Читать книгу Mord im Chinagarten - Stefanie Wider-Groth - Страница 16
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Оглавление„Nein, Ihre Scheckkarte ist nicht kaputt“, sprach Elke Bofinger geduldig in ihr Headset, während sie am Bildschirm die Kontodaten der Kundin ansah. Vier Abbuchungen von Schuhgeschäften in der Woche vor Ostern. Zwei von teuren Boutiquen in der Königstraße, deren Schaufensterauslage Elke keine Beachtung schenkte, da der Inhalt für sie unerschwinglich war. Außerdem eine Zahlung an einen der großen Discounter über annähernd zweihundert Euro.
„Ich konnte aber kein Geld damit abheben“, beschwerte sich die Anruferin in unfreundlichem Ton.
„Das liegt an Ihrem Konto. Der Kreditrahmen beträgt zweitausend Euro. Sie haben bereits um zweitausendfünfhundert überzogen.“
Für einige Sekunden herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, dann brach ein Sturm über Elke herein.
„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Das ist doch die Höhe. Eine derartige Knauserigkeit ist mir ja noch nie untergekommen. Was sind denn fünfhundert Euro? Sie sind eine Bank. Sie verleihen Geld. Davon leben Sie, Sie …“
Mein Kopf. Elke nahm das Headset ab, legte es vor sich auf den Tisch und massierte sich müde die Schläfen. Ich muss hier raus. Das Zetern ihrer Kundin drang wie das Summen eines lästigen Insekts aus dem kleinen Lautsprecher und ebbte nur langsam ab. Elke wartete, bis sie etwas hörte, das wie „Sind Sie überhaupt noch dran?“ klang, und hielt den Hörer wieder ans Ohr.
„Sicher bin ich noch dran. Ich werde Ihre Beschwerde weiterleiten, mehr kann ich nicht für Sie tun. Warum sprechen Sie nicht mit Ihrem Kundenbetreuer auf der Filiale?“
„Das habe ich schon. Wollen Sie wissen, was der mich kann, der Kundenbetreuer?“
„Nein, danke. Einen schönen Tag noch.“ Kurz entschlossen unterbrach Elke die Verbindung. Man hatte ihr in Seminaren und Schulungen beigebracht, auch in schwierigen Gesprächssituationen freundlich zu bleiben, doch in der Praxis hatte sie gelernt, dass Freundlichkeit in solchen Fällen ein anderes Wort für Zeitverschwendung war. Sollte sie doch wieder anrufen, die Dame, und die Nerven eines anderen Kollegen strapazieren, ihre waren ohnehin schon bis zum Zerreißen gespannt. Elke schaltete den Bildschirm aus, verteilte unauffällig etwas Speichel auf Stirn und Wangen, nahm ihre Handtasche und ging durch das Großraumbüro zum Tisch ihrer Chefin.
„Ich habe Durchfall und schwitze ungewöhnlich stark“, verkündete sie mit matter Stimme. „Das Norovirus soll herumgehen.“
„Der fehlt uns hier gerade noch.“ Die Chefin warf einen flüchtigen Blick auf Elkes feucht glänzendes Gesicht. „Machen Sie, dass Sie nach Hause kommen. Ich will Sie für den Rest der Woche nicht mehr sehen.“
Elke nahm den Aufzug nach unten. Am Norovirus, so hatte sie gelesen, erkrankte man kurz und heftig, nach einem Tag war der Spuk bereits wieder vorbei. Die Krankmeldung würde sie nachträglich besorgen müssen. Ein überaus praktisches Virus, dachte sie beschwingt, als sie, mit der Aussicht auf dreieinhalb zusätzliche Urlaubstage, die Bank verließ. Was sie nun brauchte war ein Plan. Elke ging zum Hauptbahnhof und kaufte sich eine Tageszeitung.
***
„Nette Wirtschaft.“ Emmerich zog sich angelegentlich die Hose nach oben und verließ hinter Frenzel das Abklatsch. „Kommst du öfter her?“
„Ab und zu. Mindestens einmal im Jahr am schmotzigen Donnerstag. Da steppt hier der Bär.“
„Du stehst auf Fasching?“
Frenzel angelte den Autoschlüssel aus der Hosentasche und sperrte den Wagen auf.
