Читать книгу Mord im Chinagarten - Stefanie Wider-Groth - Страница 11

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Selbstverständlich hatte er nicht auf dem Sofa übernachtet, dergleichen passierte ihm nur, wenn Gabi nicht da war, um ihn vor diesem Schicksal zu bewahren, und das kam, Gott sei Dank, nur selten vor. Am nächsten Morgen verließ Emmerich daher ausgeschlafen sein Heim, ging zu Fuß zum nahen Hauptbahnhof und nahm die Bahn zum Pragsattel, wo das Polizeipräsidium der Landeshauptstadt in schönster Aussichtslage über dem Stuttgarter Talkessel thronte. Sein Büro gehörte allerdings nicht zu den Räumen der Privilegierten, die diese Aussicht genießen durften, es befand sich im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Um dorthin zu gelangen, musste ein Vorzimmer passiert werden, welches das Reich seiner Sekretärin, Frau Hildegard Sonderbar, war. Über Frau Sonderbar wusste Emmerich, obwohl er seit einer unüberschaubaren Anzahl von Jahren Tür an Tür mit ihr arbeitete, wenig zu sagen. Sie war kompetent, zuverlässig und effektiv, behielt ihr Privatleben für sich und fiel im Allgemeinen nur dadurch auf, dass sie sehr genaue Vorstellungen davon hatte, wie ein von ihr regiertes Büro zu funktionieren hatte. Dazu gehörte beispielsweise, dass am Morgen Kaffee getrunken wurde. Emmerichs anfängliche Einwände, dass er bereits zu Hause ausreichend mit diesem Getränk versorgt werde, waren nach kurzer Zeit einer simplen Lösung gewichen: Er hatte sich angewöhnt, am heimischen Frühstückstisch Tee zu trinken. Ähnlich war es ihm ergangen, als er Frau Sonderbar seine ersten Diktate auf ein dafür vorgesehenes Gerät gesprochen hatte. Ein menschliches Wesen sei kein Teddybär, hatte Frau Sonderbar erklärt, und von der Schöpfung nicht dafür ausersehen, mit einem Knopf im Ohr zu arbeiten. Stattdessen notierte sie Emmerichs Ausführungen in Kurzschrift oder Stenografie, wohl wissend, dass sie eine der Letzten war, die diese Fertigkeit noch beherrschten. Meist jedoch diktierte Emmerich gar nichts, sondern gab nur ein paar Stichworte von sich, die Frau Sonderbar in sorgfältig ausformulierte Schriftstücke verwandelte. Auch heute war die Sekretärin, wie fast immer, bereits vor Emmerich im Büro eingetroffen, doch sie saß nicht, wie gewöhnlich, hinter ihrem Schreibtisch. Das Vorzimmer befand sich in einem Zustand befremdlicher Unordnung. Mehrere mit Akten und Papieren gefüllte Kartons, alte Karteikästen sowie eine erkleckliche Anzahl von Ordnern waren auf dem Boden verteilt. Frau Sonderbar, in einem warmen, dunkelgrauen Rock und einem Twinset aus rostroter Wolle, stand dazwischen und starrte nachdenklich auf den ausgeräumten Schrank, in dem diese Dinge wohl normalerweise verwahrt wurden.

„Suchen Sie was?“, fragte Emmerich erstaunt, seinen üblichen Morgengruß vergessend.

„Herr Hauptkommissar“, sagte Frau Sonderbar zerstreut. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören.“

„Das sehe ich.“

„Bitte verzeihen Sie, ich räume gleich wieder alles auf. Es ist nur … ich dachte, es müsste noch ein altes Plakat irgendwo sein.“

„Was denn für ein Plakat?“

„Von diesem Mann.“

„Sie haben mal Männer auf Plakaten gesammelt? Den Starschnitt von Rex Gildo womöglich? Oder den von Roy Black?“

Vor Emmerichs innerem Auge erschien das Bild eines jugendlichen Fräulein Sonderbar in himmelblauem Twinset und einem schwingenden, hellen Rock.

