Читать книгу Falsches Spiel in Brodersby - Stefanie Ross - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеAm nächsten Morgen war Jan mit seinen Überlegungen, wie das Boot, der Phosphor und der Tote zusammenhängen konnten, kein Stück weiter. Mit einem gefüllten Kaffeebecher in der Hand sah er auf die Ostsee hinaus, die in der Dämmerung durch den Nieselregen grau und wenig einladend wirkte.
Lena schlief noch, sodass er in Ruhe nachdenken konnte. Leider fiel ihm nichts Vernünftiges ein. Es stand nicht einmal fest, dass der junge Russe ein Taucher gewesen war. Seine Vermutung, dass Sammler an alten Kampfmitteln interessiert sein konnten, hatte sich zerschlagen. Im Internet war er nirgends auf einen passenden Markt gestoßen. Für Waffen, Orden, Feldtagebücher und solche Dinge gab es eine große Nachfrage, aber er hatte keine Interessenten für Granaten oder Bomben gefunden. Per WhatsApp hatte er ihren Freund Markus König gefragt, ob ihm vielleicht ein passender Handel im Darknet bekannt war. Da dieser im Wirtschaftsdezernat des LKA bereits in den unterschiedlichsten Fällen ermittelt hatte, war ihm die Frage sinnvoll erschienen. Jan hatte jedoch einen lachenden Smiley als Antwort erhalten, der von der süffisanten Feststellung begleitet wurde, dass kein normaler Mensch mit funktionierendem Verstand dem instabilen Mist zu nahe kommen würde. Damit war die Theorie hinfällig, ehe Jan sie überhaupt zu Ende gedacht hatte.
Gerda hatte ihn überredet, die Praxis im Winter erst ab halb zehn zu öffnen, sodass er noch Zeit hatte, ehe er losmusste. Jan stellte den Becher auf dem Wohnzimmertisch ab. Vielleicht kam ihm bei einer kleinen Joggingrunde die zündende Idee. Normalerweise lief er direkt am Haus los, heute entschied er sich, mit dem Wagen zur Steilküste zu fahren.
Tarzan hob kurz den Kopf und ließ ihn dann so schnell wieder fallen, dass sich Jan Sorgen gemacht hätte, hätte er den Hund nicht so gut gekannt. Obwohl er manchmal überraschend beweglich war, zog Tarzan ein faules Hundeleben vor und ein Spaziergang bei dem nassen Wetter um diese Uhrzeit gehörte nicht zu seinen Vorlieben.
Als Jan seinen Audi auf der Sandfläche stoppte, hätte es eigentlich schon heller sein sollen, doch die Nacht hatte sich ohne Übergang in ein dunkles Grau verwandelt. Großartig. Jan hasste dieses Wetter. Nicht nur seine eigene Stimmung litt unter dem fehlenden Sonnenlicht, sondern es kamen auch überdurchschnittlich viele Patienten mit einer ausgewachsenen oder beginnenden Depression in seine Praxis.
Er musste sich regelrecht überwinden, den warmen Wagen zu verlassen. Was hätte dagegen gesprochen, es sich mit einem weiteren Kaffee und seinem Smartphone im Wohnzimmer gemütlich zu machen? Nun war es zu spät. Nachdem er die kläglichen Reste seines Pflichtbewusstseins zusammengekratzt hatte, stieg er aus. Der Nieselregen, der ihm sofort ins Gesicht wehte, vertrieb seine Müdigkeit. Am besten, er brachte schnell ein paar Kilometer hinter sich und fuhr dann zurück.
Da er ungern im tiefen Sand lief, joggte er direkt an der Wasserlinie entlang, wo der Boden deutlich härter war, behielt dabei allerdings die Wellen im Auge. Auf nasse Schuhe konnte er bei den Temperaturen verzichten.
Entgegen seiner Erwartung änderte sich seine Laune bereits nach wenigen Metern. Direkt an der Ostsee war es etwas heller. Möwen flogen kreischend über die Wasseroberfläche und stießen ab und zu auf der Jagd nach einem Fisch herab. Er kam an einem Baumstamm vorbei, der ihn sofort an die Zeit erinnerte, als Jörg unter Mordverdacht gestanden hatte. Der Fall war wesentlich komplizierter gewesen und sie hatten ihn aufgeklärt. Warum sollte es ihnen jetzt nicht wieder gelingen?