„Es heißt Fasnet. Nicht Fasching. Fasching ist in Bayern, wir sind in Schwaben.“
„Kann ich nichts mit anfangen. Stuttgart ist protestantisch, wir waren noch nie eine Karnevalshochburg.“
„Die Zeiten ändern sich. Mit Religion hat das doch schon lange nichts mehr zu tun. Hauptsache, Party.“
„Party geht auch ohne Fasching.“
Über das Wagendach hinweg sah Emmerich, wie Frenzel die Augen verdrehte, bevor er einstieg. Er denkt, was weiß der alte Sack schon, nahm er an. Vor nahm er sich dagegen, Jule bei Gelegenheit zu fragen, ob der alljährliche Mummenschanz bei der heutigen Jugend ein höheres Ansehen genoss, als zu seiner Zeit.
„Wohin jetzt?“, wollte Frenzel wissen und startete den Motor.
„Hotel Sieber. Tübinger Straße.“
Sie durchquerten die Tunnelröhre unter den Berger Sprudlern und landeten im Stau.
„Willst du Radio hören?“, fragte Frenzel gelangweilt.
„Nö.“
„CD?“
„Muss nicht sein.“
„Weißt du, was das für ein Zeichen ist? Da vorne, auf dem Kofferraum von dem Golf?“
Emmerich äugte träge durch die Windschutzscheibe. Er hatte sich eine ungewohnt große Portion paniertes Schnitzel mit Pommes vollständig einverleibt und fühlte sich ein wenig schlapp.
„Ein Reiher? Ein Geier? Warum sollte ich das wissen?“
„Weil mir aufgefallen ist, dass in letzter Zeit immer mehr Autos mit diesem Vogelzeichen unterwegs sind.“
„Neumodisches Zeug halt. Vor dreißig Jahren hatten alle einen Kleber von Sylt hinten drauf. Das hat so ähnlich ausgesehen.“
„Du kannst doch Sylt nicht mit einem Vogel vergleichen.“ Frenzel rückte ein paar Meter vor.
„Mach ich ja nicht. Ich meinte nur, dass ein Kleber aussieht, wie der andere. Stell das Blaulicht auf’s Dach, mir dauert das hier zu lange.“
„Ich finde, er sieht aus, wie ein Adler. Und irgendwas hat er bestimmt zu bedeuten.“
Eine Viertelstunde später quetschte Frenzel den Wagen in der Tübinger Straße vor ein Tor, auf dem „Einfahrt freihalten“ stand. Das Hotel Sieber lag ein paar Schritte weiter, eine nüchterne, einstmals vielleicht freundlich gelbe Fassade, die im Lauf der Jahre durch die Abgase des Straßenverkehrs einen schmuddeligen Grauton angenommen hatte.
„Nicht unbedingt ein Fünf-Sterne-Haus“, meinte Emmerich und öffnete die Tür aus dunklem Rauchglas. Dahinter herrschte eine etwas altmodische, überraschenderweise aber sehr gediegene Atmosphäre. Ein mit Messingstangen befestigter, roter Läufer führte einige Stufen hinauf zu einer kleinen Rezeption. Hinter dem Tresen stand ein ernst aussehender junger Mann mit sorgfältig gescheiteltem, kurzem Haar.
„Was kann ich für Sie tun?“
Emmerich zeigte seinen Ausweis und stellte sich vor.
„Haben Sie uns angerufen? Wegen des Fotos in der Zeitung?“
Für den Bruchteil einer Sekunde verschwand das professionelle Lächeln aus dem ansonsten ausdruckslosen Gesicht des jungen Mannes.
„Nicht ich“, sagte er, sich sofort wieder in der Gewalt habend. „Der Herr Direktor. Einen Augenblick, ich lasse ihn rufen.“ Er griff zu einem Telefon und wandte sich ab. Emmerich sah sich in den etwas beengt wirkenden Räumlichkeiten um. Links von der Rezeption gab es eine Glastür mit Streifen und der Aufschrift „Frühstückszimmer“, daneben einen Treppenabgang mit WC-Symbolen. Rechts standen dunkelgrüne Ledersesselchen paarweise um Tischchen gruppiert, die kleine, gefältetelte Stehlampen trugen. Das einzige Fenster war mit einem schweren, ebenfalls dunkelgrünen Samtvorhang verhängt. Zwischen den Sesselchen und der Rezeption entdeckte Emmerich eine Aufzugtür, deren Alter er auf mindestens vierzig Jahre schätzte. Das Hotel Sieber schien kein besonders großes Haus zu sein. Frenzel räusperte sich und wollte etwas sagen, doch im selben Moment öffnete sich die Aufzugtür. Heraus trat ein hochgewachsener, stattlicher Mann in mittleren Jahren und einem dunklen Anzug, der zielstrebig auf die Kommissare zukam.