„Sie glauben, ich würde etwas Derartiges im Büro aufbewahren?

„Nein“, räumte Emmerich ein. „Wahrscheinlich nicht. Um welchen Mann also geht es?“

„Um den unbekannten Toten aus der Pathologie. Mir ist, als hätte ich dieses Gesicht schon einmal gesehen. Auf einem alten Fahndungsplakat. Da war er natürlich noch jünger.“

„Auf alten Fotos sehen die Leute immer jünger aus, da ist was dran“, nickte Emmerich bestätigend. Frau Sonderbar warf ihm einen geduldigen Blick über den Rand ihrer Brille hinweg zu, der in etwa besagte, dass Scherze unangebracht waren.

„Ich finde es nicht. Das Plakat.“

„Macht nichts“, entgegnete Emmerich zuvorkommend. „Wenn wir ihn in der Fahndung haben, sollten auch seine Fingerabdrücke im Computer sein. Dann haben wir ihn ohnehin demnächst identifiziert. Und lassen Sie sich Zeit mit dem Aufräumen, heute liegt nichts Eiliges an.“

Frau Sonderbar wuchtete einen Karton zurück in den Schrank.

„Das stimmt nicht. Erstens will Dr. Zweigle Sie gleich sprechen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn er durch ein Büro in diesem Zustand gehen müsste.“

„Er wird es überleben. Und zweitens?“

„Zweitens haben wir eine Sonderkommission im Haus. Im Heusteigviertel wurde eine Prostituierte erstochen.“

„Bin ich eingeteilt?“

„Nicht, dass ich wüsste. Sie hatten doch Urlaub. Aber ich muss möglicherweise …“

„Sie müssen gar nichts“, brummte Emmerich und dachte, dass das wieder einmal typisch war. Tagelang nur Schreibkram und wenn etwas Interessantes passierte, musste er natürlich gerade frei haben und sich anschließend mit einem mutmaßlichen Suizid herumschlagen.

„Sagte Zweigle, was er will?“

„Nur, dass es um den unbekannten Toten geht.“ Frau Sonderbars Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. „Bestimmt ein unentdeckter Mord. Herr Dr. Zweigle schreibt Bücher darüber“.

„Man kann keine Bücher über etwas schreiben, was noch gar nicht entdeckt wurde“, belehrte Emmerich seine Sekretärin. „Von Außerirdischen vielleicht abgesehen.“

„Möglicherweise ist der Titel ein wenig irreführend. Aber der erste Band war sehr spannend. Und er ist immerhin Arzt.“

„Seit wann lassen Sie sich von akademischen Graden beeindrucken?“ Emmerich nahm ebenfalls einen Karton und sah Frau Sonderbar argwöhnisch an. „Wo muss das hin?“

„Hier oben, wenn Sie so freundlich sein wollen. Und es ist nicht der akademische Grad, sondern die fachliche Kompetenz, die …“

„Morgen allerseits.“ Zweigle stand in der Tür, gekleidet in eine beige Stoffhose und einen ebensolchen Pullover mit V-Ausschnitt, aus dem der Kragen eines weißen Hemdes hervorsah. Das passende Sakko dazu hing ihm am angewinkelten Zeigefinger über der Schulter.

„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen“, sagte Zweigle und ließ seinen Blick über die ausgebreiteten Akten und Papiere wandern.

„Aber nein“, flötete Frau Sonderbar und lief zu Emmerichs grenzenloser Überraschung zartrosa an. „Gehen Sie nur durch, ich bringe gleich den Kaffee.“

„Danke.“ Zweigle stieg elegant über ein Häuflein Ordner. „Um diese Zeit trinke ich höchstens einen Kräutertee. Machen Sie sich keine Umstände, es dauert nicht lange. Ist das Ihr Büro?“ Er nickte Emmerich zu und wies auf die Tür zu dessen Zimmer.

