Читать книгу Mord im Chinagarten - Stefanie Wider-Groth - Страница 14

Оглавление

[Menü]

5

Der Grasige Rain lag dort, wo die Städte Fellbach und Stuttgart, die im Verlauf ihrer Geschichte immer mehr zusammengewachsen waren, sich berührten. Er entpuppte sich als eine Straße, die zunächst durch ein kleines Gewerbegebiet mit dem schönen Namen „Lindle“ führte, dann tauchten Mehr- und schließlich auch einige Einfamilienhäuser auf. Vor Rosemarie Bofingers Haus führte ein schmaler Weg aus Cannstatter Travertin durch einen kleinen Garten zur Haustür. Emmerich drückte auf die Klingel, die an einem steinernen Pfosten neben dem Gartentor angebracht war. Das dazugehörige Schild lautete auf „Familie Wilhelm Bofinger“, einen Lautsprecher konnte er nirgends entdecken. Er richtete seinen Blick daher auf das Haus und sah, wie sich zuerst hinter einem der Fenster im Erdgeschoss ein Vorhang bewegte, dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine alte Frau lugte heraus. Emmerich holte Luft und erhob die Stimme:

„Frau Bofinger? Wir sind von der Polizei und würden Sie gerne etwas fragen.“

„Von der Polizei?“ Die Tür öffnete sich ein klein wenig weiter. „Sie sehen aber gar nicht aus wie von der Polizei.“

„Dürfen wir näherkommen? Ich zeige Ihnen meinen Ausweis.“

„Meinetwegen.“ Die alte Frau blieb skeptisch. „Aber nur einer.“

Emmerich öffnete das hölzerne Gartentor, holte seinen Dienstausweis heraus und durchschritt den kleinen Garten.

„Hauptkommissar Emmerich“, stellte er sich vor und wies nach hinten. „Mein Kollege, Kommissar Frenzel.“

„Warten Sie, ich muss meine Brille holen.“ Die Frau verschwand im Haus, kam mit dem benötigten Gegenstand zurück und studierte eingehend Emmerichs Ausweis.

„Könnte echt sein“, sagte sie misstrauisch.

„Ist er auch.“

„Man liest so viel von Trickbetrügern.“

Emmerich entschloss sich zum Angriff. „Sie haben heute Morgen bei uns angerufen, Frau Bofinger. Wegen dem Mann in der Zeitung.“

„Woher wollen Sie das denn wissen? Ich habe doch meinen Namen gar nicht gesagt.“

„Aber angerufen haben Sie. Wir können so etwas heute feststellen.“

„Das ist die Höhe!“ Die alte Dame schnaufte erregt. „Ein Überwachungsstaat werden wir wieder. Wie damals beim Hitler, alles wird kontrolliert und verboten. Das lasse ich mir nicht gefallen, ich werde …“

„Frau Bofinger.“ Emmerich versuchte, einen beruhigenden Ton anzuschlagen. „Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Kannten Sie den Mann?“

„Sonst hätte ich ja nicht angerufen. Aber ich will in nichts hineingezogen werden.“

„Ich verspreche Ihnen, das werden Sie nicht“, sagte Emmerich mit dem gebotenen Ernst. „Wir behandeln jede Information absolut vertraulich. Dürfen wir jetzt hereinkommen?“

„Wenn Sie meinen.“ Die alte Frau trat widerstrebend zur Seite und Emmerich winkte Frenzel. Im Wohnzimmer setzten sie sich auf eine schwere, olivgrüne Polstergarnitur, die zweifellos schon bessere Tage gesehen hatte. Frau Bofinger schien nach wie vor nicht vollständig von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt.

„Wir haben doch ein Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis“, sagte sie verunsichert. „Das steht im Grundgesetz. Dürfen Sie sich denn einfach darüber hinwegsetzen?“

Emmerich, der kein Interesse daran hatte, sich auf eine Erörterung der Befugnisse staatlicher Stellen, die auch ihm teilweise zu weit gingen, einzulassen, zwinkerte verschwörerisch.

„Jetzt seien Sie uns mal nicht böse, Frau Bofinger. Wir brauchen doch Ihre Hilfe.“

„Meine Hilfe?“ Rosemarie Bofinger nahm mit schwerfälligen Bewegungen dünnwandige Gläser aus einem Schrank und schenkte aus einer grünen Flasche Mineralwasser ein. „Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann.“

„Aber Sie haben uns einen Namen genannt. Sie sagten, der Mann heiße Peter Nopper.“

„Vielleicht habe ich mich geirrt. Er könnte ihm ja auch nur ähnlich sehen. Es ist schließlich schon lange her.“

„Dass Sie ihn gesehen haben?“

Rosemarie Bofinger nickte stumm und rückte mit fahrigen Handbewegungen die Nippesgegenstände auf einer Anrichte aus den 50er-Jahren zurecht.