„Herr Sieber?“, fragte Emmerich höflich.
„Aber nein“, entgegnete der Mann, auf die gleiche, professionelle Weise lächelnd wie der Portier. „Siebers gibt es hier schon lange keine mehr. Mein Name ist Hoffmann. Wollen Sie nicht Platz nehmen?“
„Sie sagten am Telefon, der Mann aus der Zeitung habe bei Ihnen gewohnt. Eigentlich würden wir lieber das Zimmer sehen.“
„Das Zimmer?“ Herr Hoffmann wirkte ein wenig irritiert. „Ich dachte, Sie würden seine Sachen abholen.“
„Soll das heißen, seine Habseligkeiten befinden sich nicht mehr im Zimmer?“
„Also, das ist …“, sagte Hoffmann und sah verlegen zu Boden, „es … wie soll ich sagen … wir sind ein gut gebuchtes Haus. Wir konnten schließlich nicht wissen, ob der Herr wieder kommt oder nicht.“
„Mit anderen Worten“, warf Frenzel ein, „Sie haben das Zimmer geräumt und an einen anderen Gast vergeben.“
„Richtig.“ Hoffmann lächelte erleichtert.
„Wann war das?“
„Gestern … hm … Abend. Der Herr hatte das Zimmer seit vier Nächten nicht mehr benutzt.“
„Aber bezahlt?“, wollte Emmerich wissen.
„Bis Ostermontag. Sein Koffer steht in meinem Büro.“
„Und Sie sind sicher, dass Ihr Gast der Mann aus der Zeitung war?“
„Oh, ja.“ Hoffmann rieb sich die Hände und sah abwechselnd Emmerich und Frenzel an. „Ein solches Gesicht vergisst man nicht. Mit diesen Haaren. Diesen … äh … langen Haaren.“
„Na, schön.“ Emmerich ging zu einem der Sesselchen und setzte sich hinein. „Dann zeigen Sie uns mal die Anmeldung. Den Koffer nehmen wir dann mit.“
Hoffmann beugte sich leicht über den Tresen der Rezeption, erteilte flüsternd einige Anweisungen und kehrte mit einem Blatt Papier zurück. Der junge Mann ging zum Aufzug.
„Hier“, sagte Hoffmann und legte das Papier vor Emmerich auf das Tischchen. „Michael Ford aus Kalifornien, USA. Eingecheckt am Montag vergangener Woche. Vorausbezahlt für sieben Übernachtungen.“
„Ford?“, fragte Frenzel und sah Emmerich verblüfft an. „Warum Ford?“
„Warum nicht?“ Emmerich warf Frenzel einen warnenden Blick zu und wandte sich wieder an den Direktor. „Der Mann war also Amerikaner? Haben Sie selbst mit ihm gesprochen?“
„Nur ein- oder zweimal. Ich gehe beim Frühstück immer durch und erkundige mich bei den Gästen, ob alles in Ordnung ist.“
„Sprach Mr. Ford Deutsch?“
„Ein wenig, glaube ich.“
„War er zufrieden?“
„Er hat nichts Gegenteiliges gesagt.“
„Wissen Sie, warum er hier war?“
„In Stuttgart, meinen Sie? Oder in meinem Hotel?“
„Sie dürfen mir gerne beides beantworten.“
„Das kann ich nicht. Wir fragen unsere Gäste nicht nach dem Zweck ihres Aufenthaltes.“
„Natürlich.“ Emmerich setzte ein kumpelhaftes, aber ebenfalls professionelles Lächeln auf. „Das geht Sie ja schließlich auch nichts an, richtig?“
Hoffmann nickte und sagte nichts.
„Wer hat das Zimmer geräumt?“
„Ein Zimmermädchen.“
„Können wir mit der Frau sprechen? Ist sie im Haus?“
Hoffmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf.
„Jetzt sicherlich nicht. Und auch sonst weiß ich nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Wir haben den Zimmerservice fremdvergeben. Die Firma schickt uns nicht immer die gleichen Damen.“
„Soll heißen, Sie können mir nicht sagen, wer Mr. Fords Siebensachen zusammengepackt hat?“
Hoffmann strahlte und bleckte ein unnatürlich weißes Gebiss.
