Читать книгу Fatale Bilanz - Stefanie Ross - Страница 10
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ОглавлениеDirk Richter starrte aus dem Fenster, ohne die Aussicht aus dem sechsten Stock des Bürogebäudes wirklich wahrzunehmen. Außer der Glasfassade des gegenüberliegenden Hochhauses in der City Süd und dem wolkenlosen Himmel gab es nichts, das einen zweiten Blick wert gewesen wäre und ihn von dem Telefonat mit seiner Frau abgelenkt hätte. Alex’ wütende Stimme wurde stetig lauter und damit die Versuchung übermächtig, die Verbindung einfach zu trennen. Da er sich das Büro mit zwei Kollegen teilte, die mittlerweile mehr oder weniger unverhohlen ihr Gespräch verfolgten, war er gezwungen, unverbindliche Worte gegenüber Alex zu finden. Leider besaß seine Frau jahrelange Erfahrung, ihn zur Weißglut zu bringen. Aber letztlich musste auch sie Luft holen, und er bekam die Chance zu einem Einwand.
»Hör zu, Alex. Natürlich kann ich hier früher weg, aber wenn sich herausstellt, dass du dir das alles nur einbildest, werde ich …«
Er bekam keine Gelegenheit, seine Drohung zu vollenden. Großartig. Auch seine Geduld hatte eine Grenze, und die war erreicht. »Es ist genug, Alex. Ich habe nicht gesagt, dass du dir den Besuch des Polizisten eingebildet hast. Aber nach deiner gestrigen Aktion ist wohl eine gewisse Skepsis erlaubt. Und wenn du das nächste Mal auf das Haus deines Chefs schießt, nimm ein richtiges Gewehr, dann lohnt sich der ganze Ärger wenigstens.«
Und wenn sie sich dabei wieder vom LKA erwischen ließ, hätte er ein paar Jahre Ruhe. Obwohl er den Gedanken nicht aussprach, meldete sich sein schlechtes Gewissen, zumal Alex ungewöhnlich lange schwieg. »Hör zu, Schatz. Ich mache so schnell wie möglich Schluss und dann reden wir in Ruhe über alles.«
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern trennte die Verbindung. Keiner seiner beiden Kollegen gab noch vor, zu arbeiten. Verlegen, dass er am Ende doch noch die Fassung verloren hatte, lockerte Dirk seine Krawatte. Auf dem Display seines Notebooks wartete eine Zahlenkolonne, aber er hatte vergessen, was er überprüfen wollte.
Mark Rawlins, amerikanischer Wirtschaftsprüfer beim US-Schatzamt, der zusammen mit Dirk die Buchführung der Reederei auseinandernahm, wandte sich seinem eigenen Notebook zu. Bisher hatte der Amerikaner eher kühl, aber durchaus freundlich gewirkt. Jetzt hatte er für einige Augenblicke überrascht, beinahe entsetzt ausgesehen, ehe die beherrschte Miene wieder saß. Dirk ließ sich seinen Ausbruch durch den Kopf gehen. Da Mark fließend deutsch sprach, hatte er jedes Wort verstanden. Gewehr – Schüsse – Polizei. Er konnte froh sein, dass Mark keine Fragen stellte.
Leider galt diese Zurückhaltung nicht für Holger Schröder, den er für Hilfstätigkeiten verpflichtet hatte. Sie kannten sich zwar seit Jahren, waren aber lediglich gute Bekannte.
»Wer hat auf wen geschossen?«
»Nichts. Das ist nur eine Spinnerei von Alex.«
»Es stand aber was in der Zeitung. Dieser Typ bei der Fischküche. Ist das nicht der Ex-Chef von Alex?«
»Ja. Aber sie hat für die Tatzeit ein Alibi.« Der Versuch eines Scherzes misslang.
Die Vorstellung, dass sich Holger eine eigene Story zusammenfantasierte, gefiel ihm nicht, so dass er sich widerwillig zu einer Erklärung entschloss.
