Читать книгу Die doppelte Palme - Stefanie Wagner - Страница 14
ОглавлениеIch.
Am ersten Morgen nach Mayjidahs Abreise und einer durchwachten, tränenreichen Nacht fand ich beim Anziehen in meiner Kittelschürze ein Stück Papier. Ich stutzte: wann und wer sollte es mir gegeben haben? Sollte ich einen Auftrag der königlichen Köchin übersehen haben? Als ich jedoch das Papier entfaltete, kamen die Notenblätter der erlernten Choreografie zum Vorschein, geschrieben von einer Handvoll Männer, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, die kein einziges Wort miteinander auszutauschen in der Lage waren, und doch eine gemeinsame Sprache kannten - die Musik.
Den Notenblättern beigefügt war ein weiteres, bedeutend kleineres Stück Papier, ein kurzer Satz mit der Schrift einer der alemannischen Sprache ungeübten Hand: „Wir sehen uns wieder – vergiss mich nicht. M“. Mayjidah musste mir die Zettel unbemerkt zugesteckt haben, als sie mich zum Abschied an sich drückte, denn ich erinnerte mich nur noch an die feste Umarmung und daran, dass ich nichts außer lähmender Traurigkeit empfand. Wie leicht muss es ihr da wohl gelungen sein, mir ihre Nachricht heimlich zuzustecken. Und wie war ich nun ob dieser Geste dankbar!
Ich verbrachte nach Mayjidahs Abreise zumeist die Nacht mit bitteren Tränen und einer Hoffnungslosigkeit, die Steine hätte erweichen können. Es trieb mich um und ich wanderte, wenn ich nicht schlafen konnte, durch die spärlich eingerichteten zwei Räume, die ich mit meiner Mutter bewohnte. Ich machte die eine oder andere neu erlernte Tanz-Bewegung, weinte dann erneut; lag auf dem Bett und haderte mit meinem Schicksal; lief wieder herum, zürnte Gott und der Welt und zweifelte an der Gerechtigkeit des Lebens.
Und jede Nacht träumte ich. Und stets war es derselbe Traum.
Ich laufe: Ich laufe einer Dunkelheit entgegen und habe Angst vor dem Unbekannten, welches vor mir in der Dunkelheit lauern könnte, und Angst vor dem, was hinter mir liegt. Ich drehe mich nicht um, ich fürchte mich vor dem, was ich sehen könnte. Ich laufe und laufe. Und dann – bin ich plötzlich und ohne Vorwarnung von der Dunkelheit eingeschlossen. Ich knie mich hin, zu entsetzt, mich weiter zu bewegen – wie eine Maus, die eine Schlange sichtet und von Furcht gelähmt wird. Doch dann, eher allmählich denn schlagartig, wird es heller. Die Helligkeit lässt jedoch nicht all die Dunkelheit schwinden. Nein, sie ist eher wie ein Sonnenstrahl, der durch einen Himmel voller Regenwolken dringt – ein Strahl, ein Weg, ein Hinweis auf das Göttliche. Ich stehe auf und gehe auf dieses Licht zu und in dem Augenblick meines Eintritts in die Helligkeit ertönt Mayjidahs Stimme, glockenklar und voller Sehnsucht: „Wir sehen uns wieder – vergiss mich nicht“.
In der spärlichen arbeitsfreien Zeit begann ich, die arabische Sprache zu erlernen. Wahrlich fiel es mir nicht leicht, den Herrn, der bei dem Besuch des Scheichs die fremden Worte übersetzte, von der mir dringenden Notwendigkeit zu überzeugen, dass ich unbedingt die Sprache dieses fernen Volkes lernen müsse. Doch letztlich gab er meinem Drängen nach, brachte mir vieles bei und gab mir Lehrbücher an die Hand. So füllte ich nun auch die leeren Stunden der Nacht mit Tanz und Unterricht.
Nach zwei Monaten, in denen ich nicht nur besonders viel meiner Zeit der Arbeit und des Lernens widmete, um mich abzulenken, sondern auch viel Kraft benötigte, da es um meine Mutter täglich schlechter stand, nahm eines Abends die Mutter mit letzter Kraft meine Hand, drückte sie zärtlich und sagte: „Kind, du hast immer an deine Träume geglaubt und ihnen einen Weg in dein Leben gezeigt. Immer hast du es trotz aller Unsäglichkeiten gut gehabt. Nun sieh zu, dass sich durch mein Dahinscheiden nichts ändert. Ich kenne deine neuen Träume und ich wünsche mir nichts mehr, als dass du auch diese zum Leben erweckst. Ich werde dich auf all deinen Wegen begleiten und meine Hand immer schützend über dich halten. Ich liebe dich und glaube fest an dich. Du wirst deinen Weg schon gehen“.
Noch in dieser Nacht schlief meine Mutter für immer ein.