„Mmh.“ Emmerich warf einen letzten beunruhigten Blick auf Frau Sonderbar, die ungewohnt nervös wirkte. Was, um alles in der Welt, mochte in seine sonst von Mord und Totschlag meist unberührt bleibende Sekretärin gefahren sein? „Kommen Sie rein.“

Er öffnete die Tür, schaltete das Licht ein, rückte für Zweigle einen der beiden Besucherstühle zurecht und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Sein eigener Stuhl gab dabei ein leises Ächzen von sich.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Es fragt sich, wer hier was für wen tut, nicht wahr? Ich zum Beispiel habe gestern Abend noch ein wenig nachgeforscht, was den unbekannten Toten angeht.“ Zweigle schlug eines seiner exquisit behosten Beine über das andere und wippte mit dem Fuß, der in einem teuer aussehenden Slipper steckte.

„Und?“, fragte Emmerich, ohne eine Miene zu verziehen. Er hörte sehr wohl heraus, dass ihm seine gestrige Eile, mit der er dem vermeintlichen Sauerbraten entgegengestrebt war, immer noch verübelt wurde, verspürte aber wenig Lust, hierauf einzugehen. Zweigle spitzte die Lippen und sah angelegentlich zum Fenster hinaus.

„Ich habe noch einmal mit einem der Sanitäter gesprochen, die den Mann ins Katharinenhospital gebracht haben. Und auch mit dem behandelnden Kollegen.“

„Mit welchem Ergebnis?“

„Der Sanitäter bestätigte meine Vermutung, dass die Kleidung des Toten relativ trocken war. Erinnern Sie sich an das Wetter am Karfreitag in der Frühe?“

„Sicher nicht“, entgegnete Emmerich bräsig. „An Feiertagen pflege ich auszuschlafen.“

„Ihr Fehler“, meinte Zweigle und grinste spöttisch. „Das Wetter jedenfalls war schlecht. Feucht, regnerisch und sehr kalt. Trotzdem war der Mann nicht unterkühlt. Er kann also noch nicht besonders lange dagesessen haben.“

„So“, sagte Emmerich, dem nichts Besseres einfiel.

„Der Kollege, der den Magen auspumpte“, fuhr Zweigle behaglich fort, ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden, „wies mich darauf hin, dass am Vorabend ein reichliches Mahl eingenommen worden sein muss. Bedauerlicherweise steht der Inhalt dieses Magens nicht mehr zur Verfügung.“

„Das hatten Sie, glaube ich, bereits erwähnt.“ Emmerich spürte nun selbst ein leichtes Unwohlsein in der Magengegend. Er schob das wenig appetitliche Bild einer schleimigen, bräunlichen Masse, das sich in seiner Vorstellung formen wollte, energisch beiseite, schluckte und fragte:

„Was genau wollen Sie mir denn nun eigentlich mitteilen?“

Zweigle drehte den Kopf und sah Emmerich direkt in die Augen.

„Halten Sie es für wahrscheinlich, dass ein Obdachloser ein opulentes Abendessen einnimmt, es mit reichlich Alkohol hinunterspült, um dann in aller Herrgottsfrühe den chinesischen Garten aufzusuchen und dort eine Überdosis Ipnoral einzunehmen?“

„Für wahrscheinlich nicht“, entgegnete Emmerich und erwiderte trotzig den etwas starren Blick des Doktors. „Aber wissen Sie, man hat auch schon Elefanten kotzen sehen.“

Zweigle ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

„Ich denke, der Mann war keinesfalls ein Obdachloser. Vermutlich war er auf irgendeiner Feier. Soviel ich weiß, gibt es in der Gegend dort einige Häuser von Studentenverbindungen. Vielleicht sollten Sie da mit Ihren Nachforschungen beginnen.“

„Ich kann das überprüfen lassen“, sagte Emmerich, um einen neutralen Ton bemüht. Das Letzte, was er seiner Meinung nach brauchen konnte, war ein bücherschreibender Pathologe, der ihm Ratschläge erteilte, wie er einen Fall anzugehen hatte.