Im zurücklaufenden Wasser vor ihm glitzerte etwas. Jan blieb stehen und wartete einen günstigen Moment ab. Knapp vor der nächsten Welle schnellte er vor und erwischte den Stein, der nicht größer war als ein Zwei-Cent-Stück. Misstrauisch drehte er ihn in der Hand. Normalerweise hätte er sich über den Bernstein gefreut und vor allem auf Lenas Begeisterung, wenn er ihr den kleinen Stein schenken würde. Nach der gestrigen Erfahrung überprüfte er sorgfältig, dass es sich tatsächlich um ein Mineral und nicht um giftigen Phosphor handelte. Da ihm weder die Farbe noch die Konsistenz völlige Sicherheit gaben, rieb er den inzwischen trockenen Stein an seiner Jacke und atmete auf, als ein Haar daran kleben blieb. Im Gegensatz zum gefährlichen Phosphor ließ sich Bernstein elektrisch aufladen. Zu spät fragte er sich, ob die Reibung auch genug Wärme für eine Selbstentzündung erzeugt hätte. Jans Puls beschleunigte sich nachträglich. Er verstaute den Fund in der Tasche seines Windbreakers und setzte seinen Weg fort.
Der glänzende Stein erinnerte ihn an Schaima, eine etwas sonderliche Heilerin, die in der Nähe von Brodersby wohnte und praktizierte. Sie liebte Steine aller Art und würde vermutlich von einem Zeichen sprechen. Dagegen hatte er nichts. Im Gegenteil. Jan beschloss, den Fund als Glücksbringer bei der Klärung der Hintergründe des angeschwemmten Phosphors zu betrachten.
Obwohl er nach weiteren Bernsteinen – oder Phosphorbrocken – Ausschau hielt, wurde er nicht fündig. Dennoch war er in deutlich besserer Stimmung, als er schließlich umkehrte. Allmählich klarte das Wetter auf. Die dunklen Wolkenberge nahmen Konturen an und er konnte bereits hellere Bereiche entdecken. Als der Parkplatz in Sicht war, beschleunigte er das Tempo.
Den einsamen Spaziergänger in Höhe des Baumstamms beachtete er nicht weiter. Erst als er näher kam, stutzte er. Die Gestalt des Mannes hatte etwas Vertrautes, aber das war nicht möglich. Wenige Meter später korrigierte er sich. Es war möglich! Seine Laune erreichte schlagartig einen neuen Tiefpunkt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Mann hatte ihn offensichtlich ebenfalls erkannt, denn sonst würde er kaum so wirken, als würde er am liebsten fliehen. Nach so vielen Jahren trafen sie sich ausgerechnet hier an der Steilküste?
Jan blieb einige Meter vor seinem Vater stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Mit einem zufälligen Treffen hätte er niemals gerechnet. Eigentlich hatte er seit Ewigkeiten überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass sie sich jemals wieder über den Weg laufen würden.
»Das ist eine Überraschung«, meinte Jan schließlich, als das Schweigen kein Ende nahm.
»Ist der Ort nicht ziemlich weit von Eckernförde entfernt?«, erkundigte sich sein Vater und verzichtete ebenfalls auf eine Begrüßung.
»Wieso Eckernförde?«, hakte Jan ratlos nach.
»Trainiert da nicht das KSK?«
Sein Vater wusste nicht, dass er die Bundeswehr verlassen hatte, aber dafür, dass er eine Zeit lang bei der Spezialeinheit im Einsatz gewesen war. Wie passte das zusammen? Ihr Kontakt war abgebrochen, nachdem er das Medizinstudium an der Bundeswehruni begonnen hatte, und außer Liz wusste niemand, dass er zum Kommando Spezialkräfte gehört hatte.
»Ich habe in Brodersby eine Arztpraxis«, erwiderte Jan und schenkte sich jede weitere Erklärung.
Einen Moment schien sein Vater fassungslos zu sein, dann schüttelte er den Kopf. »Merkwürdiger Zufall«, murmelte er leise.
»Finde ich auch. Machst du Urlaub in Schwansen?«
»Nein, ich bin geschäftlich hier. Und ich frage mich gerade, ob … Na egal. War nett, dich getroffen zu haben.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich sein Vater ab und steuerte auf den Parkplatz zu.
Jan sah ihm erst nach, dann aufs Meer hinaus. Normalerweise wäre er zum Parkplatz gegangen, aber nun wartete er lieber, bis sein Vater weggefahren war.
So wenige belanglose Worte, nachdem man sich über fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte? Wenn er jemals ein solches Nichtverhältnis zu seinem Kind haben sollte, dann würde er … Keine Ahnung … Nicht einmal in Gedanken brachte er den Satz zu Ende.