Nach der Beerdigung meiner Mutter und den Tagen und Wochen des Leids begann sich die Trauer in Wut zu verwandeln. Ich beschloss - traurig und gleichzeitig voller Gram auf das Leben -, dass jetzt der Zeitpunkt sei, meinem Leben eine Wende zu geben und das meiner Mutter gegebene Versprechen einzulösen. Ich erinnerte mich an ein arabisches Wort: Safar. Erinnerte mich Mayjidahs Weissagung und wagte endlich den Schritt, den ich mich vorher nie getraute auch nur zu denken: Ich packte mein weniges Habe, ging forschen Schrittes in den Versammlungssaal des Königs und sprach dort vor.
„Ich werde mein Glück in der Ferne suchen. Der Besuch aus dem Orient hat mir einen Weg gezeigt, den zu gehen ich wünsche und der mich trotz der Trauer um den Verlust meiner Mutter am Leben erhält. Ich bitte Euch, Herr König, gebt mich frei und fertigt mir einen Geleitbrief, der es mir ermöglicht, so unbeschadet wie es einer allein reisenden Frau nur möglich ist, das ferne Arabien zu erreichen“.
Der König schmunzelte, so kam es mir vor. Immerhin kannte er mich doch seit meiner Geburt und wusste um meinen eisernen Willen. Und doch sprach er mit bösen Blicken: „Was für ein König wäre ich, ließe ich eine Dame meines Volkes über Wochen und Monate allein des Weges ziehen bis hin in das ferne Morgenland. Wenngleich mich deine Entscheidung nicht überrascht, muss ich es dir doch auf das Strengste untersagen. Nicht ohne Gefahr für Leib und Seele ist solch eine Reise für eine junge Frau…“
Ich schluckte schwer, mein Trotz schmolz zu einem winzigen Rinnsal von Hoffnungslosigkeit.
„…daher gebe ich dir meine zwei besten Ritter zur Seite, Linhardt und Gunnar, auf dass sie dich sicher geleiten mögen, wohin auch immer deine Wege führen. Und lass dir von mir dieses mit auf den Weg geben: Deine Mutter war stets eine ehrliche und offene Frau, voller Freude und Heiterkeit. Ihr Tod dauert mich sehr – doch ich bin mir ihrer Wünsche für deine Zukunft bewusst und daher mögest du wählen, was immer du zu benötigen glaubst: Kleider, Geld, Verpflegung. Es soll dir, so du es nehmen magst, an nichts mangeln“.
Wieder ein Schlucken, ein dahin irrender Gedanke – jedoch nicht wirklich greifbar -, und dann erst eine langsam aufkeimende Schüchternheit und danach die Dankbarkeit. „Herr, Ihr seid zu gütig. Ich vermag mein Glück nicht zu fassen. Und auch wenn einige sagen mögen, es sei unschicklich, so nehme ich doch Euer Angebot von Herzen an“.
Es zeigte sich, dass der König wahr gesprochen hatte: ich konnte, mit ein wenig Kleidung, Proviant und einigen Münzen größeren Wertes bepackt und in Begleitung von zwei als mutig und tapfer geltenden Rittern in Richtung des Orients davonreiten.
Ich kannte Linhardt und Gunnar schon mein ganzes Leben lang. Sie waren des Prinzen Lehrer in der Kampfkunst und hatten stets ein Auge auf uns, wenn wir wieder einmal aus dem Schloss hinaus zu kindlichen Abenteuern in die Stadt und auch schon mal hinter das Stadttor an den Fluss zogen. Sie begleiteten uns, bewahrten uns, und ganz besonders den Prinzen Johann, vor Unglück und böswilligen Absichten anderer dem Königshofe gegenüber. Ihrem Beistand allein war es zu verdanken, dass wir eine unbeschwerte und glückliche Kindheit erleben durften. Und ich liebte sie dafür von ganzem Herzen. Doch während ich als Kinde noch die Herren Ritter als alt empfand, so stellte ich nun fest, dass sie nicht wesentlich mehr Jahre trugen denn ich, vielleicht an die fünf Lenze, so vermutete ich. Und ich wunderte mich, dass ich dies damals so gänzlich anders wahrgenommen hatte.
Meine Begleiter waren beide hochgewachsen, blond und breitschultrig. Und doch unterschieden sie sich voneinander: Gunnar war muskulös, es wirkten die Muskeln an Armen und Beinen wie Berge in einer Landschaft. Alles an ihm wirkte groß. So hatte er grob aussehende Hände und auch der Hals war breit gebaut wie der eines Bullen. Seine Augen waren braun und die Haare schulterlang. Sein Gesicht zeigte tief eingegrabene Falten, die wohl aus traurigen Zeiten rühren mochten, und wirkte dadurch wie verhärmt. Zwar war er stets missgestimmt und verpasste keinen Augenblick, den er zu beschimpfen vermochte und für alles gab es Grund zu grummeln, doch war er ein herzensguter, ehrlicher Mensch, was er jedoch wahrlich zu verstecken wusste. Stets trug er seinen ledernen braunen Mantel, den ihm einst, so erzählte er mir, sein Großvater, Schwertführer von König Ademar aus dem Frankenland, vermacht hatte.