„Ferner wollte ich Sie davon in Kenntnis setzen“, sprach Zweigle fußwippend weiter, „dass im Katharinenhospital noch Blut abgenommen wurde, bevor der Mann verstorben ist.“

„Ja, und?“

„Ich habe mir erlaubt, das Blutbild anzufordern. Es wäre möglich, dass sich daraus weitere relevante Sachverhalte ergeben.“

„Sie werden mir sicher berichten, wenn es so weit ist.“

„Heute Nachmittag, wie ich hoffe. Sind Sie mit der Identifizierung Ihres Mannes schon weitergekommen?“

„Er ist nicht mein Mann“, sagte Emmerich kurz angebunden. „Wie ein Student sieht er auch nicht gerade aus. Und nein, sind wir nicht. Sonst noch etwas?“

„Sie gehören offensichtlich zu den Morgenmuffeln.“ Zweigle lächelte süffisant und erhob sich. „Ich nehme an, Sie sind gegen später besser in Form. Sie hören von mir.“

***

Elke Bofinger räumte das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine, öffnete das Küchenfenster und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Mutter mochte es nicht, wenn im Haus geraucht wurde, aber es war, weiß Gott, zu kalt geworden, um auf die Terrasse zu gehen. Elke wollte nachdenken, und das Nikotin half ihr dabei. Viel Zeit blieb ihr ohnehin nicht, bevor sie sich auf den Weg ins Büro zu machen hatte. Sie hasste dieses Büro fast ebenso sehr wie ihre gleichförmige Arbeit am Bildschirm und am Telefon im Kundencenter einer großen Bank. Sie hasste den Geruch in diesem Büro, wo auf jedem Schreibblock, auf jeder Kaffeetasse das Logo ihres Arbeitgebers prangte und wo man wegen der Klimaanlage selbst im Hochsommer kein Fenster öffnen durfte. Der einzige Unterschied zu einem Gefängnis, fand Elke, bestand darin, dass man das Büro wenigstens über Nacht und an den Wochenenden verlassen durfte. An manchen Tagen hasste sie sogar ihre immer und überall „Mahlzeit“ rufenden Kollegen und fand lediglich Trost in dem Wissen, dass es vielen von ihnen nicht anders erging. Elke machte sich längst keine Illusionen mehr. Vor kurzem hatte sie ihr fünfundvierzigstes Lebensjahr vollendet, einen anderen Job würde sie nicht mehr finden. Bestenfalls verbrachte sie noch weitere fünfzehn, schlimmer noch zwanzig Jahre Tag für Tag in diesem Büro und verkaufte ihre knapper werdende Lebenszeit für ein allenfalls mittelmäßig zu nennendes Salär, während sich in den Etagen darüber Männer in dunklen Anzügen Millionen in die Taschen schaufelten. Wie anders hatte sie sich dieses Leben einmal vorgestellt, damals, vor fünfundzwanzig Jahren nach dem Abitur und später an der Universität oder in den Ferien mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Daumen im Wind, kreuz und quer unterwegs auf der Welt. Doch dann war Kai gekommen, statt eines abgeschlossenen Studiums hatte sie Geld verdienen müssen für sich und das Kind, denn Kais Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, kaum dass er von der Schwangerschaft erfuhr. Und nun, nach all den langen Jahren, war kurz vor Ostern ein Brief von ihm gekommen. Elke hatte die Handschrift auf dem Umschlag sofort erkannt, aber drei Tage gezögert, ihn zu öffnen, bis sie sich schließlich am Abend des Ostermontags ein Herz gefasst hatte.