„Ich fürchte, nein.“
„Was für Leute steigen denn gewöhnlich bei Ihnen ab? Touristen? Geschäftsreisende?“
Aus den Augenwinkeln beobachtete Emmerich, wie Frenzel über den unbewachten Rezeptionstresen äugte, allem Anschein nach aber, ohne etwas Interessantes zu entdecken.
„Von allem etwas“, erklärte Hoffmann. „Aber die meisten Gäste kommen zur Fortbildung her.“
Ein leises, metallisches Geräusch ertönte, der junge Mann trat mit einem schäbigen Koffer in der Hand aus dem Aufzug und musterte Frenzel argwöhnisch.
„Da hätten wir es ja“, sagte Hoffmann ölig. „Dies ist Mr. Fords Gepäck.“
Emmerich stand auf.
„Schreiben Sie meinem Kollegen bitte noch den Namen von der Zimmerbetreuungsfirma auf. Und die Nummer, die Mr. Ford bewohnte.“
„Aber gerne.“ Hoffmann erhob sich ebenfalls. „Ich hoffe, ich konnte Ihnen behilflich sein.“
„Seltsamer Laden“, sagte Emmerich nachdenklich, als sie wieder auf der Straße standen. Um den Wagen mit dem Blaulicht auf dem Dach hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die lautstark diskutierte.
„Seltsamer Name“, entgegnete Frenzel. „Wieso heißt er plötzlich Ford und ist Amerikaner?“
„Abwarten.“ Emmerich ließ seinen Blick über die Versammlung gleiten und wandte sich an einen kleinen Mann im blauen Anton, der ruhig wartend dastand.
„Was gibt es hier Besonderes?“
„Nigt wisse. Nur warte, bis Ausfahrt frei.“
„Wird gleich so weit sein.“ Emmerich ging zur Beifahrertür und öffnete sie. Die Diskussion verstummte abrupt.
„So“, sagte eine grauhaarige Frau entschlossen. „Sie sind also die Polizei.“
„Höchstpersönlich“, nickte Emmerich.
„Und? Haben Sie etwas herausgefunden?“
„Wir finden immer etwas heraus. Deshalb sind wir die Polizei.“
„Wollen Sie uns verarschen?“
Emmerich musterte die Frau und ihre fünf oder sechs Mitdiskutanten erstaunt.
„Das liegt nicht in meiner Absicht. Ich rate Ihnen allerdings, aufzupassen, was Sie sagen und zu wem.“
„Soll das heißen, Sie unternehmen nichts?“
„Wogegen denn?“
„Gegen die Bande da“, mischte sich eine zweite Frau ein und zeigte auf ein silbermetallenes Schild, das an der rechten Seite der Hofeinfahrt angebracht war. „Im Hinterhaus.“
„Ihr Hinterhaus ist nicht Gegenstand unserer Ermittlungen, gnädige Frau“, entgegnete Emmerich freundlich, aber bestimmt, und warf einen flüchtigen Blick auf das Schild. Unter einem Symbol, das er bereits kannte, stand: Schulungszentrum der GBP. „Wenn Sie damit ein Problem haben, dann bringen Sie es zur Anzeige. Und jetzt machen Sie bitte den Weg frei.“
Er stieg ins Auto, hörte noch, wie eine der Frauen „Nicht zu fassen“ rief, und zog die Tür zu. Frenzel saß bereits hinter dem Lenkrad und manövrierte den Wagen zurück auf die Straße.
„Was war denn?“, wollte er wissen.
„Keine Ahnung. Eine Bande im Hinterhaus. Nicht, dass uns das etwas angehen würde, aber ich weiß jetzt wenigstens, was das komische Vogelzeichen bedeutet.“
„Tatsächlich?“
„Es ist das Symbol einer dieser Kleinstparteien. FBP oder so ähnlich. Sie haben da ein Schulungszentrum.“
„Und damit haben die Leute ein Problem?“
„Was weiß denn ich?“ Emmerich schnaubte ungehalten. „Wir sind nicht unterwegs, um Meinungsverschiedenheiten in Hinterhäusern zu klären.“
Frenzel warf seinem Vorgesetzten einen spöttischen Seitenblick zu.