Linhardt war ebenfalls breitschultrig und voller Muskeln, doch waren diese nicht so auffallend, sie waren eher schmal und lang gezogen. Es hatte auf mich schon immer den Eindruck, dass das, was Gunnar an Kraft, Linhardt an Ausdauer hatte. Vielleicht war dies auch der Grund ihrer Bruderschaft im Kampfe und der innigen Freundschaft, die sie verband. Auch war Linhardt nicht ganz so groß wie Gunnar, doch überragte auch er die meisten Männer seines Alters. Seine hellen blonden Haare waren, seit ich ihn kannte, stets kurzgeschoren. Er war empfindsam, trotz seiner Erfahrungen im Kriegsgetümmel, und hatte jederzeit für jeden ein gutes, tröstendes Wort. Aber das einprägsamste an ihm waren seine Augen. Sie waren von einem so intensiven Blau, dass die Maiden sich in Scharen zu seinen Füßen warfen, nur um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Sie waren mir wie Brüder, mit ihnen wuchs ich auf, mit ihnen erlebte ich gute und schlimme Tage. Und der schlimmste von allen fiel mir nun wieder ein:
Umgeben von drei Männern und mit ihnen aufwachsend, den Rittern Gunnar und Linhardt sowie dem Prinzen Johann, fühlte ich mich eine kurze Zeit mutig genug, ihnen zu zeigen, dass ich ihnen ebenbürtig sei. Es war einer der Tage, an denen der Prinz und ich am Flusse Ritter spielten, während, so nenne ich sie heute, meine großen Brüder im Schatten eines Baumes saßen und träge unser Spiel verfolgten. Doch dann lief ich übermütig zu ihnen hin, ergriff Gunnars Schwert und zog es, schwer wie es war, eilends zum Fluss. Dort erhob ich es mit aller Kraft, die ich besaß, und rief: „Ergebt Euch, König Johann von Germania!“ Der Prinz lachte ob meines Einfallsreichtums und erhob seinesfalls das Schwert - ein großer Ast, der neben ihm im Wasser trieb -, doch schon waren Linhardt und Gunnar heran. Linhardt entwand dem Prinzen geschickt und schnell den Ast, während Gunnar mich packte, mit hochrotem Gesicht und wutentbrannten Augen, mir das Schwert ohne größeren Kraftaufwand entzog und es auf die Erde warf. Dann legte er mich übers Knie und schimpfte: „Wenn Ihr Euch wie ein Mann benehmt, so wird Euch auch dessen Strafe zuteil!“ Und dann versohlte er mir den Hintern, während Prinz Johann und Linhardt entsetzt zusahen, unfähig einer Tat oder eines Wortes.
Nie war ich froher, eine Frau zu sein, denn durch all den Stoff der Kleider spürte ich seine Schläge kaum.
Doch das schlimmste an diesem Tag war die Erkenntnis, dass es Gunnar tiefer traf denn mich. Ich fand Gunnar nur kurze Zeit später, während ich schamerfüllt mein Heil in der Einsamkeit der Büsche am Flusse suchte, hinter einem stämmigen Baum sitzend, das Gesicht in den Händen vergraben. Vorsichtig und leise näherte ich mich ihm und flüsterte: „Was ist Euch, Herr Gunnar?“ Er hob sehr, sehr langsam seinen Kopf, deutlich sah ich seine feuchten Augen, die er durch ein flüchtiges Wischen mit dem Handrücken zu verstecken suchte, und sprach mit ungewohnt tiefer und fast bebender Stimme: „Bitte tut so etwas nie wieder. Lasst mich nie wieder die Hand gegen Euch erheben müssen!“ Dann erhob er sich und ging schweren Schrittes von dannen. Ich wisperte, wohl ungehört, aber voller Ernsthaftigkeit: „Ich verspreche es!“ Doch nie vergesse ich diesen Blick und nie die Tage danach, in denen er mich weder ansah noch ansprach. Mein lieber, trauriger, brummiger Gunnar!
Und mit diesen des Krieges erfahrenen, mir wohlvertrauten Herren und voller Selbstvertrauen sollte ich nun mein Glück wagen. Werden sie mir wohlgesonnen sein, selbst, wenn ich mich mal wieder in eine scheinbar ausweglose Situation begebe? Selbst, wenn ich unverrichteter Dinge zurück nach Alemannien ziehen muss, weil ich meine Freundin nicht zu finden vermag? Zweifel und Ängste fanden einen kleinen Platz in meinem Kopfe und doch wollte – nein! musste! – ich in das ferne Morgenland. Ich konnte gar nicht anders als dem Ruf Mayjidahs zu folgen und zu versuchen, sie zu finden. Komme, was da wolle!
So kam der Tag unseres Aufbruchs. Um meinen Hals trug ich eine Tasche mit den Dingen, die mir das Wichtigste waren: eine Haarsträhne der Mutter, die Noten des orientalischen Tanzes und das unglaublich große Tuch, das Geschenk Mayjidahs, dieser wunderschöne grüne Schleier.