassten Ball nicht auffangen konnte oder über meine Schnürsenkel stolperte – obwohl ich kurz zuvor noch Schuhe mit Klettverschluss getragen hatte. Chris’ Sigille gab ein konstantes schwaches Leuchten von sich, während er mit ihrer Hilfe einen Slam Dunk nach dem anderen vollführte – die bläulichweiße Wolke, auf der er nach oben getragen wurde, fiel natürlich keinem außer mir auf. Es war erniedrigend wie lange nicht mehr und ich war dankbar über das Läuten zu Ende der Stunde und der Demütigung. Chris ließ sich von seinen Kumpels auf den Rücken klopfen und von Herrn Meißner beklatschen.
Ich zog mir nur meine Jacke über und packte meine Klamotten in die Sporttasche, mit der ich dann vor der Halle nebenan, in der die Mädchen Sportunterricht hatten, auf Mara wartete, um mit ihr nach Hause zu gehen. Ich war dankbar für jede Minute, die ich nicht bei meinen Brüdern und meiner Stiefmutter Carina verbringen musste, und weil »die Zwerge« heute Kinderturnen hatten, war ich nicht verplant.
Tanja, Maras Mutter, öffnete schon die Haustür, als Mara ihren Roller noch in der Einfahrt des kleinen Einfamilienhauses am Waldrand parkte. Sie begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln und drückte erst Mara, dann mich, als hätte sie uns schon ewig nicht mehr gesehen.
Tanja überredete uns zu selbstgebackenen Keksen in der Küche, und während sie uns nebenbei heißen Kakao zubereitete, fragte sie uns über den Schultag aus.
»Wir haben eine neue Austauschschülerin – und Tristan hat sich in sie verguckt.« Noch vor ein paar Jahren hätte ich Mara dafür unter dem Tisch getreten, jetzt warf ich ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
Tanja drehte sich so schnell um, dass die heiße Milch im Topf überschwappte. Sie ignorierte die Sauerei jedoch und sah mich mit einem Schmunzeln auf den Lippen an. »Woher kommt sie denn?«
»Aus Rom. Aber ich kann online einfach nichts über sie finden. Sie ist mir suspekt«, erklärte Mara, während sie aufstand und die verschüttete Milch aufwischte.
»Eine Italienerin?« Tanjas Blick huschte hin und her. »Wie heißt sie denn?«
»Ela Bianchi«, antwortete ich offenbar in einem Tonfall, der Mara hinter Tanjas Rücken ein Herz mit den Fingern formen ließ.
Tanja drehte sich wieder zur hölzernen Arbeitsfläche mit unseren Tassen um und goss die Milch ein. Am Ende gab sie eine extra große Portion Schlagsahne in eine der Tassen, die sie danach vor mich stellte.
Während ich die Sahne auslöffelte, erzählte Mara weiter von Ela. »Du solltest sie ansprechen. Oder was denkst du, Mama?« Ich sah von ihr zu Tanja, die zu spüren schien, dass es nicht unbedingt das Thema war, über das ich sprechen wollte – schon gar nicht vor ihr. Und vielleicht war es auch nicht gerade ihr Lieblingsthema. Maras Vater hatte die Familie schon kurz nach Maras Geburt verlassen und Mara nur seine grau-grünen Augen hinterlassen. Den Rest ihres Äußeren hatte sie zweifelsohne von Tanja, was diese stets mit einem Schmunzeln als glücklichen Umstand bezeichnete. Mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen sah Tanja ein wenig wie eine Barbiepuppe aus.
»Wie sieht es eigentlich mit dem Test nächste Woche aus?«, wechselte Tanja das Thema und mit einem Mal war Mara sehr interessiert an dem Inhalt ihrer Tasse. Ich lächelte, während ich mir die nächste Portion Sahne in den Mund schob.
»Wir haben sogar in der Mittagspause gelernt«, log Mara und Tanja warf ihr einen eindeutigen Blick zu. Mara war die schlechteste Lügnerin der Welt.
Nach dem Kakao gingen wir in Maras Zimmer und arbeiteten den Stoff für den Test durch – eine gute Ausrede, Maras Fragen nach Ela immer gleich abzuwehren. Natürlich würde ich sie gerne kennenlernen – aber es gab genug Gründe, die dagegensprachen. Die meisten hatten mit Hexen zu tun.
