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Kapitel 1

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Ich stehe bis zu den Knöcheln im Wasser und blicke aufs Meer hinaus. Der Wind weht mein Haar über meine Schulter und kühlt den Schweiß auf meiner Stirn. Die Sonne ist unerbittlich und das jeden Tag. Jeder verdammte Tag auf dieser Insel ist gleich und verfolgt ein identisches Schema, das mir mittlerweile tierisch auf die Nerven geht. Die einzige Wolke, die sich hier jemals vor die Sonne schiebt und die Insel für wenige Minuten in Schatten taucht, wird gleich von einer leichten Brise in Position geschoben. Vorher jedoch wird eine Möwe krächzen, dann prallt eine größere Welle gegen das steinerne Kliff, sodass es spritzt und zischt. Und dann kommt diese kleine Wolke und verdeckt für kurze Zeit die unerbittliche Sonne da oben.

Ich hasse diese Sonne und ich hasse diese Insel! Niemals hätte ich gedacht, dass mir dieser Ort, der früher einmal Chris´ und mein Zufluchtsort war, so auf die Nerven gehen würde! Der weiße Sandstrand, die Kokosnusspalmen, die tropische Flora und Fauna und sogar das Meer haben für mich nichts paradiesisches mehr. Es ist einfach nur noch nervig! Mir klebt Sand an Stellen, an denen niemandem Sand kleben sollte! Ich bin übersäht von Mückenstichen und Bissen von Sandflöhen, mein Darm rebelliert von zu vielen Kokosnüssen und allein der Geruch von gebratenem Fisch verursacht mir mittlerweile Übelkeit, weil es seit gut drei Wochen nichts anderes mehr zu essen gab.

Ich sehne mich nach frisch gebackenem Brot mit Leberwurst, Schokoladenpudding, einem saftigen Cheeseburger und salzigen Pommes. Ganz besonders aber vermisse ich meinen heißgeliebten Vanille-Latte. Was würde ich doch alles für einen Schluck Kaffee geben?!

„Scarlett?“, ruft Evanna, eine der jüngeren Druidinnen, die sich seit einigen Tagen wie meine persönliche Assistentin aufführt. „Die nächste Gruppe wäre dann soweit.“

Seufzend blicke ich gen Himmel und schaue der Wolke dabei zu, wie sie sich vor die Sonne schiebt. „Ich komme sofort“, antworte ich, schließe die Augen und beobachte den grellen Punkt, der unter meinen Lidern zuckt. „Gib mir noch zwei Minuten.“

Ich versuche mich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren, doch es hat keinen beruhigenden Effekt mehr auf mich. Ich hasse diese Insel und wünsche mir nichts sehnlicher als endlich wieder nach Hause zurückzukehren.

Mir fehlt Chris so sehr. Ständig muss ich den Impuls unterdrücken, zu ihm zurückzukehren. Das einzige, was mich noch hier hält, ist die Tatsache, dass auf der anderen Seite des Wandschrankes noch nicht eine einzige Sekunde vergangen ist. Es ärgert mich so, dass wir im Streit auseinander gegangen sind. Wenn ich endlich fertig bin und mit den Druiden zurückkehren kann, wird Chris noch immer draußen irgendwo im Wald hocken und sauer sein. Und auch wenn ich genug Zeit hatte, um darüber nachzudenken, wieso er plötzlich so wütend wurde, kann ich es immer noch nicht wirklich verstehen. Er kann nicht wirklich gedacht haben, dass es leicht für mich ist, wochenlang von ihm getrennt zu sein! Wir sind immerhin Gefährten! Voneinander getrennt zu sein, kommt einer Folter gleich! Deshalb wollte ich ihm genau das ja auch ersparen und habe diese Insel im Wandschrank vorgeschlagen. Indem ich den Druiden hier meine Kräfte verleihe, waren wir sie in der realen Dimension auf einen Schlag los, und wenn wir demnächst zurückkehren, werden sie ihre Kokons in den Baumkronen rings um unser Haus abreißen und von dannen ziehen. Mir erschien das als einzig akzeptable Lösung, doch nach Chris´ Reaktion zu urteilen, war er anderer Meinung.

Am meisten regt mich auf, dass er uns nicht die Chance gegeben hat, das auszudiskutieren. Er hat sich verwandelt und ist einfach im Wald verschwunden. So hat er sich zuvor noch nie benommen! Ich frage mich wirklich, was in ihn gefahren ist. Hat sein Benehmen etwas mit seiner veränderten Wolfsgestalt zu tun? Ist er deswegen so impulsiv und leicht reizbar? Oder steckt etwa noch mehr dahinter?