Während zwei Möwen im Tiefflug über die Ostsee jagten, schwor er sich, seinem Kind jede Freiheit bei der Berufswahl zu lassen, die überhaupt möglich war. Wenn sein Sohn Balletttänzer werden wollte, würde er ihn genauso unterstützen wie seine Tochter beim Auswahlverfahren der NASA. Hauptsache, sein Kind war glücklich. Alles andere interessierte ihn nicht. Er würde ihr Verhältnis nicht mit Ansprüchen oder Forderungen in Bezug auf die Berufswahl vergiften.
Kaum wurde ihm bewusst, was er sich gerade vornahm, da fiel ein Teil der Angst vor seiner zukünftigen Rolle von ihm ab. Er würde niemals die Fehler wiederholen, die sein Vater gemacht hatte. Das war sicher. Vermutlich würde er vieles falsch machen, aber nicht so viel wie der Mann, der heute wie ein Fremder für ihn war.
Rein äußerlich hatte sich Walter Storm nicht verändert. Das graue Haar, die blauen Augen, die deutlich heller als Jans waren, die relativ schlanke Gestalt, wie Jan es in Erinnerung hatte. Sein Vater schien weiter auf sein Gewicht zu achten, dennoch hatte er um die Taille etwas zugelegt. Auch die Falten um die Augen herum waren deutlich tiefer geworden. Jan schnaubte, als er bemerkte, dass er die Begegnung auf eine Beurteilung des Äußeren reduzierte.
Nach einem Blick auf seine Uhr kalkulierte er die Zeit, die er zum Duschen und für einen Kaffee mit Lena brauchte. Das müsste noch machbar sein.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich in der Wohnung über seiner Praxis umzuziehen und dort zu duschen, aber er wollte seine Frau sehen. Jetzt! Obwohl er es nicht gerne zugab, erschütterte ihn das unpersönliche Treffen. Anscheinend hörte man nie auf, Kind zu sein und sich nach der Liebe und Anerkennung seiner Eltern zu sehnen. Da er es die letzten Jahre mühelos ohne seinen Vater ausgehalten hatte, würde es kein Problem sein, so weiterzumachen.
Sichtlich erstaunt kam Lena ihm im Flur entgegen. »Hey, ich freue mich ja, dich zu treffen, aber wolltest du nicht schon in der Praxis sein?«
Jan brummte eine Zustimmung und zog sie in seine Arme. »Wollte ich.«
Sie schob ihn etwas von sich weg und musterte ihn misstrauisch. »Was ist passiert?«
Er verzog den Mund zu einem vermutlich reichlich missglückten Lächeln. »Wie kommst du darauf, dass etwas passiert sein könnte?«
»Vielleicht weil ich dich kenne? Weil es dir auf die Stirn geschrieben steht – allerdings nur für deine einzigartige, dich über alles liebende Ehefrau lesbar! Geh duschen, ich mache dir ein schnelles Frühstück und einen Kaffee und sage Gerda, dass du einen Tick später da sein wirst.«
Genau das hatte er gebraucht. Ihm fiel das Lächeln schon leichter, als er sie küsste und ins Badezimmer eilte.
Bei einem Kaffee und Rührei, das Lena blitzschnell gebraten hatte, erzählte er ihr von der unerwarteten Begegnung.
