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Prolog

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Er würde sie schließlich nicht gleich umbringen.

Shara Rawiz hob fröstelnd die Schultern, als sie an das unberechenbare Wesen des Mannes dachte, der zumindest auf dem Papier der Vater ihrer Tochter war. Wie hatte sie sich nur dermaßen in einem Menschen täuschen können? Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und suchte nach einer bequemeren Sitzposition auf dem Plastikstuhl im Umkleideraum des Hamburger Universitätsklinikums.

Woher kam nur dieser Anflug von Unsicherheit? Shara atmete tief durch. Schluss mit der Grübelei. Sie löste die Haarspange, fuhr sich mit den Fingern durch die schulterlangen, schwarzen Haare und tauschte den Arztkittel gegen die Jeansjacke.

Auf dem Weg nach draußen bog sie schwungvoll um die Ecke des verwinkelten Korridors und landete in den Armen von Hendrik Fischer.

»Meine Gebete wurden erhört. Du stürzt dich in meine Arme.«

Shara lachte und löste sich aus dem lockeren Griff.

»Von wegen. Ich möchte nur schnell nach Hause.«

»Ich habe eine bessere Idee: Ein paar Kollegen und ich wollen das schöne Wetter nutzen und zu den Landungsbrücken. Erst ein bisschen Schiffe gucken und dann in den Beach-Club. Kommst du mit?«

»Nein, die Nacht war für mich um vier Uhr zu Ende.«

Als sie merkte, wie schroff ihre Ablehnung geklungen hatte, zwang sie sich zu einem Lächeln.

»Hört sich aber gut an. Das nächste Mal bin ich dabei.«

Hendrik war die Enttäuschung anzumerken.

»Schon in Ordnung, irgendwann erwische ich den richtigen Zeitpunkt, und du kommst mit. Bis dahin muss ich eben einsam über die Korridore wandern und hoffen, dass das Schicksal uns erneut zusammenführt.«

Seine pathetische Klage brachte sie zum Lachen.

»Nächstes Mal«, wiederholte sie.

»Ich erinnere dich dran.«

Als die S4 an der Station Wandsbek stoppte, stand Shara schon an der Tür. Sie konnte es nicht erwarten, den stickigen Waggon endlich zu verlassen. Wenige Schritte hinter dem Bahnhof ließ sie die Hektik des Arbeitstages endgültig hinter sich. Der Weg zur Altbauvilla ihrer Freundin Emilie führte durch die Rantzaustraße, eine ruhige Wohngegend. Die weitläufigen Vorgärten auf der einen Seite und das Wandsbeker Gehölz auf der anderen ließen sie vergessen, dass sie sich in einer Großstadt befand. Sie mochte diese grünen Inseln und würde später den Park als Abkürzung zu ihrer eigenen Wohnung in der Schloßstraße nutzen. Gemächlich schlenderte sie die Straße entlang und genoss die Brise, die ihr durch die Haare strich und Urlaubsgefühle weckte. Einziger Störfaktor war die Robert-Schumann-Brücke, auf der der Feierabendverkehr noch in vollem Gang war und die sie unterqueren musste. Wenige Augenblicke später war der Verkehrslärm nur noch ein fernes Rauschen, und sie erreichte ihr Ziel.

Auf dem Balkon ihrer Freundin drehten sich bunte Windspiele. Die grellen Farben schienen nicht zu einer Frau zu passen, die ihren sechzigsten Geburtstag bereits hinter sich hatte, aber sie waren typisch für Emilie, die darauf bestand, »Em« genannt zu werden. »Emilie« fand sie altmodisch.

Shara war nicht überrascht, dass die Klingel keinen Ton von sich gab, wahrscheinlich schlief Rami. Bevor sie nach ihrem Schlüssel suchen konnte, öffnete sich die Tür, und Em stand vor ihr. Die weißblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der perfekt zur pinkfarbenen Leggins und dem weiten, grauen Sweatshirt passte.

»Shara, endlich. Das wurde auch Zeit. Hast du Hunger? Soll ich Tee kochen? Setz dich doch erstmal. Rami schläft seit etwa einer Stunde.«

Wenn Em in Fahrt war, war es unmöglich, zu Wort zu kommen. Shara schaffte es gerade noch, das angebotene Essen abzulehnen, ehe Em sie zu einem der Sessel im Wohnzimmer bugsierte und in die Küche eilte. Den Geräuschen nach zu urteilen, kochte sie einen ihrer berühmten Tees. Shara gähnte und hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

Besorgt runzelte Em die Stirn.