Ein Räuspern hinter mir unterbricht meine Gedanken. „Scarlett?“

„Ja, Evanna, ich komme“, stöhne ich und trotte aus dem Wasser heraus.

Die Druidin lächelt mich freundlich an und legt die Handflächen aneinander. Ich habe ihnen allen schon hunderte Male gesagt, dass sie sich nicht immer vor mir verbeugen müssen, doch sie tun es trotzdem. So auch Evanna. Sie senkt den Kopf und präsentiert mir ihre wulstige Sternnarbe auf ihrem Skalp. Die langen geflochtenen Zöpfe ihres schwarzen Haares baumeln von ihrem unteren Nacken herab und ihre Kopfhaut glänzt wie eine polierte, fleischfarbene Bowlingkugel. Ich habe in den letzten Wochen beobachten können, wie die weiblichen Druiden ihren haarlosen Skalp erhalten und sich gegenseitig mit den Fingernägeln die Haare ausreißen, wie Affen, die einander entlausen. Im Nacken jedoch lassen sie die Haare langwachsen und flechten sie zu Zöpfen, in dessen Enden sie dieselben goldenen Perlen stecken, die die männlichen Druiden in ihren Bärten tragen. Ihre Kutten sind identisch mit denen der männlichen, und wenn sie ihre Kapuzen tragen, kann man kaum erkennen, wer von ihnen Mann oder Frau ist.

Evanna führt mich zu dem Zelt, das sie aus dem Baldachin unseres Strandbettes erbaut haben. Rauch steigt aus der Spitze empor, wie aus einem Schornstein, und der herbe Geruch verbrannter Kräuter kitzelt mir bereits von Weitem in der Nase. Neben dem Zelt steht eine Gruppe von Druiden, denen ich meine Kraft schon verliehen habe und sie so ebenfalls zu Druidenhexen gemacht habe. Sie beschwören die Elemente, lassen Steine oder Wassertropfen schweben und experimentieren mit ihrem magischen Schutzwall herum. Am Anfang musste ich noch eingreifen, denn ansonsten hätten die Druiden bereits die ganze Insel abgefackelt. Doch mittlerweile kommen sie besser klar. Die, die zuerst die Kraft erhalten haben, unterrichten die Nachzügler. Doch zur Sicherheit haben wir die Regel aufgestellt, dass sie erst das Element Feuer beschwören dürfen, wenn sie mit Wasser, Erde und Luft genügend Erfahrungen gesammelt haben.

Evanna zieht den Vorhang zum Zelt auf und ich trete ein. Vor lauter Rauch kann ich die Druiden, die im Kreis um die Feuerschale in der Mitte versammelt sind, nicht sehen, doch das schwarze Leuchten ihrer Skalpnarben verrät ihre Anwesenheit.

Ohne etwas zu sagen, setze ich mich auf das Kissen, das meinen angestammten Platz markiert und schließe die Augen. Jedes Mal, wenn ich dieses Ritual vollziehe, liegt eine aufgeregte Anspannung in der Luft, so als wäre sie elektrostatisch aufgeladen. Der schnelle Rhythmus ihrer klopfenden Herzen um mich herum klingt wie eine Ritualtrommel, die den Takt eines uralten Beschwörungsgesangs angibt. Ich lasse meinen Geist von dem stetig wilden Klopfen tragen und mache mich bereit.

Das Druidikum und die spezielle Kräutermischung in der Räucherschale öffnen die Tore zu den Seelen der Druiden in diesem Zelt. Wir fassen uns alle an den Händen und ich lasse meine Seele auf die Reise gehen. Jede Druidenseele berühre ich nur für eine Sekunde, und dabei versuche ich nicht zu viel von ihrem Wesen zu sehen, denn das erschöpft mich nur zu sehr. Es reicht, wenn meine Seele ihre Seele berührt. Ich muss mich vollends konzentrieren, darf keinen Druiden übersehen. Bei manchen sind die Seelen solch tiefdunkle Löcher, dass ich mich in ihnen leicht verirren könnte, doch das darf nicht passieren. Nichts und niemand darf dieses Ritual stören, keiner die Kette oder meine Konzentration unterbrechen, denn sonst war alles vergebens. Erst wenn ich reihum alle Seelen berührt habe, fährt meine eigene wieder in meinen Körper hinein und wir können uns loslassen.

