Читать книгу Mord im Chinagarten - Stefanie Wider-Groth - Страница 8
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Оглавление„Ein Sauwetter ist das.“
Emmerich trat sich die Füße ab und setzte sie vorsichtig in den sauberen Flur.
„Das kannst du laut sagen“, bestätigte sein bester Freund Lutz Hornstein und schloss die Haustür. Es war ein eisiger Osterdienstag, an dem Emmerich diesem, seinem Freund, in einen Keller folgte, von dem er nicht genau wusste, wie lange er ihn nicht mehr gesehen hatte. Lutz war vor etwas über vierzig Jahren in Gestalt eines schmächtigen Zehnjährigen in Emmerichs Leben getreten, doch war ihm im Verlauf der Zeit das Schmächtige irgendwie abhanden gekommen. Mittlerweile war er das, was man früher als „gut beieinander“ bezeichnet hatte, heute dagegen „übergewichtig“ nannte, obwohl Lutz nicht eigentlich dick wirkte. Nur schmächtig war er eben auch nicht mehr. Emmerich selbst hatte eine ganz ähnliche Entwicklung durchgemacht, lediglich der Umstand, etwas größer zu sein als Lutz, bewahrte ihn vor einem bedenklichen BMI, der in letzter Zeit zum Maß aller Dinge geworden zu sein schien. Wobei weder Emmerich noch Lutz auch nur den Schatten einer Ahnung hatten, wie sich dieser „Body Mass Index“, von dem ihre Gattinnen so häufig sprachen, berechnen ließ. Beide verschwendeten nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf derartige Äußerlichkeiten. Wenn man älter wurde, dann wurde man eben auch ein bisschen stärker, das war schon immer so gewesen und damit doch eigentlich völlig normal. Heute jedoch warf Lutz einen nachdenklichen Blick auf seinen Bauch, kratzte sich am Kopf und fragte:
„Wie wollen wir vorgehen? Ich fürchte, wir passen nicht einmal mehr durch den Gang.“
„Wir schaffen das schon“, ermunterte ihn Emmerich. „Ich frage mich nur, warum du es überhaupt willst? Ist doch schade um die ganze Arbeit.“
„Mag sein. Aber niemand mehr benützt dieses Ding. Vater ist im Heim und wir brauchen den Platz.“
Bei dem „Ding“ handelte sich um eine Modelleisenbahnanlage. Nicht um eine dieser kleinen, aus vorgeformten, grauem Hartplastik gestalteten Landschaften mit zwei Bergen, einem Tunnel und wenig Platz für den Bahnhof, sondern um etwas, das Emmerich in seiner Jugend stets als gigantisch erschienen war. Die Anlage nahm nahezu den kompletten, etwa vier mal fünf Meter großen, weiß getünchten Kellerraum ein und war auf massiven Holzbrettern, die wiederum auf Tapeziertischen ruhten, aufgebaut. Außen, um die Bretter herum, verlief ein schmaler Gang, der für einen Zehnjährigen kein Problem darstellte, einem erwachsenen, ein wenig vollschlanken Mann aber entschieden zu wenig Platz bot. Emmerich dachte ein bisschen wehmütig an die vielen Stunden zurück, die er als Jugendlicher, zusammen mit Lutz und dessen Vater, der die treibende Kraft hinter dem Ganzen gewesen war, in diesem Keller verbracht hatte. Obwohl er sie schon beinahe vergessen hatte, tat es ihm leid um die vielen, putzigen Modellhäuschen, den detailgetreuen Nachbau des Ulmer Münsters oder die realitätsnah gestalteten Straßenszenen.
„Ich dachte, wir räumen das vordere Brett ab und nehmen es raus“, überlegte Lutz. „Dann hätten wir ein U und kämen leichter an den Rest.“
„Weißt du noch“, sagte Emmerich und zeigte auf eine Geisterbahn, die zu einem liebevoll zusammengestellten Rummelplatz gehörte, „die Monster von diesem Ding hier konnten sich richtig bewegen.“
„Ich weiß auch noch, wie du in dem Tunnel hinten in der Ecke das Krokodil hast entgleisen lassen“, grinste Lutz. „Mein Vater ist fuchsteufelswild geworden.“
„Er wollte ja unbedingt eine alpine Gebirgslandschaft. Hätten wir unsere Serengeti bauen dürfen, wäre das nie passiert.“
„Fährt denn da überhaupt ein Zug? In der Serengeti?“
„Keine Ahnung. Aber erinnerst du dich noch an unser Modell vom Dreifarbenhaus mit Rotlicht und richtigen Nutten an den Fenstern?“
Lutz langte zwei Bier aus einem bereitstehenden Kasten, öffnete sie und reichte Emmerich eine Flasche.