»Du siehst völlig fertig aus und diese Kräutermischung ist genau das, was du jetzt brauchst. Aber trotzdem hörst du mir gefälligst zu, wenn ich dir einen Vortrag darüber halte, dass du dir zu viel zumutest und zu wenig an dich denkst«, forderte sie und schob Shara eine Teetasse hin.

»Brauchst du nicht, aber …«

Mit einer energischen Handbewegung wurde sie unterbrochen.

»Kein ›aber‹. Ich habe nichts dagegen, dass du arbeitest, aber die ständigen Nachtschichten und Bereitschaftsdienste sind keine Dauerlösung. So kann es nicht weitergehen, sonst liegst du bald selbst im Krankenhaus.«

»Jetzt übertreibst du.«

Doch die Sorge in Ems Gesicht machte Shara nachdenklich. Vielleicht sollte sie ihr von dem Telefonat mit dem Anwalt erzählen. Sie stand auf und ging ans Fenster. Gedankenverloren nahm sie eine der Drachenfigur von der Fensterbank und drehte sie in der Hand. Trotz der eindeutigen Rechtslage wusste sie nicht, wie Ramis Vater auf ihre Forderung reagieren würde. Plötzlich stutzte sie. Es waren noch einige Leute auf der Straße unterwegs, doch es sah so aus, als würde sich in der gegenüberliegenden Garageneinfahrt jemand verstecken. Blödsinn, das wäre dem Mann mit dem Dackel garantiert aufgefallen. Sie stellte den Drachen zurück.

»Wenn alles gutgeht, hat dieses Leben bald ein Ende. Ich …«

»Kind, sag doch so was nicht«, unterbrach sie Em.

Lachend winkte Shara ab.

»Nein, so war das nicht gemeint. Ich habe ein Angebot für eine halbe Arztstelle. Ich hätte damit zwar mehr Zeit, aber zu wenig Geld. Deshalb habe ich über einen Anwalt von Ramis Vater Unterhalt für sie gefordert. Für mich will ich keinen Cent, aber es ist nur fair, wenn er endlich für seine Tochter zahlt, schließlich hat er genug Geld. Na, wie klingt das?«

»Eigentlich gut, aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl. Ich kann dir nicht sagen, woran es liegt. Vielleicht sollten wir die Karten fragen.«

»Du meinst, die verraten mir, wann er das erste Geld überweist?«

Der empörte Gesichtsausdruck ihrer Freundin stellte ihre gute Laune endgültig wieder her. Em war seit Sharas Ankunft in Deutschland vor rund zwölf Jahren zu einer Ersatzmutter für sie geworden, dennoch würde sie sich nie mit dieser Marotte abfinden.

»Oder sagt mir das Ding da den genauen Zeitpunkt?«

Sie zeigte auf Ems Kristallkugel und erhielt ein entrüstetes Schnauben als Antwort.

Viel zu schnell wurde es Zeit für den Aufbruch, sie trank den Tee aus und ging ins Schlafzimmer. Beim Anblick ihrer zehn Monate alten Tochter, die schlafend auf Ems Doppelbett lag, lächelte sie. Egal, wie es weiterging, ihr Kind war jeden Aufwand und jede Entbehrung wert.

Em war ihr gefolgt und seufzte.

»Wenn ich dich nicht überreden kann, heute Nacht hier zu bleiben, versprich mir wenigstens, dass du nicht durch den Park gehst. Auf die zehn Minuten kommt es nicht an und ich habe immer noch ein merkwürdiges Gefühl. Bitte nimm die Hauptstraße. Meinetwegen nenn es den Spleen einer alten Frau, aber tu es einfach.«

Eine halbe Stunde später saß Rami im Kinderwagen und spielte mit ihrem Teddy. Abgelenkt durch das vergnügte Lachen ihrer Tochter, schlug Shara den kürzeren Weg durch das Wandsbeker Gehölz ein. Erst schnelle Schritte hinter ihr, die plötzlich langsamer wurden, erinnerten sie an Ems Warnung. Sie drehte sich um. Erstaunt erkannte sie den Mann. Ehe sie reagieren konnte, fiel etwas Dunkles, Schweres auf sie. Ein heftiger Ruck, fester Stoff legte sich über ihr Gesicht und wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie konnte nicht mehr atmen. Luft! Verzweifelt zerrte sie am Stoff, trat um sich. Die Angst um Rami setzte letzte Kraftreserven frei. Sie warf sich nach vorn, versuchte, dem festen Griff zu entkommen, stieß aber nur gegen den Kinderwagen.

Rami …!

Undurchdringliche Schwärze hüllte sie ein und löschte jeden weiteren Gedanken aus.

Fatale Bilanz

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