Obwohl wir den Rest des Nachmittags mit Funktionen und Ableitungen verbrachten, war es wie immer gemütlich in Tanjas Haus. Beim Abschied zerrte ein Sehnen an meinem Herzen, als ich einen letzten Blick über die Schulter zur Tür warf, von wo Mara und Tanja mir zuwinkten. Mara lächelte und ich spürte wieder einmal, dass sich die beiden für mich so viel mehr nach Familie anfühlten als meine eigene Familie, die Brands.
Mit dem Rucksack über der Schulter nahm ich den Fußweg quer durch den Wald und legte an meinem Trainingsplatz – einer Lichtung fernab der Wege – eine kleine Trainingsstunde ein. Hierher kamen meine Brüder so gut wie nie.
Als mein Vater uns damals gemeinsam hierhergeführt hatte, war ich vielleicht vier Jahre alt gewesen. Er hatte uns die Geschichte dieses Platzes erzählt. Bis zum vorigen Jahrhundert hatte sich hier zwischen den dichten Bäumen die »Richtstätte« befunden. Während wir auf dem schmalen Pfad zum Schlossturm gingen, hatte Papas Erzählung einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Es war einfach gewesen, sich die Menschenmenge vorzustellen, die den armen Hexen gefolgt waren und voller Sensationsgier zusahen, wie man sie getötet und genau an diesem Punkt hier verscharrt hatte. Papa hatte mit einem lauten »Hängt die Hexen!« geendet und uns alle zu Tode erschreckt.
Ich erschauderte selbst bei der Erinnerung daran. Da ich aber kein Hexer war, hatte ich keine Angst vor diesem Ort – im Gegensatz zu Chris und Noah, die wie alle anderen Hexer geschichtsträchtige Orte wie diesen oder den Hexenturm jenseits des nun nicht mehr sichtbaren alten Pfades mieden. Anscheinend spürten sie den Horror solcher Plätze. Aber vielleicht war es auch nur eine Ausrede.
So übte ich hier Schritt-, Tritt- und Schlagabfolgen, die etwas mehr Platz benötigten, als ich in meinem kleinen Zimmer daheim zur Verfügung hatte. Auf dem weiteren Weg nach Hause besann ich mich auf die mentalen Stärken, die mir das Jiu-Jitsu brachte. Die Philosophie. Ich wurde ruhiger, erdete mich und ich konnte mit frischem Geist und ausgepowerten Muskeln das Anwesen betreten, das bei allen hier in der Gemeinde noch immer den Namen meines Vaters trug. Direkt hinter der großen Eingangstür stolperte ich beinahe über Roger, der total durchdrehte und wie ein Pfeil zwischen meinen Beinen herumschoss.
Wenigstens einer freute sich, wenn ich heimkam. Ich klopfte dem Yorkshire Terrier auf den Rücken, während ich meine Schlüssel in die Schale auf der Kommode warf. Roger genoss noch eine Streicheleinheit, ehe er mich mit sehnsuchtsvollen Augen zur Küche drängte, wo seine Leckerlis aufbewahrt wurden.
Ein Fauchen kündigte Saphirs Attacke an, die zu schnell vonstatten ging, als dass Roger sich hätte verteidigen können. Ich verabscheute Carinas mitternachtsschwarze Katze! Sie machte Roger das Leben zur Hölle, wie ihre Söhne es mit mir machten. Dabei war er ein Hund! Was konnte so schlimm an ihm sein? Ich gab ihm eine Extraportion seiner heißgeliebten Drops und kraulte Roger unter seinem Halsband. Danach trottete er hinter mir her zur Treppe und blieb unten unschlüssig stehen, als erwarte er eine Einladung.
Oben im Flur erreichte mich Carinas gellender Ruf. »Tristan!«
Ich atmete tief durch, ehe ich über die Brüstung nach unten sah. »Ja?«
»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir heute Nacht Gäste erwarten. Also verhalte dich ruhig.«
Was so viel hieß wie: Wage es ja nicht, aus deinem Zimmer zu kommen. Was sollte ich auch zwischen besagten Gästen? Mich zum Gespött machen wie damals als Zehnjähriger, als ich mich nach unten in den zum Zeremoniensaal umgebauten Partykeller geschlichen hatte und bis spät in die Nacht in meiner Haltung eingefroren zum Gespött aller gemacht worden war? Darauf konnte ich verzichten, daher nickte ich.