„Klar erinnere ich mich. Meine Mutter hat es umgehend weggeschmissen. Prost.“
„Prost.“ Emmerich nahm einen Schluck und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Womöglich war es etwas voreilig von ihm gewesen, Lutz seine Hilfe anzubieten, doch jetzt konnte er natürlich nicht mehr zurück. Grob geschätzt standen etwa dreihunderthundert Häuschen und eine sicherlich fünfstellige Zahl an Kleinteilen wie Bäume, Figürchen oder Autos zur Entsorgung an. Ganz zu schweigen von den Zügen selbst.
„Was willst du mit dem Zeug machen?“
„Wir packen erst mal alles in Kartons.“ Lutz wischte sich Schaum vom Mund und gab einen dezenten Rülpser von sich. „Ich hab welche besorgt.“
Emmerich warf einen letzten Blick auf die noch intakte, aber zugegebenermaßen recht eingestaubte Anlage und hob beherzt das Ulmer Münster empor.
„Fangen wir an?“
Drei Stunden arbeiteten sie einträchtig, Bier trinkend und in Erinnerungen schwelgend. Sie zwickten Drähte durch, sortierten Oberleitungen und Gleise in Schachteln oder stopften Zeitungspapier zwischen die Modelle in den Kartons. Es war eine einerseits traurige, andererseits aber auch irgendwie schöne Beschäftigung, bei der sie vergaßen, auf die Uhr zu sehen, und die plötzlich jäh unterbrochen wurde.
„Reiner?“ Lutzens Gattin Angelika betrat den Keller. „Kannst du mal nach oben kommen? Ein Kollege von dir ist am Telefon.“
Emmerich hielt in der einen Hand das Modell eines Hochsitzes, in der anderen einen winzigen Jägersmann samt Hund und Rehen. Es gab keine Kollegen in dieser Miniaturwelt.
„Warum ruft er mich nicht auf dem Handy an? Ich hab frei heute.“
„Dies ist ein Keller, mein Guter“, rief Angelika ihn mit weiblichem Sinn fürs Praktische in die Gegenwart zurück. „Du hast hier unten keinen Empfang. Und es wäre wohl dringend.“
„Wäre oder ist?“
„Verschon mich mit linguistischen Feinheiten.“
„Wenn’s denn sein muss.“
Emmerich warf Lutz einen entschuldigenden Blick zu, folgte Angelika die Treppen hinauf und ließ sich das Telefon geben. Am anderen Ende der Leitung war Mirko Frenzel, der als Erstes entrüstet darauf hinwies, dass er schon seit einer geschlagenen Stunde versuche, Emmerich aufzutreiben und ihm dies nun lediglich mithilfe von dessen Tochter Jule, die ihm diese Nummer gegeben hatte, gelungen war.
„Zum Kuckuck, ich hab frei. Ich feiere heute meine Überstunden ab“, reagierte Emmerich mit ungewohnter Gereiztheit. Immer noch weilten seine Gedanken bei der Idylle im Keller, in einer Zeit, als er noch kein Kriminalhauptkommissar gewesen war und ein Verbrechen darin bestanden hatte, eine altertümliche Lok entgleisen zu lassen.
„Vergiss deine Überstunden“, sagte Frenzel gnadenlos. „Wir brauchen dich in der Pathologie.“
„Bei Dr. Zweigle? Nein danke, ich habe auch schon zwei Bier getrunken und es ist bestimmt nach fünf.“
„Fast sechs. Wir haben hier einen Toten.“
„Nur einen Toten? In der ganzen Pathologie?“
„Du solltest ihn dir ansehen. Wir sind wegen Ostern ohnehin zu spät dran.“
„Welche Rolle spielt schon Zeit für die Insassen der Pathologie?“
„Reiner.“ Mirko schien tatsächlich ungehalten zu werden. „Noch ein Scherz von dieser Qualität und ich lach mich tot. Dann wären wir immerhin schon zu zweit.“
Emmerich sah Angelika an, die neben ihm interessiert zuhörte.