»Alex hat am Tag nach den Schüssen so getan, als ob sie auf das Haus ihres Chefs schießen würde, und ist dabei vom LKA beobachtet worden. Einer von denen war heute Nachmittag bei ihr, um mit ihr über ihren Ex-Chef zu reden. Dabei gab’s aber irgendeinen Zwischenfall. So eine Art Überfall, aber nicht auf sie, sondern auf ihre Freundin. Das war’s. Sie war aufgeregt und ich habe nur die Hälfte verstanden.«
»Es ist doch verständlich, dass sie dann aufgeregt ist.«
»Ach was, das ist doch völlig übertrieben. Kannst du mir bitte mal erklären, wieso jemand ihre Freundin überfallen sollte, weil Alex so tut, als ob sie aufs Haus ihres Ex-Chefs schießt? Vermutlich ist Britta nur angerempelt oder blöd angequatscht worden.«
Holger lehnte sich zurück und legte die Stirn in Falten. »Ein bisschen mehr Verständnis würde ihr guttun.«
Die Belehrung hätte sich Holger sparen können. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit kehrte er heraus, dass er bereits dreifacher Vater war. Als jetzt auch noch Mark sein Notebook zur Seite schob und grinste, musste Dirk hart darum kämpfen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Die beiden taten, als ob er und Alex ein Fall für den Scheidungsanwalt wären.
Mark zwinkerte ihm zu. »Ich hoffe für dich, dass deine Alex nicht auf die gleiche Idee kommt wie meine Schwester.«
Er war zu neugierig, um die offensichtlich provozierte Frage nicht zu stellen. »Also, was war mit deiner Schwester? Was hat sie getan?«
»Sie ist mit einem Freund von mir verheiratet, und nach der Geburt ihrer Tochter ging es zwischen ihnen heiß her. Das endete erst, als sie ihre Eltern besucht hat.«
»Was soll daran schlimm sein?«
»Sie hat ihren Mann ohne Vorwarnung für fast eine Woche mit dem Kind alleine gelassen. Danach war Ruhe.«
Dirk gab sich geschlagen. »Botschaft angekommen, auch wenn das überflüssig war. Sie ist zwar genervt, weil ihr der Job fehlt, aber wir haben keinen Streit.«
Holgers ungläubige Miene sprach für sich. Doch von Alex’ gelegentlichen Temperamentsausbrüchen abgesehen, verstanden sie sich auch nach Tims Geburt ausgesprochen gut und hatten keine Probleme.
Zwischenzeitlich war ihm eingefallen, was ihn an den Bilanzposten gestört hatte. Fünf Minuten später klappte er sein Notebook zu. Wieder hatte er keinen Hinweis auf eine Unregelmäßigkeit gefunden. Es hatte sich lediglich um einen Buchungsfehler gehandelt, der im Folgemonat korrigiert worden war. Sein Gefühl sagte ihm, dass bei der Reederei unsaubere Geschäfte liefen, aber bisher fehlten ihm Beweise, und allmählich lief ihnen die Zeit weg. Lange konnten sie ihre Tarnung als angebliche Prüfer im Auftrag der amerikanischen Muttergesellschaft nicht mehr aufrechthalten.
Als das Hamburger Landeskriminalamt ihn gebeten hatte, zusammen mit einem amerikanischen Wirtschaftsprüfer die Buchführung der Reederei zu untersuchen, hatte er begeistert angenommen. Das hatte nach einer spannenden Abwechslung geklungen, zumal die Sache klar schien.
Das US-Schatzamt hatte eine Überweisung der Reederei abgefangen und vermutete hinter dem Empfänger der Zahlung eine Scheinfirma von Al-Qaida. Die Reederei hatte zwar umfangreiche Geschäftsbeziehungen in den Nahen Osten und gehörte seit einigen Jahren mehrheitlich einem amerikanischen Unternehmen, aber die Ermittlungen in den USA waren ergebnislos verlaufen. Eventuelle Verstrickungen in die internationale Terrorszene mussten demnach von Hamburg ausgehen, einer Stadt, die schon einmal unrühmlich in die Schlagzeilen geraten war, weil die Piloten der Terroranschläge vom 11. September hier gewohnt und studiert hatten.