Das ganze Ritual dauert vielleicht zehn Minuten, danach sind zehn weitere Druiden zu Druidenhexen geworden und ich kann mich ausruhen, während alles für das nächste Ritual vorbereitet wird.

Auch wenn es nur eine Sache von zehn Minuten war, brauche ich danach meist eine Stunde Schlaf. Ich schlafe hier mehr als das ich wach bin, und seit einigen Tagen ist es ausschließlich Evanna, die mich weckt, mir etwas zu Essen oder zu Trinken bringt und dafür sorgt, dass ich alles habe, was die Insel hergibt.

Sie hält das Zelt auf und reicht mir die Hand. Ich ergreife sie und lasse mich von ihr in die frische Luft zerren. Sie hält mir eine aufgeschlagene Kokosnuss hin und ich trinke gierig den Saft daraus, auch wenn ich von seiner abführenden Wirkung weiß, aber ich brauche die Vitamine und Mineralstoffe nach dem Ritual dringend.

Wie all die Male zuvor auch taumle ich danach zu dem Bett, das einstmals Chris´ und meine Liebeshöhle war, mich jetzt aber nur noch an Erschöpfung, komatösen Schlaf und seltsam prophetische Träume erinnert. Evanna hat um das Bett herum Palmwedel aufgestellt, die mich vor der Sonne abschirmen, und auf dem Bettlaken steht eine hölzerne Schüssel mit kleingeschnittenem Obst bereit.

Ich bedanke mich bei ihr, esse hastig das Obst und falle danach beinahe ohnmächtig in die Kissen.

So geht es noch viele Male, bis ich irgendwann den Überblick über die Tage verloren habe. Evanna zählt herunter, wie oft ich noch das Ritual vollziehen muss, doch zu Anfang deprimiert mich die Zahl nur, also lässt sie es wieder sein. Erst als ich mich den letzten fünf Ritualen nähere, zählt sie wieder für mich herunter und meine Stimmung hebt sich wieder. Ich nehme mir vor, die letzten Rituale bis spät in die Nach hinauszuziehen, sodass ich in wenigen Stunden endlich wieder nach Hause gehen kann. Die Aussicht auf meinen Gefährten, mein eigenes richtiges Bett und einen guten Vanille-Latte erfüllt mich mit Vorfreude.

Als es dann endlich soweit ist und ich alle Druiden zu Druidenhexen gemacht habe, lasse ich es mir nicht nehmen, als erste durch die Wandschranktür zu schreiten. Seit Wochen schaue ich gefühlt jede Stunde zu dieser verheißungsvollen Tür am Strand, und nun kann ich endlich hindurchtreten.

Mit zitternden Fingern greife ich nach dem Knauf und drehe ihn auf. Kühle, trockene Luft strömt mir entgegen und ich sauge den heimeligen Duft von Holz, Wald und gerösteten Kaffeebohnen tief in mich auf. Dann trete ich endlich wieder in die Freiheit hinaus.

Es dauert noch rund eine Stunde, bis all die Druiden ebenfalls die Insel durch den Wandschrank hindurch verlassen haben. Als sich die Lichtung mit ihnen füllt, bin ich froh, dass Roberta und ich den Zauber um den Wald gelegt haben und somit kein Mensch ihn betreten kann. Vor lauter Druiden kann man den ganzen Wald nicht mehr sehen!

Ich ziehe mich in die Küche zurück und stelle die Kaffeemaschine an. Sie ist noch warm von meiner letzten Benutzung, obwohl die nach meiner Zeitrechnung über vier Wochen her ist! Zwischen meinen Zehen klebt noch Sand, genau wie in meinen Haaren, unter den Fingernägeln und sogar in meinem Mund! Ich kann es kaum erwarten, mich unter die Dusche zu stellen, doch zuerst muss ich etwas essen, das nicht auf Bäumen gewachsen ist!

Im Kühlschrank werde ich nicht fündig, da wir alles aus ihm für unsere letzte Tour herausgenommen hatten. Doch im Wohnzimmerschrank entdecke ich zum Glück noch eine Schachtel Pralinen und eine Tüte Mini-Bretzel, die ich mir unter den Arm klemme und schon auf dem Weg zurück in die Küche eine große Handvoll in meinen Mund schiebe.

Als mein Vanille-Latte endlich fertig ist, nehme ich den ersten Schluck und verbrenne mir dabei die Zunge, doch das ist mir egal. Mein Körper braucht das Koffein, ansonsten schlafe ich hier gleich im Stehen ein!