„Wo wir doch die Polizei sind“, sagte er ironisch. „Kennst du noch das Lied?“
„Welches Lied?“
„Eins, zwei drei“, trällerte Frenzel. „Wo bleibt die Polizei …“
„Klar, kenne ich das. Aber du? Das gehört doch in den fossilen Bereich der Rockgeschichte.“
„Vielleicht ist’s ja auch ein Klassiker. Was machen wir jetzt?“
„Ins Präsidium fahren. Der Koffer muss untersucht werden und wir brauchen Verstärkung.“
***
Mit der Tageszeitung in der Hand suchte Elke Bofinger ein Café gegenüber dem Hauptbahnhof auf. Früher einmal war hier ein Wienerwald gewesen; wenn sie sich an dessen Hähnchen erinnerte, lief ihr immer noch das Wasser im Mund zusammen. Vorbei, heutzutage stopften die Leute Hühnerabfälle in sich hinein, die hochtrabend „Chicken Wings“ genannt wurden, und hielten das für eine anständige Mahlzeit. Für ihre Mutter war der Wienerwald gleichbedeutend mit dem Untergang des kulinarischen Abendlandes gewesen, inzwischen dachte Elke selbst ganz ähnlich über Burger- oder Kaffeehausketten. Dieser Umstand warf mehrere Fragen auf, zum einen die, ob sie womöglich Gefahr lief, so ähnlich zu werden wie ihre Mutter. Vielleicht war sie aber auch nur ganz einfach im Begriff, selbst eine alte Frau zu sein, die den Gewohnheiten der Jugend nichts mehr abgewinnen konnte? Was den Leuten dagegen in zwanzig oder dreißig Jahren von der sogenannten Systemgastronomie vorgesetzt werden würde, wollte sie gar nicht erst wissen. Marinierte Hühnerknochen zum Lutschen, vielleicht, überlegte sie bitter. Das Fleisch können sich dann sowieso nur noch die Reichen leisten. Elke bestellte einen Milchkaffee, schlug die Zeitung auf und sah sich das Foto an. Er war es, musste es sein, sie war sich sicher. Ebenfalls älter geworden, natürlich, doch immer noch schien ihr das Gesicht so vertraut, als ob sie es vor wenigen Tagen zum letzten Mal berührt hätte. Sachte strich sie mit dem Finger über das schwarz-weiße Antlitz, während eine Kellnerin in langer Schürze den Kaffee servierte. Elke gab sich einen Ruck und schob ihre Melancholie zur Seite.
„Ob Sie hier wohl ein Telefonbuch haben?“
„Ein Telefonbuch?“, echote die Kellnerin kuhäugig, ohne eine weitere Regung im üppig geschminkten Gesicht. „Wahrscheinlich schon.“
„Könnten Sie mir das für einen Augenblick ausleihen?“
„Ich frage mal.“ Das Mädchen ging weg und kam zu Elkes Verblüffung schon nach kurzer Zeit mit dem gewünschten Gegenstand zurück.
„Danke.“ Elke schlug den Buchstaben „L“ auf, überflog die Spalten und stellte erleichtert fest, dass der von ihr gesuchte Name noch verzeichnet war. Genau genommen war er sogar kaum zu übersehen, denn er war fett gedruckt und mit dem Zusatz „Rechtsanwälte“ versehen. Die dazugehörige Nummer musste die der Zentrale eines Büros sein, Privatnummer konnte Elke keine entdecken. Sie speicherte die Nummer in ihrem Handy, gab dem Mädchen das Buch zurück und drückte die Ruftaste.
„Kanzlei Lämmerwein und Griesinger, Sie sprechen mit Irina Grau, was kann ich für Sie tun?“, leierte eine jung klingende Stimme.
„Ich hätte gerne Frau Carola Lämmerwein gesprochen.“
„In welcher Angelegenheit?“
„Privat.“
„Frau Lämmerwein ist im Meeting. Wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer …“
„Aber sie ist im Haus?“, unterbrach Elke die Stimme.
„Schon, aber …“
„Richten Sie ihr bitte aus, dass ich sie dringend sprechen muss. Ich rufe in zehn Minuten wieder an.“
„So einfach geht das nicht, Frau …“
„In zehn Minuten. Sagen Sie ihr, es geht um die Sache im Jahr 1989. Wenn sie heute schon die Zeitung gelesen hat, weiß sie, was ich meine.“