Mittlerweile war Dirks anfängliche Begeisterung deutlich abgekühlt und er verstand, warum sein Ansprechpartner beim LKA nicht so recht an die Geschichte zu glauben schien. Vermutlich irrten sich die Amerikaner und es gab einen harmlosen Grund für die Zahlung, ansonsten wären garantiert nicht nur zwei Wirtschaftsprüfer und ein Assistent mit der Untersuchung beauftragt worden. Sein Instinkt sagte ihm zwar, dass der Laden nicht sauber war, aber mittlerweile tippte er auf Unterschlagungen, und ohne Beweise kam er sowieso nicht weiter.
Andererseits war Mark nicht unbedingt ein typischer Wirtschaftsprüfer. Er hatte sämtliche bilanziellen Fragen Dirk überlassen und sich auf die EDV konzentriert. Außerdem war er auffallend zurückhaltend.
Die ganze Sache lief alles andere als normal. Es gab nur einen Grund, warum sie die Untersuchung noch fortführten. Bei der Hamburger Bank existierte das Konto der Reederei, das die Amerikaner auf dem Überweisungsbeleg gefunden hatten. In der Buchführung der Reederei tauchte es jedoch nicht auf. Dafür gab es keine logische Erklärung. Nachforschungen bei der Bank schieden aus, denn das deutsche Bankgeheimnis schützte auch potentiell illegale Geschäfte, und mit einem offiziellen Beschluss würden etwaige Verbrecher gewarnt.
Hamburger Bank? Vielleicht konnte Alex ihnen helfen. Warum war er eigentlich nicht schon früher darauf gekommen?
»Die Jungs von der Spurensicherung haben einen Treffer. Es kommt gleich ein Fax.« Matthias reckte sich und schob sich den Rest seines Brötchens in den Mund. War das jetzt das dritte oder vierte Frühstück seines Freundes? Sven hatte den Überblick verloren.
»Willst du wirklich nichts?« Matthias hielt ihm eine Kekspackung hin.
Sven schüttelte den Kopf. Er würde Matthias nicht auf die Nase binden, dass sein spätes Frühstück bei Britta eher einem frühen Mittagessen geglichen hatte.
Der gemeinsame Abend hatte sich besser als erwartet entwickelt. Bei Pizza und Rotwein hatten sie den warmen Abend auf der Terrasse verbracht. Als er ein zweites Glas ablehnen musste, hatte sie ihm mit geröteten Wangen die Couch angeboten. Die Einladung hatte er ohne zu zögern angenommen.
Zunächst hatte ihm der Anblick ihres Sohnes einen Stich versetzt. Seine Tochter war ihm im gleichen Alter entrissen worden. Aber vielleicht bekam er jetzt die Chance zu einem Neuanfang. Britta hatte erstaunt beobachtet, dass er sich mit Windeln und Kinderspielzeug auskannte und ihren Sohn mühelos beschäftigen konnte, aber keine Fragen gestellt. Ihre Zurückhaltung gefiel ihm, noch war er nicht so weit, über seine Vergangenheit zu reden. Vielleicht würde das am heutigen Abend anders aussehen. Sofern ihm jobmäßig nichts dazwischen kam, stand eine gemeinsame Motorradtour auf dem Programm, und der Gedanke daran gefiel ihm ausgesprochen gut.
Ein Blatt Papier verfehlte seine Nase nur knapp. Verdammt, er hatte das Fax der Spusi vergessen. Spöttisch lächelnd hielt Matthias den Ausdruck außer Reichweite.
»Und? Woran hast du gedacht?«
»Ich mache nachher pünktlich Schluss, weil ich noch was vorhabe.«
Das Papier näherte sich ihm geringfügig.
»Mit Britta?«
»Ja. Und jetzt gib mir das Fax.«
Matthias ließ das Blatt vor Sven fallen. Statt neuer Informationen der Spusi hielt er den offiziellen Bericht der KTU in der Hand, den er schon kannte.
»Vielen Dank auch.«
Matthias ignorierte ihn und las das andere Fax. Das konnte noch dauern. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, rief Sven Google auf. Die KTU hatte ihm bereits telefonisch mitgeteilt, dass die Schüsse auf Kranz aus einem Scharfschützengewehr, einem Heckler & Koch PSG1, stammten.