Ich esse und trinke, bis mir schon fast übel wird, wobei ich von einem Fenster zum nächsten tapere und Ausschau nach Chris halte. Mein Brustbein kribbelt, was mir verrät, dass er ganz in der Nähe sein muss. Aber da die Druiden den ganzen Wald für sich eingenommen haben, kann ich ihn nirgends entdecken. Er muss mitbekommen haben, dass wir wieder zurück sind. Zumal in der realen Welt keine Zeit vergangen ist. Irgendwo dort draußen ist er, noch immer aufgebracht, weil ich mit den Druiden wochenlang allein auf der Insel war. Doch nun ist es bereits geschehen und es bringt nichts, noch länger wütend deswegen auf mich zu sein. Ich habe meine Arbeit getan und bin zurück. Er musste dabei nicht eine Sekunde auf mich verzichten.

Nachdem ich genug gegessen und getrunken habe, schleppe ich mich die Treppen hinauf, nehme eine lauwarme Dusche und falle danach, ohne mich anzuziehen oder abzutrocknen, in unser gemütliches Bett. Der Geruch von Chris haftet noch an den Laken und es fühlt sich beinahe so gut an als wäre er wirklich bei mir.

Als ich wieder aufwache, weiß ich zuerst nicht, wo ich bin. Schon wieder hatte ich einen dieser seltsamen Träume, die mich bereits auf der Insel heimsuchten. Es sind besondere Träume, in denen ich selbst gar nicht vorkomme. Der von dieser Nacht war besonders intensiv: Ich träumte von einer mächtigen Hexe, die jemand anderen in Stücke riss und dessen Körperteile auf allen Kontinenten verteilte!

Der Schreck sitzt mir noch in den Gliedern, als ich die Augen öffne. Es ist stockdunkel und bis sich meine Augen daran gewöhnt haben, denke ich, ich sei noch auf der Insel. Erst als ich die Tannenwipfel aus der Fensterfront heraus sich gegen den dunkelblauen Nachthimmel abzeichnen sehe, erkenne ich, dass ich zum Glück wieder zuhause bin.

Ich taste neben mich, wo ich einen warmen, nackten Oberkörper erfühle. „Chris“, flüstere ich erleichtert und im selben Moment knippst er das Licht an.

„Hey“, raunt er und hebt seinen Arm an.

Sofort folge ich der Einladung und schmiege mich an seine Seite. Die Erleichterung, ihn endlich wieder in die Arme zu schließen, lässt mich verstummen und löscht all die furchtbaren Traumbilder aus meinen Gedanken. Ich will ihm nicht sagen, wie lange ich weg war, wie lange ich ohne ihn auf dieser dämlichen Insel ausharren musste, umgeben von nichts als Sandflöhen, Druiden und Kokosnüssen! Ich will einfach nur bei ihm sein, seine Nähe spüren, seinen Duft einatmen und seine Haut an meiner spüren.

„Du hast mir gefehlt“, sagt er plötzlich und sein warmer Atem rinnt wie Wasser über meine Kopfhaut.

„Ich war in der realen Dimension doch gar nicht lange weg“, antworte ich schläfrig und drücke einen zarten Kuss auf seinen Brustmuskel.

Er holt tief Luft und sein Brustkorb dehnt sich, dann bläst er sie mit einem Seufzer wieder hinaus. „Ich spreche auch nicht von der Zeit auf der Insel im Wandschrank. Seit Wochen hetzen wir von einem Fall zum nächsten und haben dabei kaum Zeit für uns selbst.“

Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue an ihm hoch. „Ich weiß“, gebe ich zu, hebe meinen Arm und streiche über sein stoppeliges Kinn.

„Die Ghula, die Libelle, Ebraxas Zaballa“, er unterbricht seine Aufzählung für ein intuitives Knurren, bevor er weiterspricht. „Falk und Dahlia, deine Mutter und Elvira, dann diese Sirenen, und zu guter Letzt die ganzen Druiden!“

Ich richte mich ein wenig auf und stütze mich auf den Ellenbogen ab, um ihn besser ansehen zu können. „Ich weiß, aber das ist ja nun alles erledigt. Die Druiden werden nach und nach abreisen und dann haben wir wieder mehr Zeit für uns.“

Eine einzelne Augenbraue schnellt nach oben und er schaut mich mit Unglauben an. „Das glaubst du doch selbst nicht! Ich wette mit dir, noch bevor die Druiden restlos abgereist sind, geschieht etwas Unerwartetes. Die nächste Katastrophe steht doch schon in den Startlöchern!“

Zuerst will ich ihn instinktiv beruhigen und vom Gegenteil überzeugen, doch dann wird mir bewusst, dass unsere nächste Katastrophe schon längst Einzug gehalten hat: Seine veränderte Wolfsgestalt. Das abzuklären hat nun oberste Priorität, jeder neue Fall wird warten müssen!