„Woher kannten Sie ihn denn?“

„Er ist … nein, er war … aber natürlich nur, wenn er es ist, der Sohn von der Schwester von meiner Schwägerin.“

„Ähem“, grunzte Frenzel verständnislos, während Emmerich gedanklich versuchte, das Gehörte in die richtige Ordnung zu bringen.

„Der Sohn von der Schwägerin Ihrer Schwester? Das wäre dann …“

„Nein“, unterbrach ihn Rosemarie Bofinger mit einem Anflug von Ungeduld. „Der Neffe von der Frau meines Bruders. Sie ist eine geborene von Hebsack, die Familie geht zurück bis auf den Graf Eberhard im Bart. Wissen Sie, dass halb Württemberg von Graf Eberhard im Bart abstammt? So viele uneheliche Kinder hatte der. Im Stammbaum der Bofingers kommt er auch vor, obwohl der lange nicht so weit zurückreicht wie der von den Hebsacks. Man kann das heute viel leichter herausfinden als früher. Wegen der Mormonen.“

„Mormonen?“ Frenzel machte ein Gesicht, das nicht auf das Vorhandensein höherer Intelligenz schließen ließ.

„Die Mormonen, junger Mann“, belehrte ihn Frau Bofinger, „leben an einem Salzsee in Amerika und betreiben Vielweiberei. Damit sie nicht den Überblick verlieren, sind sie große Ahnenforscher geworden.“

„Tatsächlich“, gluckste Frenzel schwach und sah Emmerich hilfesuchend an.

„Peter Nopper gehört also zu Ihrer Familie“, versuchte der zum eigentlichen Gegenstand der Befragung zurückzukehren.

„Nein“, entgegnete die alte Dame mit unerwarteter Heftigkeit. „Ich sagte doch, er ist …“

„Angeheiratete Verwandtschaft“, verbesserte Emmerich sich hastig.

„Aber nur ganz entfernt. Seine Mutter war auch eine geborene von Hebsack.“

„Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?“

„Oh je.“ Rosemarie Bofinger staubte mit dem Ärmel zärtlich einen Kakadu aus weißem Porzellan ab und stellte ihn nachdenklich zurück auf die Anrichte. „Das muss zwanzig Jahre her sein. Vielleicht auch länger.“

„Trotzdem haben Sie ihn sofort erkannt. Er hat wohl bleibende Eindrücke bei Ihnen hinterlassen.“

„Das können Sie laut sagen.“

„Inwiefern?“

„Ein Gammler war er“, erklärte Rosemarie Bofinger erregt. „Ein Hippie. Ein richtiger Tagedieb. Nichts arbeiten wollen, aber lauter verrückte Ideen im Kopf. Von der Sorte gab’s früher viele. Die meisten sind irgendwann vernünftig geworden, aber der nicht. Wollte die Welt auf den Kopf stellen, doch dann war er plötzlich weg.“

„Wie? Weg?“

„Na, weg halt. Fort aus Deutschland. Wir … sie haben seit Jahren nichts mehr von ihm gehört.“

Emmerich war das kurze Zögern nicht entgangen, er sah die alte Dame scharf an.

„Wir oder sie?“

„Sie natürlich. Seine Familie.“

„Könnten Sie mir da eine Adresse geben? Die von Ihrer Schwägerin zum Beispiel?“

„Schreck, lass nach“, sagte Frenzel, als sie das Haus im Grasigen Rain wieder verlassen hatten. „Wahrscheinlich wären wir irgendwann bei Adam und Eva gelandet.“

„Eva genügt“, entgegnete Emmerich boshaft. „Ich hab mal gelesen, dass man alle Menschen auf sechs oder sieben Urmütter genetisch zurückverfolgen kann.“

„Warum hast du das nicht gesagt? Urmutter von Hebsack, das wäre doch was.“

„Du hast nicht zugehört. Frau Bofinger ist mit Hebsacks nicht verwandt, sondern nur verschwägert und das auch nur ganz entfernt.“

„Soll ich dir was sagen? Das interessiert mich einen feuchten …“

„Mich auch nicht“, fiel Emmerich Frenzel ins Wort und postierte sich wartend neben der Beifahrertür. „Aber findest du es nicht merkwürdig, dass die gute Frau Bofinger gegen ihren entfernten Verwandten eine derartige Abneigung hat? Eigentlich müsste er ihr doch ziemlich egal sein.“