Der Techniker war sich absolut sicher, dass vom Michel aus geschossen worden war. Auch nach Svens bohrenden Fragen und seinem Hinweis, dass die gefundenen Geschossreste vom Kaliber 7,62 auch zu anderen Gewehren passen könnten, war der Experte bei seiner Auffassung geblieben und hatte dies nun schriftlich bestätigt.
Die Informationen aus dem Internet über die Waffe brachten Sven nicht weiter. Im Gegenteil, sie warfen neue Fragen auf.
»Ich dachte, ich wäre für die Neuigkeiten zuständig.«
»Kommt drauf an, ob du das toppen kannst. Wenn der Techniker mit dem PSG1 richtig liegt, können wir im Prinzip einpacken. Das bringt uns nicht weiter.«
Matthias überflog den Ausdruck. »Dass das PSG1 für die Hamburger Unterwelt untypisch ist, habe ich gewusst. Dass kein Profikiller hier auftaucht, um ein paar Warnschüsse abzuballern, war klar. Aber das hier …« Er tippte auf den letzten Absatz. »Dann müssen wir unsere Ermittlungen wohl oder übel auf das deutsche KSK und die britische SAS ausweiten.«
»Du hast die amerikanischen Navy SEALs vergessen.«
Sie wechselten ein grimmiges Grinsen. Die Erkenntnis, dass das Gewehr weltweit von militärischen Spezialeinheiten eingesetzt wurde, brachte sie kein Stück weiter. Sven sammelte die auf dem Schreibtisch verstreuten Unterlagen ein und fasste sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen.
»Was ist mit dem Fax?«
»Am Tankdeckel des ausgebrannten Fahrzeugs wurden zwei Fingerabdrücke gefunden. Die Täter haben den Tank geöffnet, um Benzin abzulassen und den Wagen in Brand zu setzen. Den Deckel haben sie wohl vergessen, der lag im Gras. Die Abdrücke eines Daumens und Zeigefingers sind deutlich genug, um vor Gericht verwendet zu werden. Möchtest du die wissenschaftlichen Details?«
Matthias lächelte, als Sven drohend die Augenbrauen zusammenzog.
»Anscheinend nicht. Sie gehören einem Albaner mit unaussprechlichem Namen. Er ist wegen Körperverletzung und räuberischer Erpressung vorbestraft und arbeitet üblicherweise mit einem Partner zusammen. Vor zwei Jahren wurde wegen eines Auftragsmordes gegen sie ermittelt, aber bevor es zur Anklageerhebung kommen konnte, verschwand der einzige Belastungszeuge spurlos.«
»Also steckt jemand mit Geld und den richtigen Beziehungen dahinter.« Sven legte die Hände in den Nacken und starrte auf die Neonröhren an der Decke. Seine Meinung stand fest, aber ihn interessierte, ob Matthias zum gleichen Ergebnis gekommen war. »Glaubst du, dass die Albaner auch hinter den Schüssen auf Kranz stecken?«
»Nein. Nicht diese Typen. Einen Kinderwagen umzustoßen, ist eine Sache, aber sich unbemerkt in den Michel zu schleichen und aus der Entfernung zu treffen, oder genauer gesagt, nicht zu treffen, eine völlig andere. Aber vermutlich werden hinter beiden Anschlägen die gleichen Drahtzieher stecken.«
Sven starrte weiter die Deckenbeleuchtung an. »Glaub ich nicht.«
»Willst du den Neonröhren erklären, wie du darauf kommst, oder verrätst du mir deine Theorie?«
Sven fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, richtete sich auf und sah Matthias an.