„Das mag alles sein, aber du hast jetzt Vorrang“, sage ich und sehe ihm fest in die Augen. „Wir werden das mit deiner Verwandlung klären, auch wenn wir dafür nach Italien reisen müssen!“

Seine Augen werden schmal und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich wieder diese Zornesfalte. „Ach ja?“

„Ja! Ich lasse nicht zu, dass das Erbe der Belger-Mannwölfe zunichte gemacht wird, nur weil ich den Inviolabilem-Zauber gesprochen habe! Sie dürfen dich nicht für meine Taten bestrafen!“

Er stemmt sich ruckartig hoch und ein Knurren aus seiner Kehle lässt das ganze Bett vibrieren. „Und was wäre, wenn es nicht rückgängig gemacht werden kann? Was, wenn ich mit jeder Verwandlung mehr zum Werwolf mutiere? Was dann?“, faucht er mir entgegen und seine Reißzähne beginnen bereits zu Sprießen.

„Chris, was ist denn los mit dir?“, frage ich und strecke eine zittrige Hand nach ihm aus, doch er springt mit einem Satz aus dem Bett.

„Was mit mir los ist?“, brüllt er und tippt sich gegen die Brust. „Ich frage mich eher, was mit dir los ist! Wir sind Gefährten, verdammt nochmal! Du solltest mich lieben, egal was ich bin!“

Ich streife das Laken von mir und steige ebenfalls aus dem Bett. Einen Moment lang scheint meine Nacktheit ihn abzulenken, doch die brodelnde Wut in seinem Inneren gewinnt schnell wieder die Überhand.

„Ich liebe dich, Chris, egal was du bist!“

„Ach ja? Und deswegen nimmst du gleich für Wochen Reißaus, sobald der Werwolf in mir zum Vorschein kommt?“

Meine Kinnlade fällt herunter und ein unglaublicher Schmerz in meinem Brustbein raubt mir den Atem. „Chris…“, hauche ich und schüttle mit dem Kopf. „Ich habe nur meine Pflicht erfüllt, ich hatte doch keine andere Wahl.“

Er schüttelt mit dem Kopf. „Man hat immer eine Wahl, Scarlett“, sagt er und funkelt mich böse an. „Du hast dich von einem Hexenblut zur Druidenhexe und nun zum Paradoxon und der Mitternacht gewandelt, und ich bin nie vor dir geflüchtet! Hast du darüber schon mal nachgedacht?“

Fassungslos stehe ich einfach nur da, während Tränen der Verzweiflung in meinen Augen aufsteigen und mir so langsam den Blick verschleiern.

Er hebt die Hände, wendet den Kopf ab und geht ein paar Schritte rückwärts „Vielleicht hatte Bianca wirklich Recht: Eine Hexe kann niemals dieselbe Gefährtenverbindung verspüren wie ein Wolf.“

Seine Worte reißen mein Herz entzwei. „Chris, wie kannst du sowas sagen?“, hauche ich gebrochen, sacke auf meine Knie und schnappe aufgrund des Schmerzes in meinem Brustbein nach Luft.

Er setzt zur Verwandlung an und begibt sich auf alle Viere, drückt den Rücken durch und gibt ein schmerzerfülltes Jaulen von sich. Im nächsten Moment steht ein riesiger Wolf vor mir, mit langer Schnauze, leuchtend gelben Augen, spitzen Ohren und dunkelbraunem Fell. Er zieht die Lefzen hoch und entblößt seine zentimeterlangen Reißzähne.

„Chris… Es tut mir so leid“, sage ich unter Tränen und strecke die Hand nach seinem Fell aus.

Blitzschnell schnappt er drohend nach mir, verfehlt mich aber absichtlich. Ich weiß, dass er mir in dieser Gestalt innerhalb eines Augenaufschlages den Kopf von den Schultern reißen könnte, wenn er wollte. Und trotzdem verspüre ich keine Angst vor ihm, alles was ich will, ist ihn zu beruhigen.

Doch er lässt es nicht zu. Bevor ich etwas sagen oder ihn berühren kann, rennt er auf den Flur hinaus, die Treppen hinab und raus in den Wald.

Equinox

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