„Du meinst es ernst, was?“
„Und wie. Gib mir die Adresse von deinem Freund, ich lasse dich abholen.“
„Von mir aus.“ Mit einem kleinen Seufzer gab Emmerich Straße und Hausnummer durch und reichte Angelika den Hörer.
„Tut mir leid, ich muss noch mal weg. Die Pflicht ruft.“
„Deinen Job wollte ich echt nicht haben.“ Auch Lutz kam die Kellertreppe heraufgestiegen.
„Eigentlich mache ich ihn ganz gern“, entgegnete Emmerich mit einem bedauernden Schulterzucken. „Würdest du … könntest du … Gabi sagen, dass es bei mir … hm … später wird?“
„Ich mach das schon“, erklärte Angelika und verdrehte die Augen, um anzudeuten, dass Männer für derart heikle Missionen ungeeignet waren. „Wie viel später meinst du?“
„Weiß nicht. Ich bin auf jeden Fall so schnell wie möglich wieder da.“
Als Lohn für Emmerichs Hilfe war ihm ein gemeinsames Abendessen in Aussicht gestellt worden, zu dem auch seine Frau Gabi erwartet wurde. Nachdem die Damen am Abend zuvor telefonisch Rezepte ausgetauscht hatten, fühlte er sich zu der Annahme berechtigt, dass es Sauerbraten mit Knödeln geben werde, und er war fest entschlossen, sich keinen Bissen davon entgehen zu lassen.
„Ja, ja“, sagte Angelika beiläufig und verschwand in Richtung Küche.
Lutz grinste und öffnete die Haustür.
„Du weißt schon, was ‚ja, ja‘ heißt? Sie glaubt dir kein Wort. Wir heben dir was auf.“
„Wirst schon sehen. Zum Abendessen bin ich zurück.“
Emmerich verließ das Haus seiner Freunde, sah einen silberfarbenen Streifenwagen in die Straße einbiegen und winkte den Kollegen zu. Eine halbe Stunde später stand er in der Pathologie des Robert-Bosch-Krankenhauses Kommissar Mirko Frenzel und Dr. Stefan Zweigle gegenüber.
„Da sind Sie ja“, grüßte Zweigle nachlässig. „Wurde auch Zeit, ich hab eigentlich Feierabend.“
„Und ich hab eigentlich Urlaub“, gab Emmerich, der den Pathologen aus Gründen, die er nicht genau zu erklären vermochte, nicht leiden konnte, mürrisch zurück. Es lag etwas undefinierbar Affektiertes in Dr. Zweigles Art und Auftreten, Emmerich nahm an, dass er zu den Männern gehörte, die sich die Fingernägel feilten und nach dem Duschen Körperlotion auftrugen. Beides war ihm suspekt. Bei Männern zumindest. Auch wenn es sich dabei nur um eine Annahme handelte, die, selbst wenn sie zutraf, keinerlei Rückschlüsse auf den Charakter oder die berufliche Qualifikation des Pathologen zuließ, zog Emmerich es vor, Zweigle mit Distanz zu begegnen.
„Da hätten wir den Kandidaten“, sagte der gerade, zog eine Bahre aus einem der Kühlfächer und schlug das Tuch zurück, das den leblosen Körper bedeckte. Emmerich blickte in das friedliche Gesicht eines Mannes mit langen, grauen Haaren und einem silberfarbenen Vollbart.
„Kandidat wofür?“, fragte er bissig.
„Sie kennen doch mein Buch? Unentdeckte Morde? Ich arbeite gerade am zweiten Band.“ Zweigle zwirbelte eine graue Haarsträhne durch die Finger und legte sie liebevoll über die Schulter des nackten Leichnams. „Der hier kommt ganz entschieden dafür infrage.“
„Wer ist er?“
„Wissen wir nicht“, sagte Frenzel kurz angebunden, während er Zweigle einen schiefen Seitenblick zuwarf. „Hatte keinen Ausweis oder ein anderes persönliches Dokument bei sich, als er gefunden wurde. Da hat er übrigens noch gelebt.“
„Könntest du vorne anfangen? Wo wurde er gefunden? Wann?“
Frenzel griff nach einem Klemmbrett, das auf einem der anderen Obduktionstische lag.
