Читать книгу Die doppelte Palme - Stefanie Wagner - Страница 9
Kapitel 1 Prolog
ОглавлениеIrgendwann zur Zeit des Avicenna, im fernen, kalten, primitiven und rückschrittlichen Alemannien, lebte eine junge Frau am Hofe des aufstrebenden Welfenkönigs Heinrich dem Löwen. Sie war zwar keine Schönheit mit ihren aschgrau-dunkelblonden Haaren, ihrer auffällig großen Nase und auch ansonsten sehr durchschnittlichen Erscheinung, dennoch strahlte sie Anmut und Liebenswürdigkeit aus und war am Hofe und beim gemeinen Volk gern gesehen.
Sie war die Tochter einer in der Küche des Schlosses tätigen Magd und man munkelte, dass diese Magd ein Liebling des Königs war. Dieser verbotenen Verbindung soll nun eben jene junge Frau entsprungen sein, deren Mutter ihr den Namen Gerlinde-Stefania gab. Die junge Frau selbst jedoch mochte den ihr gegebenen Namen nicht und nannte sich selbst fortan Stefania.
Stefania genoss nicht mehr Vorzüge am Hofe als jede andere Bedienstete, auch war ihr Leben ebenso arbeitsreich wie bescheiden. Der Zufall wollte es jedoch, dass sie als Kind im gleichen Alter war wie der jüngste Sohn des Königs, Johann, und dass diese beiden Kinder die einzigen ihres Alters im Schlosse waren. Der König entschied daher, dem Sohn Unterhaltung zu bieten und erlaubte dem Mädchen, am Unterricht und der Erziehung des Sohnes teilzunehmen und dem Sohn so nicht nur einen Spielgefährten zur Seite zu stellen, sondern auch die Unterstützung eines Gleichaltrigen bei den harten Stunden des Lernens zur Seite zu bieten. Auf diese Weise entbot er der Mutter Stefanias gleichsam die Ehre, die er ihr offiziell ob ihres Standes nicht zu geben vermochte.
Und daher lernte das Mädchen nicht nur die spanische Sprache, sondern erhielt auch eine umfassende Grundlage hinsichtlich Umgang, Benimmregeln und gutem Ton am Hofe. Während allerdings des Königs Spross die Kampfeskunst erlernte, wurde dem Mädchen die Kunst des Tanzes beigebracht.
Die Tänze des Abendlandes, so vielschichtig wie das Leben, wohl einzigartig in ihrem Umfang, dieser Ausdruck und die Leidenschaft, eine Verbindung mit anderen Tanzenden zu wollen und zu schaffen – all dies vermochte Stefania zu einer ungeahnten Freude verhelfen. Sie liebte es, sich dem Takt eines Tanzes zu ergeben, bewegte sich im Flusse der Melodien und genoss die Art, sich mit den Tänzern und den Menschen um sich herum in eine Vereinigung Aller als eine Familie von Gleichgesinnten zu begeben.
Wenn die Musiker zu spielen begannen und sich die Paare zum Tanz aufstellten, dann war ihr, als würde sie zum Leben erwachen. Sie beobachtete ihre Tanzpartner, bewegte sich im Rhythmus der Musik auf sie zu, umkreiste sie – so wie es jeder im Saale tat – und lebte in dieser Musik. Sie erfreute sich am Wechsel der Tanzpartner, ging erneut auf diese ein, lebte und lachte und genoss das Leben in diesen Momenten. Sie vergaß die Welt um sich herum, ganz umgeben von der Musik und dem Tanz, und war so vereinnahmt von Takt und Melodie, dass sie zeitweise sogar vergaß, mit einem Partner zu tanzen.
Noch konnte sie nicht ahnen, dass es mehr, bewegendere und vielschichtigere Tänze gab als die des Nordens, mit ihren Gruppentänzen, den Kreisformen, der Gasse – die sie besonders liebte -, mit ständigen Partnerwechseln, Paartänzen und all ihren Mischformen.
Das Leben am Hofe erwies sich für Stefania jedoch schnell als goldener Käfig. Die Liebe zur Freiheit und der Wunsch nach eigener Entscheidung führten sie immer weiter in das Reich der Tänze ein. Hier konnte sie vergessen, dass sie als Tochter einer Magd niemals frei von Entscheidungen anderer über ihr Leben sein würde. Da der Tanz allerdings eine brotlose Kunst war, musste sie für ihren Lebensunterhalt und die Krankenversorgung ihrer alten Mutter stets viel arbeiten. Dies tat sie wie seinerzeit schon ihre Mutter, am Hofe, denn die Gunst des Königs und seines Sohnes waren ihr stets gewiss. So kam es denn, dass sie die Freude ihres Lebens durch die Arbeit als Magd - und hin und wieder auch als Bedienstete bei der Bewirtung hochrangiger und namhafter Gäste - bestreiten konnte. Sie führte als junge Frau ein zufriedenes und ausgeglichenes Leben. Trotz ihrer Armut konnte sie von einem erfüllten Dasein sprechen: der Tanz gab ihr die Kraft!
Und dennoch sehnte sie sich nach Herausforderungen, neuen Bewegungen und neuer Musik. Sie fühlte sich unwohl, unvollständig: waren diese Wünsche etwa Anzeichen einer Tollheit, wurde sie verrückt? Gab es überhaupt andere Tänze, andere Musik und andere Welten? Sie plagte sich mit diesen Fragen Nacht für Nacht. Am Tage jedoch lebte sie ihre Tänze, genoss den Zuspruch ihrer Freunde und die Höflichkeiten, die ihr trotz ihres Standes auch von Adeligen zuteilwurden.
Sie litt bereits seit einiger Zeit unter den nächtlichen, quälenden Fragen, den vergeblichen Hoffnungen und Wünschen, als ihr vom König höchstselbst die Anfrage angetragen wurde, ob sie abkömmlich sei für eine Woche, in der der König Gastgeber werden würde für Herren des Morgenlandes! Welche Gedanken, welche Hoffnungen und welch Aufregung erfuhr Stefania da: es gab so viele Mythen um die Höfe der orientalischen Könige und Herren, die man Kalifen, Scheichs und Emire nannte und deren Geschichten sie aus ihren Büchern kannte: man sprach von Harem und Raubzügen, von unglaublichen Kenntnissen der ärztlichen Kunst, von prachtvollen Gebäuden, von Speisen, Getränken und Gerüchen, die kein ihr bekannter Mensch vorher erlebt hat. Oh, was sagte sie zu mit Freuden.
War dies doch ein Abenteuer, wie es eine Frau aus Deutschland wohl nur selten erleben konnte oder durfte.