„Du meinst, die weiß mehr, als sie sagt?“

„Worauf du einen lassen kannst. Sie kennt ihn sicherlich besser, als sie es uns gegenüber zugeben möchte.“

„Dann fahren wir jetzt zu dieser Schwägerin?“

„Nein.“ Emmerich schüttelte den Kopf. „Jetzt gehen wir was essen, ich habe einen Bärenhunger.“

„Von mir aus.“ Frenzel öffnete den Wagen und stieg ein. „Ich kenne eine Kneipe in Cannstatt, die haben prima Schnitzel.“

„Hört sich gut an.“ Emmerich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, wartete, bis Frenzel die Hauptstraße erreicht hatte und fischte sein Handy aus der Tasche.

„Was Neues?“, fragte er knapp, als sich Frau Sonderbar nach dem zweiten Läuten meldete.

„Ein Anruf. Von einem Hotel Sieber in der Tübinger Straße. Der Tote soll da ein Zimmer gehabt haben. Das Bett wurde allerdings während der letzten Nächte nicht benutzt.“

„Rufen Sie bitte dort an. Wir kommen nach dem Mittagessen vorbei und sehen uns das Zimmer an. Und sonst?“

„Noch nichts von der KTU. Dr. Zweigle scheint noch eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben.“

„Welche?“

„Er will es leider nur Ihnen persönlich sagen.“

„Machen Sie sich nichts daraus“, meinte Emmerich nonchalant. „Wichtiger als mein Mittagessen ist sie sicher nicht.“

„Sie gestatten, dass ich anderer Ansicht bin?“

„Selbstverständlich.“

„Was also soll ich ihm sagen?“

„Dass ich zurückrufe. Später.“

„Wie Sie meinen.“

Frau Sonderbar beendete das Gespräch und Frenzel, den Emmerich hatte mithören lassen, sagte amüsiert:

„Jetzt ist sie beleidigt.“

„Schon möglich. Aber kann ich es zulassen, dass ein bücherschreibender Leichenfledderer meiner Sekretärin den Kopf verdreht? In ihrem Alter? Als Vorgesetzter habe ich eine Verantwortung für meine Mitarbeiter.“

„Na, hör mal.“

„Nix, na hör mal. Heute früh ist sie tatsächlich rot angelaufen, als dieser Affe ins Büro kam.“

„Was schätzt du, wie alt ist Zweigle?“

„Keine Ahnung. Ende fünfzig vielleicht? Warum fragst du?“

„Sperr die Augen auf“, empfahl Frenzel und bog rechts ab. „Vielleicht passen die beiden ja zusammen.“

Emmerich fühlte sich, als hätte ihm jemand einen leichten Schlag auf den Kopf versetzt. Noch nie, aber wirklich noch gar nie, war es ihm in den Sinn gekommen, dass Frau Sonderbar private Beziehungen zum anderen Geschlecht unterhalten könnte. Sie war ihm in dieser Hinsicht stets als ein Neutrum erschienen, das allenfalls über mütterliche Eigenschaften verfügen mochte. Ein geschlechtsneutrales, unauffällig gekleidetes und frisiertes Wesen, das ein verlässlicher und selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens war, an dessen Geburtstage ihn Gabi erinnerte und die passenden Pralinen besorgte.

„Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Frenzel besorgt und hielt neben einer Parklücke vor dem Gebäude der Cannstatter Zeitung. „Du bist so still.“

„Wenn ich mir’s recht überlege“, entgegnete Emmerich, immer noch leicht benebelt, „dann hatte sie heute Morgen etwas völlig Neues an.“

„Frau Bofinger?“ Frenzel konzentrierte sich auf’s Einparken.

„Frau Sonderbar.“

„Sie hat sogar eine neue Brille. Ist dir noch gar nicht aufgefallen, was?“

„Nein“, musste Emmerich kleinlaut zugeben. „Ich … äh … hab’s nicht so mit modischen Details.“

„Du stehst auch nicht im Ruf, ein ausgewiesener Frauenversteher zu sein.“ Frenzel zog den Zündschlüssel ab. „Da drüben warten unsere Schnitzel.“

Emmerich stieg aus und betrachtete bedrückt die etwas schäbig wirkende Fassade des von Frenzel empfohlenen Gasthauses.

„Bist du sicher?“

„Hundertprozentig. Das Abklatsch ist eine geile Kneipe.“

„So hab ich’s nicht gemeint. Sag mir eines: Warum Zweigle?“

Mord im Chinagarten

Подняться наверх