Aber Carina beachtete mich schon gar nicht mehr und widmete sich Saphir, die an ihren Beinen entlangstreifte, bis sie auf den Arm gehoben wurde. »Komm her, mein Baby.« Sobald sie mit Saphir sprach, begann Carina in einer albernen Babysprache zu gurren. Es war so lächerlich! Sie war die Zirkelmeisterin, eine der mächtigsten Hexen Süddeutschlands, und sprach so mit ihrer Katze. »Geht es dir gut? Hat dich der böse, böse Hund angegriffen? Soll ich ihn bestrafen?« An Saphirs Stelle würde ich mich von ihr fernhalten. Aber die schien es zu genießen, als Babyersatz herhalten zu müssen. Sie wurde nach Strich und Faden verwöhnt und kam immer mit allem durch. Wenn Roger sich für ihre miesen Attacken revanchierte, wurde er bestraft, nicht Saphir. Die beiden waren das tierische Abbild von Chris, Noah und mir.
Da Carina offenbar nichts weiter zu sagen hatte, drückte ich mich von der Brüstung ab und ging den Flur entlang. Mit einem leisen Tapsen auf der Treppe folgte mir Roger und huschte noch vor mir in den letzten Raum rechts, meinem Reich, der düstersten Ecke der Villa. Soweit ich wusste, waren hier damals die menschlichen Helfer untergebracht gewesen, bis die Beeinflussung von Unwissenden durch das Occultatum unmöglich gemacht worden war. In meinem ehemaligen Kinderzimmer standen nun ein Tischkicker und ein Billardtisch, an der Wand hing ein großer Fernseher für die Spielekonsolen, die sich auf dem Schrank darunter aufreihten. Nach Vaters Tod vor acht Jahren war es zu Chris’ und Noahs Gesellschaftszimmer geworden.
Ich schloss die Tür hinter Roger und mir. Immer wieder glaubte ich, dass mein Seufzen ein Echo hatte. Das Echo all der Untalentierten, die in diesem Raum endlich ihre Gefühle herauslassen konnten, ohne dafür bestraft zu werden. Wie immer sah ich mich sicherheitshalber um, die Härchen im Nacken aufgerichtet.
Nein, das war gar nicht unheimlich.
Ich verriegelte das Schloss – als würde es etwas nutzen! –, warf meine Schultasche auf den Boden und setzte mich zu Roger auf mein Bett, um ihn zu kraulen. Er legte seinen kleinen Kopf auf meinen Oberschenkel und wir entspannten uns.
Weit nach 22 Uhr kam Leben ins Haus. Chris und Noah kamen nach Hause – wo auch immer sie den restlichen Tag verbracht hatten. Vielleicht hatte Noah Chris zur Bandprobe begleitet. Carina bellte ihre Anweisungen und ich versuchte, nicht hinzuhören. Ihre grelle Stimme erreichte jedoch jeden Winkel des Anwesens. Die Gäste aus Frankreich würden in Kürze eintreffen.
Ich hatte die überdrehte Zirkelmeisterin damals in Massachusetts kennengelernt und seither war sie ein paarmal bei Carina zu Besuch gewesen. Heloise Morèl war mir unheimlich. Und das nicht nur, weil sie Cruella de Vil doubeln könnte. Mich würde nicht wundern, wenn sie in ihrem Zirkel noch Rituale mit Tieren vollzog. Instinktiv presste ich Roger näher an mich. Die Hundemarke an seinem Halsband klimperte leise.
Wenige Minuten später, um exakt 23 Uhr, gab es einen leisen Knall und das Erlöschen der Sigillenfährte ließ wie jeder starke Zauber einen Lufthauch entstehen. Diesen bemerkten auch Untalentierte, aber sie sahen nur die flatternden Vorhänge oder hörten das Knallen der Türen. Das blasse bläulichweiße Schimmern am Rand der Magiewelle, die abebbte, je weiter sie auseinanderglitt, nahmen sie dank des Occultatums nicht wahr. Bei den meisten Zaubern war der Luftzug jedoch so gering, dass es niemandem wirklich auffiel, der nicht darauf achtete.