Lena vergaß ihre Portion und starrte ihn an. »Das ist ja der Hammer. Sag mal, von eurem merkwürdigen Verhältnis, das ganz bestimmt nicht du zu verantworten hast, mal abgesehen: Was macht dein Vater ausgerechnet an der Steilküste? Ein touristisches Highlight ist das ja nicht gerade.«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, die Frage ist berechtigt. Meinetwegen ist er jedenfalls nicht hier. Er wusste nicht einmal, dass ich in der Nähe wohne.«
Lenas Augenbraue wanderte in Zeitlupe nach oben. »Entschuldige, dass ich das so direkt sage, aber besser keinen Opa als einen solchen Döschkopp! Da ist unser Sohn mit Jo und Helga als Ersatzgroßeltern viel besser dran.«
Jan schob sich den Rest Rührei in den Mund. »Erstens können wir immer noch eine Tochter bekommen und zweitens solltest du dich warm anziehen, wenn du Jo und Helga als ›Oma‹ und ›Opa‹ bezeichnest.«
Lena lachte und schob ihr restliches Rührei auf seinen Teller. »Nimm du, ich bin satt. Das ist so herrlich mit den beiden. Da haben sie so lange vergeblich darauf gewartet, dass sie Enkel kriegen, adoptieren in gewisser Weise vor der Geburt unser Kind, gucken aber wie eine Kuh, wenn’s donnert, wenn sie das Wort Oma oder Opa hören. Herrlich! Dabei haben sie mit über siebzig das richtige Alter dafür.«
»Kennst du die Geschichte, als sich Jo ein Bahnticket kaufen wollte und ihm gesagt wurde, dass es Sparmöglichkeiten für Senioren gibt?«
Prustend nickte Lena. »Er und Helga sind dann mit dem Wagen nach Hannover gefahren – so wie er es von Anfang an wollte.«
Jan grinste breit. »Ganz genau. Und zum Glück hat sich Helga nie gefragt, warum er die Tickets nicht einfach online gekauft hat. Ich wette, er hat geahnt, dass so etwas passieren würde.« Lena sah ihn spöttisch an und ihm dämmerte die Wahrheit. »Du meinst, sie weiß genau, was er da abgezogen hat?«
»Na logisch. Jeder kennt doch die Angebote der Bahn für die Generation sechzig plus, aber weil sie ihn liebt, hat sie ihm die Albernheit durchgehen lassen. Und nun sieh zu, dass du in die Praxis fährst. Du bist verdammt spät dran und Gerda klang, als ob sie was auf dem Herzen hätte.«
»Nicht auch das noch.« Jan stöhnte.
Er stand auf, um den Tisch abzuräumen, und musterte dann Lena besorgt. Wenn er sich nicht sehr irrte, war sie gerade vor Schmerzen zusammengezuckt. »Alles in Ordnung?«
Sie atmete einmal tief durch. »Ja sicher. Es wäre nur nett, wenn dein Sohn das Karatetraining auf die Zeit außerhalb des Bauchs verschieben könnte. Der hat vielleicht ein paar Tritte drauf. Komm her und teste selbst.«
Dafür ließ Jan das benutzte Geschirr sofort stehen. Sanft legte er eine Hand auf Lenas Bauch und bekam tatsächlich sofort einen ordentlichen Tritt ab. Egal, wie oft er die Bewegungen ihres Kindes schon gespürt hatte, an dieses Wunder würde er sich nie gewöhnen. Das war wichtiger als sein Vater und sämtliche Phosphorfunde!
»Also ich meine, dass unsere Tochter gerade Ballett übt«, zog er Lena auf, die ihn prompt anfunkelte.
»Schaima hat mir gesagt, dass man keinen Ultraschall braucht, wenn man auf seine innere Stimme hört. Unser Winzling ist ein Sohn. Punkt!«
»Und wenn’s eine Tochter ist, schickst du sie zurück?«, hakte er nach.
Schmunzelnd nickte Lena. »Aber so was von!«
Sie lachten und küssten sich zärtlich. Nun war Jan so weit, rasch aufzuräumen und in die Praxis zu fahren.
Jan konnte gerade noch seine Jacke aufhängen, da stürmte Gerda wie eine Rachegöttin aus der kleinen Pantry auf ihn zu.
»Ausgerechnet heute kommst du in letzter Sekunde! Wir müssen reden. Da stimmt was nicht.«
Ehe er auch nur eine Frage formuliert hatte, war sie schon wieder weg. Großartig. Er fuhr den PC hoch und warf einen Blick auf die heutigen Termine. Sofern es keinen Notfall gab, wartete nichts Dramatisches auf ihn.
Mit einem aufgebrachten Schnauben stellte Gerda ihm im Vorbeigehen einen gefüllten Kaffeebecher auf den Schreibtisch und verzog sich grummelnd an ihren Tresen.
Nachdem Jan ein Kleinkind geimpft und einen erkälteten Patienten versorgt hatte, kam Gerda in sein Sprechzimmer. »Da du so schnell warst, haben wir ein paar Minuten.«
»Und die nutzt du, um mir zu verraten, was du vorhin gemeint hast?«
»Natürlich! Ich war heute Morgen ganz früh bei Erna, um Brötchen zu holen, damit … Ist ja auch egal. Jedenfalls war ich bei Erna.«
»Vermutlich wolltest du jemandem das Frühstück machen oder was für die Pausen mit zur Schule geben«, unterbrach Jan sie.