»Ich habe noch keine richtige Theorie, nur ein Bauchgefühl, das mir sagt, dass hinter dem Überfall auf Britta und dem auf Kranz zwei völlig unterschiedliche Dinge stecken. Von der Logik her müssten sie zusammenhängen. Als einziger Grund würde mir einfallen, dass Alex und Kranz in der Vergangenheit bei einer kriminellen Sache zusammengearbeitet haben und jemand beide einschüchtern will. Tut mir leid, aber das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Warum? Weil sie die Freundin deiner Freundin ist?«
»Natürlich nicht. Außerdem hast du selbst gesagt, dass die Vorgehensweisen nicht zusammenpassen.«
»Du hattest schon früher immer den richtigen Riecher. Wir gehen also von zwei unterschiedlichen Motiven aus. Auch wenn uns das nicht weiterbringt, habe ich etwas anderes, viel Wichtigeres festgestellt.«
»Und das wäre?«
»Du hast nicht protestiert, als ich Britta als deine Freundin bezeichnet habe.«
»Idiot. Konzentrier dich lieber auf unseren Fall. Kranz ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Vielleicht hatte Sandra bei der Durchleuchtung seines Hintergrundes mehr Erfolg als wir.«
Auch am nächsten Tag hatte sich Dirk noch nicht entschieden, ob er Alex um Hilfe bei seinen Nachforschungen bitten sollte. Bei einem Becher Kaffee, der Ersatz für das ausgefallene Mittagessen war, wog er erneut das Für und Wider ab. Er hatte sich in der Einschätzung der Situation getäuscht und sich bei Alex entschuldigt, aber ihm gefiel nicht, wie sie sich auf die Sache mit ihrem Ex-Chef stürzte, und solange er nicht überblicken konnte, worum es bei dieser Reedereigeschichte eigentlich ging, zögerte er. Wohl wissend, dass Alex begeistert gewesen wäre.
Plötzlich spürte er Marks prüfenden Blick.
»Wirst du ungeduldig?«
»Auch, aber im Moment überwiegt die Ratlosigkeit.«
»Was sagt dein Gefühl?«
»Das etwas faul ist und wir zu blind sind, um es zu sehen, obwohl es vor uns liegt.«
»Dann werden wir so lange weitersuchen, bis wir es finden.«
Marks Entschlossenheit gefiel ihm. Er verschob die Grübeleien über Alex auf einen späteren Zeitpunkt und wandte sich seinem Notebook zu.
»Gilt deine Einladung zum Grillen noch?«, erkundigte sich Mark unerwartet.
Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Eigentlich hatte er Mark nur pro forma eingeladen, da er dessen distanziertes Verhalten respektierte, ihn aber nicht übergehen wollte, als sich Holger quasi selbst eingeladen hatte. Erwartungsgemäß hatte Mark dankend abgelehnt.
»Natürlich. Schön, wenn es jetzt doch passt.«
Holger quittierte Marks Meinungsänderung mit wenig Begeisterung. »Klasse, während ich übermorgen bei angekündigten dreißig Grad im muffigen Wohnzimmer meiner Schwiegereltern sitze, haut ihr euch die Bäuche mit Bier und Steaks voll.«
Das hätte Holger klären sollen, ehe er Dirk die Einladung abgerungen hatte. Dirk verkniff sich eine entsprechende Bemerkung und verbarg, dass er den Abend weitaus lieber mit Mark als mit Holger verbrachte.
»Ich habe es!« Aufgeregt wedelte Holger mit einem Blatt. »Hier waren zwei Seiten zusammengeklebt. Dieser Beleg gehört gar nicht zu den Gehaltsbuchungen und sollte garantiert nicht in diesem Ordner abgelegt werden.«
Dirk schnappte sich den Ausdruck. 500.000 Euro waren auf dem gesuchten Girokonto der Reederei eingegangen. Er schob Mark das Papier zu.
»Noch interessanter als die Tatsache, dass hier erstmals das Konto auftaucht, ist die Herkunft des Geldes.«
Holger winkte geringschätzig schnaubend ab.
»Das ist doch nur irgendein anderes Konto bei der Hamburger Bank.«
»Nein, ist es nicht. Das ist ein internes Konto der Bank, die beginnen dort alle mit 70. Ich weiß jetzt, warum wir das Girokonto der Reederei bisher nirgends gefunden haben.«
»Wie meinst du das?« Der Amerikaner zeigte zum ersten Mal Ungeduld.