Hallo, meine Kleine – falls ich dich noch so nennen darf, begann dieser Brief. Du wirst es seltsam finden, nach all der Zeit von mir zu hören. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es nicht besonders nett von mir war, dich damals mit dem Kind einfach alleine zu lassen. Ich hatte allerdings meine Gründe, die mich zwangen, so zu handeln. Seit einigen Tagen bin ich zurück in Stuttgart, möchte aber immer noch vorsichtig sein. Natürlich würde ich es verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Dennoch würde ich gerne unser Kind, von dem ich nicht einmal weiß, ob es ein Sohn oder eine Tochter ist, wenigstens einmal sehen. Selbst wenn es nur von weitem ist. Vielleicht ist es mir auch möglich, einiges wiedergutzumachen. Wenn du Kontakt mit mir aufnehmen möchtest, schicke eine Mail an die umseitige Adresse.

Der Brief trug keine Unterschrift, sondern war nur mit einer kleinen, stilisierten Schlange signiert. Auch auf dem Umschlag fehlte der Absender, doch Elke wusste, von wem er kam. Was sie nicht wusste, war, ob sie auf das Ansinnen des Schreibers eingehen sollte. Kai, der die Osterferien mit ein paar Kumpels irgendwo beim Snowboarden in den Bergen verbrachte, hatte sich längst daran gewöhnt, seinen Vater nicht zu kennen. Sie hatte sich daran gewöhnt, den Sohn alleine großzuziehen. Und Kais Vater war in ihrer Familie stets ein Tabu gewesen. War es sinnvoll, an dieser Situation etwas zu ändern? Oder nahm sie Kai, der ohnehin erst am folgenden Sonntagabend zurückerwartet wurde, etwas weg, wenn sie den Kontakt zu seinem Erzeuger erst gar nicht versuchte? Sie fand keine zufriedenstellenden Antworten auf diese Fragen und kannte auch niemanden, den sie um Rat fragen wollte.

„Elke“, rief Rosemarie Bofinger aus dem Wohnzimmer. „Komm doch bitte noch einmal kurz herein, bevor du gehst.“

„Gleich, Mama.“ Sie drückte die Zigarette zwischen ein paar erfrorenen Stiefmütterchen im Blumenkasten vor dem Fenster aus, warf den Stummel in den Mülleimer, setzte die Spülmaschine in Gang und ging hinüber. „Was ist denn noch? Ich muss los.“

„Zwei Minuten wirst du wohl für mich altes Weib noch übrig haben.“

Ihre Mutter stand am Esstisch vor dem schweren, alten Buffet aus dunklem Holz und deutete auf eine aufgeschlagene Zeitung. Elke warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile des Lokalteils.

„Rettungsdienste fordern mehr Fahrzeuge“, las sie irritiert. „Was geht uns das an?“

„Nicht dies hier“, sagte Rosemarie ungeduldig. „Da unten. Das Foto.“

„Wer kennt diesen Mann?“ Elke sah das schwarz-weiße Bild an und fühlte, wie ihr schwindelig wurde. „Ich muss weg, Mama“, würgte sie heraus, griff hastig nach ihrer Tasche und stürzte geradezu panikartig aus dem Haus.

„Ts…Ts…Ts“, machte Rosemarie Bofinger und sah ihrer Tochter versonnen hinterher. „Dachte ich mir’s doch.“