Bei der Anspielung auf Conrad Heckmann, mit dem Gerda seit einiger Zeit liiert war, röteten sich die Wangen seiner Arzthelferin. »Das geht dich gar nichts an, Chef! Mich interessiert vielmehr, ob du mit jemandem Ärger hattest?«
Jan überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Nö. Da fällt mir keiner ein. Warum fragst du?«
»Weil sich erst jemand nach dir erkundigt und dann so’n paar ganz schön böse Bemerkungen fallen gelassen hat. Noch nichts wirklich Schlimmes, aber ich sage bei solchen Dingen immer ›Wehret den Anfängen‹! Conrad meint, dass man jedes Anzeichen von Mobbing sofort im Keim ersticken muss, ehe es ausufert.«
»Du meinst, dass mich jemand mobben will?«, hakte Jan nach.
»Mensch, Jan! Es geht hier nicht ums Mobben, das war nur ein Vergleich, du Dösbaddel. Irgendjemand hat erst rumgefragt und wollte alles Mögliche über dich wissen und schwupps gibt’s da jetzt unschöne Gerüchte. Von wegen, du hast den Wagen und das Haus viel zu billig bekommen und die Verkäufer übern Tisch gezogen.«
Jan zuckte zusammen und erntete einen genervten Blick von Gerda.
»Ich wusste, dass du dir diesen Schuh sofort anziehst. So ein Blödsinn! Niemand hätte der alten Müllerin das Haus in der Lage abgekauft und stehen gelassen. Ihr seid bereit gewesen, das Haus im Urzustand zu erhalten und nur vorsichtig zu sanieren. Ihr ladet sie regelmäßig zum Kaffee ein und holt sie dafür sogar ab. Und so wenig habt ihr ja nun auch nicht bezahlt, wenn man mal bedenkt, was ihr da alles neu machen musstet und immer noch vorhabt. Und Richie ist an deinem Wagen ja auch nicht pleitegegangen, sondern du hast den Preis sogar ordentlich nach oben getrieben. Also denk nicht mal so einen Mist! Jeder, der dich oder Richie oder die Müllerin kennt, weiß das. Aber so’n paar Neidhammel springen natürlich auf den Zug auf und das gefällt mir gar nicht.«
Himmel, hatte sich Gerda in Rage geredet. Leider hatte sie ihn damit ein wenig angesteckt. So groß war das Einzugsgebiet seiner Praxis nicht und wenn plötzlich die Patienten wegblieben, hatte er zwar nicht sofort ein Problem, aber irgendwann schon. Er ermahnte sich, es nicht zu übertreiben. So weit war es schließlich noch lange nicht. Trotzdem war er alarmiert, denn der Dorfklatsch hatte es in sich. Er hatte das große Glück gehabt, dass die Gemeinschaft ihn fast sofort aufgenommen hatte, dennoch konnte sich das Blatt schnell zu seinen Ungunsten wenden.
»Zurück zu deiner Ausgangsfrage: Ich hatte mit niemandem Streit. Mir fällt nicht einmal eine Meinungsverschiedenheit ein. Vielleicht steckt da nur ein bisschen Neid hinter und das vergeht wieder.«
»Das mag ja sein, aber meinst du nicht, dass da ein Zusammenhang besteht?«
»Du denkst an denjenigen, der Fragen über mich gestellt hat?«
»Na sicher.«
»Dann kann es ja niemand aus Brodersby oder Umgebung sein, denn diejenigen wissen alles, was es zu wissen gibt.«
»Guter Punkt, Jan«, lobte sie ihn. »Da müssen Erna und ich noch mal genau drüber nachdenken. Und vielleicht Conrad einschalten. Wir kommen dem Gerüchteklopper schon auf die Spur. Verlass dich drauf.«
Nicht zum ersten Mal, seitdem er in Brodersby seine Praxis eröffnet hatte, musste er an Miss Marple denken. Vermutlich wäre Gerda bei dem Vergleich tödlich beleidigt. Da sie manchmal den Eindruck erweckte, Gedanken lesen zu können, dachte Jan lieber nicht weiter über Parallelen zwischen seiner patenten Helferin und der Hobbydetektivin aus den Agatha-Christie-Krimis nach.
Misstrauisch musterte Gerda ihn. »Möchte ich wissen, was du gerade denkst?«
»Definitiv nicht«, gab Jan zurück. »Schick bitte den nächsten Patienten rein«, bat er sie, um jede weitere Diskussion abzuwürgen.
Erst als der Mann in den Fünfzigern ihm detailliert von seinen Schmerzen im Oberschenkel erzählte, gelang es Jan, die Befürchtungen von Gerda zu verdrängen. Dennoch behielt er die Frage im Hinterkopf, ob die Gerüchte und der Phosphor irgendwie zusammenhängen konnten. Und vielleicht sogar das unerwartete Auftauchen seines Vaters. Doch egal, wie er es drehte, er fand keine Verbindung.