Carinas begeistertes Kreischen ließ mich erschaudern, danach war ich gezwungen, die überschwängliche Begrüßung des Lyoner Zirkels mit anzuhören, die in einer Lautstärke stattfand, die Tote aufwecken könnte. Dabei wollte ich doch nur schlafen. Ich konnte mir die Müdigkeit nicht mit einem kleinen Zauber austreiben.
Was mir jedoch ein klein wenig Genugtuung verschaffte, war die herabwürdigende Weise, mit der Heloise Chris und Noah begrüßte:
»Wie groß ihr geworden seid! Ihr seht ja schon beinahe wie echte Männer aus.«
Ich stellte mir vor, wie Heloise meine Brüder in die Wangen kniff und sie an ihren hageren, parfümgetränkten Körper presste, und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, woraufhin Roger mich vorwurfsvoll ansah. Dann bewegten sich seine Ohren und er starrte Richtung Tür. Ich befürchtete bereits das Schlimmste, wartete, dass sich der Schlüssel herumdrehte, weil irgendwer – Chris oder Noah! – meine Privatsphäre nicht anerkannte. Daher war ich über das Klopfen geradezu erschrocken.
»Ja?« Ich verschluckte mich beinahe an den zwei Buchstaben.
»Allo?«, erklang eine dünne Stimme. Das Klopfen wurde lauter und trotz Rogers Protest hob ich ihn von meinem Schoß und setzte ihn auf mein Bett, um zur Tür zu gehen.
Dahinter stand ein rothaariges Mädchen mit Sommersprossen, sie war höchstens zehn oder elf Jahre alt, und lächelte mich an. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, aber vermutlich gehörte sie dem Zirkel von Heloise an, die mitsamt ihrem Gefolge bis zum Erscheinen des Domus Magae hier wohnen würde.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich vorsichtig, weil mich das Mädchen einfach nur anstarrte. Oder eher an mir vorbeistarrte. Direkt zu … Ich drehte mich zu Roger um, der bereits wieder vor sich hin döste. Ich sprang schnell zur Seite, um der Kleinen die Sicht auf Roger zu versperren, und versicherte mich kurz mit einem Blick über die Schulter, dass Roger an Ort und Stelle blieb. Im Augenwinkel nahm ich ein Aufleuchten von Magie wahr und ich warf mich instinktiv in die Schusslinie – in dem Fall auf das Mädchen zu. Im letzten Moment wurde mir klar, dass ich mich gerade auf ein kleines Mädchen stürzen wollte – und lenkte meinen Körper mit einer Drehung zur Seite, wo ich polternd die Wand rammte. Den weit aufgerissenen Augen des Mädchens nach zu urteilen, erschrak sie mindestens genauso wie ich. Sofort rappelte ich mich auf und überlegte, ob ich mich entschuldigen sollte.
»Triiiiistaaaaaan!«, gellte Carinas Stimme durch den Flur. Und schon war das Mädchen verschwunden.
»Ja?«, rief ich zurück, erwartete aber keine Antwort. Der Ruf war lediglich eine Erinnerung daran, mich ruhig zu verhalten – was ich ja auch vorgehabt hatte. Ich wollte einfach nur in Ruhe mein Abi machen und von hier verschwinden. Zum Unwissenden werden und raus aus dem Wirkungskreis der magischen Welt. Ich ließ mich nach hinten fallen und kraulte gedankenverloren Rogers Hals. Er war die einzige echte Verbindung, die ich zu meinem Vater noch hatte. Zumindest war er das gewesen, bis ausgerechnet ein dunkles Augenpaar glückliche Erinnerungen zutage gefördert hatte, die längst verloren gewesen waren.
Ich kraulte Roger unter seinem Halsband und überlegte dabei wieder einmal, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich ein ganz normaler Unwissender wäre. Hätte ich mich getraut, Ela anzusprechen? Wären wir vielleicht in die Eisdiele gegangen oder hätte ich ihr die Stadt gezeigt?
Darüber grübelnd schlief ich ein.
In meinem Traum war plötzlich das rothaarige Mädchen bei uns an der Schule, während Ela im Flur vor meinem Zimmer stand und die Arme nach mir ausstreckte. Dieselbe Sehnsucht wie nach meinem Vater erfüllte mich, mein Herz raste allein beim Gedanken an die unendliche Dunkelheit ihrer Augen und ich fiel. Endlos. Bis ich die Augen öffnete und eine raue Zunge über meinen Hals leckte.