„Der Mann wurde am Karfreitag in der Frühe ins Katharinenhospital eingeliefert. Sie haben ihm dort noch den Magen ausgepumpt, aber es war zu spät.“
„Tabletten“, ergänzte Zweigle mit geballter Kompetenz. „Vermutlich Ipnoral. Das ist ein kombiniertes Schmerz- und Schlafmittel. Sie bekommen gelbe Pillen für den Tag und grüne für die Nacht. Außerdem hatte er nicht wenig Alkohol im Blut.“
„Gefunden wurde er im chinesischen Garten. Das ist Ecke Birkenwald- und Panoramastraße. Er saß da wohl auf einer Bank und war bewusstlos. Die Sanitäter wurden gerufen von einer gewissen Frau Schloms.“
„Oh nein.“ Emmerich dachte zurück an den Mord an einer Rentnerin im letzten November. „Sag nicht, es ist schon wieder …“
„Doch.“ Frenzel grinste. „Dieselbe, die im Fall Diebold das verschwundene Archiv gefunden hat. Sie wohnt in der Birkenwaldstraße und wollte ein bisschen frische Luft schnappen.“
„Kann sie nicht mal was anderes finden? Etwas, das nichts mit uns zu tun hat?“
Emmerich lag es fern, Eleonore Schloms etwas Böses nachsagen zu wollen, schließlich hatte sie im Fall Diebold entscheidend zur Aufklärung beigetragen, doch war sie eine Frau, die anderen Menschen von Berufs wegen die Karten legte, und derartige Tätigkeiten erschienen ihm befremdlich.
„Sie wird ihn kaum absichtlich gefunden haben.“ Mirko, der Emmerichs Vorbehalte hinsichtlich hellseherischer Fähigkeiten kannte, grinste immer noch.
„Ist ja vielleicht auch nicht so wichtig“, entschied Emmerich. „Er war also bewusstlos.“
„Nicht verwunderlich“, schaltete sich Zweigle wieder ein. „Ipnoral in Verbindung mit Alkohol ist eine höchst brisante Mischung. Da kann schon eine Tablette reichen und Sie sind erst mal weg.“
„Der da ist aber daran gestorben, wenn ich Sie richtig verstehe.“
„Meine Untersuchung ist natürlich noch nicht abgeschlossen, und der ausgepumpte Magen erleichtert mir die Arbeit nicht gerade. Aber wir können davon ausgehen, dass er nicht nur eine Tablette genommen hat. In seiner Jacke wurde dies hier gefunden.“
Zweigle hielt ein durchsichtiges Plastiktütchen hoch, das eine schmale, weiße Schachtel beinhaltete.
„Ipnoral forte“, verkündete er triumphierend. „Ein echter Hammer. Die Packung ist leer.“
„Und der Alkohol?“
„Die Sanitäter sagen, dass in den Papierkörben im chinesischen Garten ein Haufen leerer Flaschen herumgelegen hätte“, meinte Frenzel „Aber die können auch von irgendwelchen Jugendlichen stammen, die sich da oben zum Vorglühen treffen.“
„Vorglühen?“
„Aufwärmen. Inwändig. Bevor’s in irgendeinen teuren Club geht.“
„Verstehe.“ Emmerich versuchte, sich die Gegend um die Birkenwaldstraße herum vorzustellen. Der chinesische Garten war ein Geschenk, das die Volksrepublik der Stadt Stuttgart nach der internationalen Gartenbauausstellung im Jahr 1993 gemacht hatte und gehörte zu den Dingen, die er sich seit Jahren einmal anschauen wollte, doch aus unerfindlichen Gründen kam er niemals dazu. Sehenswürdigkeiten waren etwas, das man in anderen Städten besichtigte, in Städten, die man als Tourist besuchte. Vor der eigenen Haustür liefen einem solche Sachen ja schließlich nicht weg, weshalb man es dann letztlich nie dazu brachte, ihnen einen Besuch abzustatten. Zumal wenn sie so abseits vom Geschehen lagen wie der Garten, von dem Emmerich annahm, dass die Großzügigkeit der chinesischen Schenker in erster Linie damit zu tun hatte, dass diese sich die Kosten für den Rücktransport hatten ersparen wollen.
„Die Sanitäter hielten den Mann für einen Obdachlosen und haben sich nichts weiter dabei gedacht“, unterbrach Frenzel seine Überlegungen. „Ich hab die Spurensicherung in den chinesischen Garten geschickt. Aber das Ganze ist schon fünf Tage her, und das Wetter ist auch nicht gerade hilfreich.“
Emmerich warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr und dachte an den Sauerbraten. Und an Gabi. In dieser Reihenfolge.