»Wir wissen jetzt hundertprozentig, dass das Konto existiert und benutzt wird. Was ist, wenn uns einfach die Berechtigung fehlt, uns das Konto anzusehen?«
»Das bekomme ich raus.« Das leise Klicken von Marks Tastatur war das einzige Geräusch im Raum. »Hier.« Kurzes Schweigen, dann ein englischer Fluch. »Wir haben auf sämtliche Daten im Buchhaltungssystem Zugriff, nur ein Konto ist manuell aus der Berechtigung entfernt worden. Mist, ich hätte das früher überprüfen müssen.«
»Vergiss es, wir hätten alle eher auf die Idee kommen können. Ich mache den Job schon so lange, und bin noch nie darauf gekommen, das zu checken. Ist wirklich nur ein Konto ausgeschlossen?«
»Ja. Wieso?«
»Weil wir damit den nächsten Ansatzpunkt haben und den Saldo des Kontos kennen.« Seine Kollegen blickten ihn ratlos an. »Na kommt, wir wissen jetzt, woher das Geld kommt und auch, dass es sofort weitergeleitet wird. Wir müssen nur noch herausbekommen, wo es hingeht. Und natürlich, wer dafür verantwortlich ist.«
Mark verstand ihn sofort, aber da Holger weiter ratlos wirkte, war eine Erklärung erforderlich.
»Ein Konto haben sie uns unterschlagen, aber die Bilanz geht auf. Damit muss das Konto einen Saldo von null haben. Wäre auf dem Konto Geld drauf, wäre die Bilanz im Ungleichgewicht, und das wäre uns aufgefallen.«
Dirk wartete, bis Holger nickte.
»Gut, dann telefoniere ich mit Alex, und Mark bekommt heraus, wer sich hinter der Benutzerkennung verbirgt. Schaffst du das?« Er tippte auf drei Buchstaben in der Kopfzeile des Belegs, die für denjenigen standen, der sich den Umsatz angesehen und ausgedruckt hatte.
»Offiziell nicht, aber ich denke schon. Willst du mit deiner Frau über die Sache hier sprechen?«
»Ja. Sie war früher bei der Hamburger Bank. Vielleicht kennt sie das Konto oder weiß, wie wir da rankommen.«
»Meinetwegen. Aber Handygespräche können leicht abgehört werden. Nimm meins.«
Mark reichte ihm sein Mobiltelefon, das etwas dicker als normale Geräte war.
»Ein Sat-Phone?«
»Ja. Damit habe ich überall auf der Welt Empfang und dank der Verschlüsselungstechnik ist es abhörsicher. Wenn du mit ihr reden willst, nimmst du das.«
Die Vorsichtsmaßnahme hielt er für übertrieben, aber Marks Miene machte deutlich, dass eine Diskussion nichts bringen würde. Dennoch würde er Marks Befehlston nicht widerstandslos akzeptieren.
»Und wieso sollte ich das tun?«
»Weil ich dich darum bitte?«
»Dann musst du an deinem Ton arbeiten. Aber ich nehme es trotzdem.«
Mark grinste. »Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen.«
Dirk wählte Alex’ Nummer und überlegte, wie er das Gespräch am besten beginnen sollte. Vermutlich war es sinnvoll, sich erst nach ihren eigenen Nachforschungen zu erkundigen.
Alex reagierte mit einem Wortschwall der Begeisterung auf sein Interesse. Die Laune von Kranz hatte sich in den letzten Wochen stetig verschlechtert. Von einem ehemaligen Kollegen hatte sie erfahren, dass ihr Ex-Chef ausgesprochen merkwürdig reagiert hatte, als ihm jemand eine Mail geschickt hatte, die nur aus einem Wort bestanden hatte.