***

Emmerich starrte die Tür an, die Zweigle gerade hinter sich geschlossen hatte und ärgerte sich. Er hatte doch glatt vergessen, nach dem Namen des Arztes zu fragen, der den Magen des Unbekannten ausgepumpt hatte. Außerdem war er fest entschlossen, alles daranzusetzen, dass dieser Fall, sollte es sich dabei tatsächlich um einen Mord handeln, unter keinen Umständen Eingang in des Doktors zweiten Band finden würde. Nachdenklich kaute er auf einem Bleistift herum und betrachtete die Fotos des Toten, die ihm Frau Sonderbar in einer Mappe auf dem Schreibtisch bereitgelegt hatte. Ein bisschen freakig sah der Mann aus. Emmerich schätzte ihn auf ungefähr Mitte fünfzig. Welcher normale Durchschnittsbürger konnte es sich in diesem Alter noch leisten, eine schulterlange Matte auf dem Kopf zu tragen? Ganz abgesehen davon, dass den wenigsten Männern über fünfzig eine solche Haarpracht überhaupt vergönnt war. Ähnliches galt für den Vollbart. Niemand, der sich im deutschen Berufsalltag behaupten musste, trug heutzutage einen Vollbart. Ein Selbstständiger vielleicht, überlegte Emmerich. Oder ein Künstler. Und wenn’s auch nur ein Lebenskünstler ist. In Zweigles beiliegendem Obduktionsbericht waren, neben den bereits bekannten Fakten, auch besondere Merkmale erwähnt und fotografisch festgehalten. Ein Muttermal links über dem Steiß und eine Tätowierung in Schlangenform am rechten Oberarm. Der Ringfinger der linken Hand wies die charakteristische Einkerbung auf, die ein Mensch davontrug, der an dieser Stelle ein Leben lang einen Ring getragen hatte. Vom Ring selbst aber fehlte jede Spur. Die Kleidung des Toten war der kriminaltechnischen Untersuchung überstellt worden. Beim Betrachten seines Gesichtes stellte Emmerich sich darunter unwillkürlich ein Batikhemd, Schlaghosen und Sandalen, die man früher „Jesuslatschen“ genannt hatte, vor. Oder Clogs. Mit zentimeterhohen Sohlen aus Holz und Nieten aus Metall, wie sie in den 70er-Jahren modern gewesen waren, ebenso wie …

„Morgen“. Mirko Frenzel schlich auf Zehenspitzen ins Büro und schloss behutsam die Tür hinter sich. „Was ist bei Frau Sonderbar passiert? Zieht ihr um oder so?“

„Was?“ Emmerich schreckte aus einer Gedankenfolge, in der Led Zeppelin, Hagebuttentee und Marihuana eine Rolle gespielt hatten, auf.

„In ihrem Büro sieht es ein bisschen … hm … chaotisch aus.“

„Ach wo. Sie sucht nur ein altes Fahndungsplakat.“

„Wozu das denn? Hat sie Dienstjubiläum?“

„Du bringst mich auf Sachen. Nein, sie denkt, sie hätte unseren Toten früher mal auf einem gesehen.“

„Unwahrscheinlich.“ Frenzel setzte sich auf den Stuhl, den Zweigle kurz vorher verlassen hatte. „Seine Fingerabdrücke sind nicht in unseren Computern. Einen Hinweis haben wir aber trotzdem.“

„Hat sich jemand gemeldet?“

„Gerade eben. Eine Frau hat angerufen. Wollte ihren Namen nicht nennen. Das Gesicht in der Zeitung könnte jemanden gehören, den sie vor Jahren einmal gekannt hat. Ein gewisser Peter Nopper. Vermisst wird niemand, der so heißt. In Stuttgart gemeldet ist er auch nicht.“

„Toll“, sagte Emmerich deprimiert und dachte, dass die Mitglieder der Sonderkommission womöglich doch den interessanteren Part erwischt hatten. „Das bedeutet tagelange Wühlarbeit in Melderegistern und Archiven.“

„Vielleicht nicht.“ Mirko setzte ein leicht überlegenes Grinsen auf. „Die Stimme klang schon älter. Und die Nummer der Anruferin war auf meinem Display. Wahrscheinlich hat sie nicht bedacht, dass sie sich so verraten hat. Spätestens heute Nachmittag wissen wir, woher der Anruf kam.“

„Klingt schon besser“. Emmerich spürte das altvertraute Gefühl des Fuchses, der die Fährte aufnahm, in sich keimen. „Ich mach dann noch meinen Schreibkram und …“

„Nee“, sagte Frenzel. „Du kommst mit zu Frau Schloms.“

„Sackzement. Das kann doch jemand anderes …“

Frenzel schüttelte den Kopf.

„Nein. Die Kollegen sind alle in der Sonderkommission. Du musst dich schon selbst bemühen.“

Emmerich knallte den Bleistift auf seine Schreibunterlage und stand auf.

„Aber du fährst.“

Mord im Chinagarten

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