„Sieht nach Selbstmord aus, oder?“, fragte er harmlos, ohne dabei jemanden anzusehen. „Kommt bei gescheiterten Existenzen schon mal vor.“
„Langsam, Herr Emmerich“, sagte Zweigle und hob den Zeigefinger. „Da machen Sie es sich wohl ein bisschen zu einfach. Ipnoral ist kein frei verkäufliches Mittel und außerdem nicht billig. Man bekommt es beispielsweise nach Operationen verordnet. Ich konnte keine Hinweise auf etwas Derartiges bei dem Mann finden. Wie soll ein Obdachloser an ein solches Medikament kommen?“
„Vielleicht hat er’s im Müll gefunden. Viele Medikamente werden weggeworfen.“
„Wenn jemand Ipnoral verschrieben bekommt, nimmt er es bis zur letzten Tablette. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“
„Apotheken kommen auch nicht infrage“, sinnierte Frenzel. „Die entsorgen ihren Müll nicht über frei zugängliche Tonnen.“
„Er könnte es irgendwo geklaut haben.“
„Möglich“, räumte Zweigle widerwillig ein. „Aber sehen Sie sich bitte seine Hände an.“
Emmerich warf einen kurzen Blick auf die wächsernen Extremitäten des Toten, ohne etwas Besonderes zu entdecken.
„Was ist damit?“
„Ich denke, die sind zu gepflegt für einen Obdachlosen. Zumindest für einen, der schon seit längerer Zeit auf der Straße ist. Und wenn Sie bitte hier noch schauen wollen …“
Emmerich wollte nicht, doch da hatte Zweigle schon das Tuch vollständig zurückgeschlagen, sodass der Tote seinen Intimbereich offenbarte, was Emmerich irgendwie peinlich berührte, obwohl der Mann ja nichts mehr davon mitbekam.
„Er muss lange Zeit vorzugsweise in einer Badehose unterwegs gewesen sein. Oder er kam gerade frisch aus dem Urlaub. Die Haut hier ist um vieles heller, als am Rest des Körpers. Auch das ist nicht gerade typisch für einen OfW.“
Emmerich gab gnädig zu, dass Personen ohne festen Wohnsitz in der Tat gemeinhin keine Urlaube in der Karibik zu verbringen pflegten.
„Wo sind seine Kleider?“
„Hier.“ Frenzel wies auf einen anderen Obduktionstisch, auf dem ein Häufchen Textilien, ebenfalls in Plastiktüten verpackt, lag. „Es sind keine neuen Sachen, aber alles ziemlich sauber. Ich bin kein Spezialist für so was, aber sie sehen mir nicht nach durchschnittlichen Pennerklamotten aus. Allenfalls frisch aus der Kleiderkammer. Riechen auch kaum.“
„Also kein Selbstmord?“
„Ich kann es natürlich nicht völlig ausschließen.“ Zweigle hielt ein unheimlich aussehendes, spitzes Instrument in der rechten Hand und klopfte damit nachdenklich in die offene Linke.
„Ja, was denn nun? Können die Herren sich vielleicht entscheiden?“
„Eigentlich haben wir dich deshalb angerufen“, sagte Frenzel pikiert. „Was würdest du vorschlagen?“
„Ich würde gar nichts. Entweder ich schlage etwas vor oder nicht. Ohne Konjunktiv.“
„Mein Gott, was ist denn heute mit dir los?“ Frenzel sah verärgert drein. „Ich wollte nur sichergehen und deine Meinung hören.“
Emmerich sah noch einmal auf das stille, bleiche Gesicht des Toten und seufzte.
„Schön, dann schlage ich vor, dass wir erst einmal herausfinden, wer das ist. Bevor ich mir eine Meinung bilde. Wir sind noch früh genug dran für die Zeitungen von morgen. Gib die Klamotten in die KTU, vergleich die Fingerabdrücke mit denen im Computer und geh die Vermisstenmeldungen durch. Danach sehen wir weiter. Ich verschwinde wieder, ich bin zu Sauerbraten eingeladen.“
Über Frenzels verärgertes Gesicht huschte ein Ausdruck der Erleichterung.
„Jetzt verstehe ich“, sagte er spöttisch. „Das erklärt vieles.“