»Moment. Wieso zeigt Kranz einfach jedem seine Mails?«
Alex seufzte ungeduldig. »Hat er doch nicht. Er hatte Frank und Jens was am PC gezeigt, als das Fenster aufpoppte, dass er eine neue Mail hat. Kranz wartete auf was vom Vorstand, wechselte zu Notes und schwupps, konnten die beiden in der Vorschau sehen, dass die Mail nur aus einem Wort bestand: Shara. Kranz wurde kreidebleich und beendete das Gespräch. Zufrieden, Herr Richter?«
Schmunzelnd ging Dirk auf ihren Ton ein. »Ausgesprochen gute Arbeit, Frau Groß. Verraten Sie mir auch noch, wer oder was, Shara ist?«
»Keine Ahnung. Es gibt eine Bauchtänzerin mit dem Namen, aber viel interessanter ist ein Artikel im Archiv des Abendblatts. Da taucht eine Shara R. als Opfer eines Überfalls auf. Vor elf Jahren wurden sie und ihr kleines Kind in einem Wandsbeker Park überfallen. Aber frag jetzt nicht, was das mit Kranz zu tun haben kann. Meinst du, ich soll ihn morgen fragen?«
»Das meinst du ja wohl nicht ernst. Außerdem bin ich nicht sicher, ob du da hinsolltest.«
»Nun hör aber auf. Heinz’ Abschied lasse ich mir nicht entgehen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Kranz mir bei einem Empfang etwas tun würde. Hast du nur angerufen, um dich nach meinen Nachforschungen zu erkundigen?«
Das Ablenkungsmanöver war zwar durchsichtig, aber Dirk ging dennoch darauf ein. »Nicht nur. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Wenn du schon diesem Typen vom LKA hilfst, kannst du dich auch bei deinem Mann beliebt machen.«
Alex lachte. »Tu nicht so, als ob ich dich vernachlässigen würde. Wie kann ich dem Herrn Wirtschaftsprüfer helfen?«
Dirk las ihr die Kontonummer auf dem Beleg vor und wartete auf ihre Reaktion, die sofort kam.
»Mensch, wo hast du das Konto her? Klar kenne ich das. Dafür war ich früher verantwortlich. Stichwort Raubtierfonds. Muss ich noch mehr erklären?«
Ein weiteres Puzzleteil fiel an die richtige Stelle. Anscheinend machte jemand bei der Hamburger Bank gemeinsame Sache mit der Reederei.
»Wenn ich dir sage, dass von dem Konto 500.000 Euro an eine Reederei überwiesen worden sind, was sagst du dann?«
»Dass da was ganz Fieses im Gange ist. Kennst du das Konto, auf das das Geld gegangen ist?«
»Ja. Das ist ein Girokonto bei der Hamburger Bank und gehört der Reederei, bei der ich gerade bin.«
»Prima, Wirtschaftsprüfer. Besorg mir den Super-Pin und du bekommst von mir die Umsätze der letzten sechs Monate auf dem Girokonto. Wie klingt das?«
»Sehr gut. Was ist ein Super-Pin? Und wo finde ich den?«
»Das Online-Banking einer Firma geht über spezielle Programme. Man kann sich aber auch direkt übers Internet bei der Bank anmelden. Das macht man, wenn’s schnell gehen soll. Zugang bekommst du, wenn du die Girokontonummer eingibst und diesen Zahlencode. Mach mal die Augen auf. Meistens ist dieser Zugangscode an etlichen Stellen notiert, damit man ihn griffbereit hat. Wer kann sich schon eine sechsstellige Nummer merken?«
»Wenn ich das Ding finde und heute Abend mitbringe, erledigst du also den Rest?«
»Klar und ich mache dir noch ein Angebot, das ich dem LKA nie machen würde.«
Dirk biss sich auf die Unterlippe. Er hatte Alex bisher verschwiegen, dass er fürs LKA arbeitete. Wenn sie das herausbekam, konnte er nur noch in Deckung gehen.
»Na, dann lass mal hören.«
»Ich komme zwar in der Bank nicht an Kundenkonten ran, aber wenn ich morgen dort bin, sehe ich mir den Raubtierfonds an. Diskutier gar nicht erst mit mir. Ich muss mich jetzt sowieso um deinen Sohn kümmern. Bis heute Abend – und such schön.«
Er wusste nicht, ob er über ihr Angebot dankbar oder entsetzt sein sollte. Letztlich tat sie genau das, worum er sie hatte bitten wollen. Doch es blieb ein schlechtes Gefühl.
Um Zeit zu gewinnen, ignorierte er Marks fragenden Blick.
»Hast du herausbekommen, wer sich den Beleg angesehen hat?«
Mark nickte langsam. »Hab ich, zweimal überprüft, aber das Ergebnis bleibt dasselbe: Michael Warden.«
Der ehemalige Geschäftsführer der Reederei und Sohn des Firmengründers war seit zwei Jahren tot. Dirk stand auf, um selbst einen Blick auf Marks Monitor zu werfen. Am Ergebnis änderte das nichts. »Dann sollten wir den Fall abgeben.«
Holger nickte heftig. »Finde ich auch.«
Das hatte er nicht gemeint, aber durch Holgers Unterbrechung hatte sein Scherz eine falsche Richtung eingeschlagen, und Marks Missbilligung war eindeutig. Ehe es zu einem ernsthaften Missverständnis kam, pfiff Dirk die Titelmelodie von »Ghostbusters«. »Die meinte ich.«
Marks Lächeln blitzte wieder auf. »So schnell bringt dich wohl nichts aus der Fassung, was? Verrätst du uns, was deine Frau gesagt hat?«
»Das Geld kommt von einem Konto, das offiziell eine völlig nichtssagende Bezeichnung hat: ›sonstiger Aufwand für irgendwas‹. Intern wird es ›Raubtierfonds‹ genannt, verfügungsberechtigt sind Vorstandsmitglieder, Alex, als sie noch ihren alten Job hatte, und natürlich ihr Ex-Chef. Sie kann sich nicht erinnern, dass jemals dermaßen hohe Beträge darüber gebucht worden sind, normalerweise ging da nur Kleinkram rüber. Beratungskosten im Zusammenhang mit geheimen Fusionsverhandlungen, Geschäftsessen mit Politikern und so was. Alles, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Für mich steht damit fest, dass irgendjemand bei der Hamburger Bank falsch spielt und offizielle Nachforschungen dort können wir endgültig vergessen. Uns bleiben nur …«
Holgers kritischer Blick ließ Dirk nach einem unverfänglichen Wort suchen.
»… unkonventionelle Wege, um die erforderlichen Informationen zu bekommen.«
Er erklärte den beiden Alex’ Vorhaben. Bei der Erwähnung des Zugangscodes sah Holger auf einen Ordner. Trotz Holgers Stöhnen griff er nach dem Ordner und schlug ihn auf.
»Punkt eins ist erledigt. Wie Alex vermutet hat, steht hier feinsäuberlich ein sechsstelliger Code. Heute Abend sehen wir uns das Konto an.«
»Sekunde.« Holger schlug den Ordner demonstrativ wieder zu. »Ich finde, wir sollten die Angelegenheit der Polizei überlassen. Abhörsichere Handys, merkwürdige Umsätze, eine Spur, die in die Hamburger Bank führt, und ein illegaler Zugriff auf ein Konto von uns … Das geht zu weit.«
»Wieso illegal? Wir sind berechtigt, die Buchhaltung der Reederei in sämtlichen Punkten auseinanderzunehmen.« Dirk fehlte die Geduld, sich auf eine weitergehende Diskussion mit Holger einzulassen. »Mich interessiert noch etwas anders. Mark, wenn du herausbekommen hast, dass angeblich Michael Warden den Beleg ausgedruckt hat, kannst du auch herausfinden, was dieser Geist sonst noch so macht und von wo aus er sich einloggt?«
»Schon erledigt. Unser Geist ist regelmäßig an zwei Tagen im Monat aktiv. Er arbeitet pünktlich um achtzehn Uhr für jeweils fünfzehn bis zwanzig Minuten im Buchhaltungsprogramm.«
»Was macht er?«
»Er gibt Überweisungen ein.«
»Und von wo aus macht er das?«
»Da bin ich noch dran. Ich habe die IP-Adresse seines Rechners, aber herauszubekommen, wo der steht, wird schwierig. Ich muss mir erst Zugang zur Systemebene verschaffen.«
Holger verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Ihr wisst schon, dass wir Wirtschaftsprüfer und keine Hacker sind – dachte ich jedenfalls.«
Mark wartete, bis sich Holger mit einem gemurmelten Fluch verabschiedet hatte. Angeblich, um Kaffee zu holen.
»Was hast du noch vor?«
»Gar nichts. Ich bin ein ehrbarer Wirtschaftsprüfer. Allerdings ist meine Frau morgen bei einer Veranstaltung in der Hamburger Bank, und sie wird es sich nicht ausreden lassen, ein Blick auf diesen Raubtierfonds zu werfen.«
»Ehrbarer Wirtschaftsprüfer?«
»Abhörsicheres Handy?«