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Tage wie diese …

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Wer am Montag, dem 23. September 2013 morgens früh aufgestanden war und mit der Kaffeetasse vor dem Fernseher saß, konnte um Punkt 05:42 Uhr im ARD/ZDF-Morgenmagazin folgende Szene bewundern:

Auf der Wahlparty der CDU am Abend zuvor – die CDU/CSU hatte die 18. Wahlen zum Deutschen Bundestag mit 41,5 Prozent gewonnen –, hatten sich in Berlin im Konrad-Adenauer-Haus die Größen der CDU – u. a. Angela Merkel und Ursula von der Leyen – auf der Bühne eines nicht allzu großen Veranstaltungsraumes versammelt; vor ihnen dicht gedrängt das jubelnde Parteivolk, vielleicht 200 Parteimitglieder, hier und dort ein Deutschlandfähnchen schwenkend.1

Ab 05:42 Uhr sah man im Morgenmagazin – die Kamera war auf die etwa zehn Parteigrößen auf der Bühne gerichtet –, wie der damalige CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, rechts an der Seite von Kanzlerin Merkel stehend, von einem Parteikollegen eine etwa DIN-A3-große Deutschlandfahne gereicht bekam.

Freudestrahlend wie alle im Saal und nichts Böses ahnend wollte Hermann Gröhe mit dem Fähnchen zu schwenken beginnen – wohlgemerkt auf Bauchhöhe und ohne jemanden zu verdecken –, da rupfte die Kanzlerin ihrem Generalsekretär das Fähnchen aus der Hand und sah ihn genervt an; ganz so wie eine Mutter, die ihr Kind beim Nasepopeln erwischt. Angela Merkel nahm das Fähnchen, schritt mit ernster Miene einige Meter zur Seite und legte das Fähnchen außerhalb der Sichtweite der Kamera irgendwo ab.

Während die Kanzlerin energisch für Ordnung sorgt und beinahe aus dem Kameraausschnitt herausläuft, stehen zehn CDU-Politiker auf der Bühne, strahlen vor Freude, klatschen und schauen einander glücklich ins Gesicht. Man feiert. Man ist gut drauf.

Nach der Entfernung der Deutschlandfahne kommt die Kanzlerin zurück und baut sich wieder in der Mitte vor den feiernden Parteigenossen auf. Dann zoomt die Kamera auf den Kopf der Kanzlerin. Und jetzt sieht man, wie sie ihrem CDU-Generalsekretär durchaus im Gestus einer Mutti mimisch signalisiert: „Also diesen Unsinn, mein Kleiner, den lassen wir in Zukunft. Kein Deutschlandfähnchen mehr in Zukunft. Aus dem Alter bist du raus.“

Wohlgemerkt: Zeitgleich werden im Saal etwa 30 Deutschlandfähnchen derselben Größe geschwenkt. Man sieht die Fähnchen immer wieder im Bild. Nur eben nicht auf der Bühne. Die macht die Kanzlerin zur nationalsymbolfreien Zone.

Musikalisch unterlegt war obige Jubelszene im Saal mit dem Lied ›Tage wie diese‹ der bekannten und inzwischen etwas angegrauten deutschen Punk-Rock-Gruppe Die toten Hosen. Genau in dem Moment, als die Kanzlerin ihrem Generalsekretär das Deutschlandfähnchen aus der Hand rupft, erklingt der Refrain „An Tagen wie diesen …“ Die Toten Hosen – das muss in dem Zusammenhang auch erwähnt werden – distanzierten sich wenige Wochen zuvor öffentlich von der Verwendung ihres Liedes im Wahlkampf, sahen aber keine Möglichkeit, rechtlich dagegen vorzugehen.2

Um die Reihe befremdlicher Zeichen der Zeit zu ergänzen, noch folgende Notiz: Ein paar Monate nach der CDU-Siegesparty wurde Hermann Gröhe Schirmherr von ›Verrückt? Na und?‹, einem Präventionsprogramm von ›Irrsinnig Menschlich e. V.‹, ein Verein für Prävention im Bereich psychischer Gesundheit.

Man fragt sich: Was für eine seltsame Inszenierung war das eigentlich an diesem 22. September 2013, als gegen den Willen der Toten Hosen deren Lied erklang und der CDU-Generalsekretär nicht mit seinem Deutschlandfähnchen schwenken durfte?

Hat es etwas zu bedeuten, wenn die deutsche Bundeskanzlerin ihren Bundestagswahlsieg feiert, aber auf der Bühne keine Deutschlandfahnen duldet? Allerdings. Jeder spürt das. Selbstverständlich hat es etwas zu bedeuten. Nur was?

Halten wir für das Protokoll fest, dass die Entfernung von Fahnen stets einen Machtwechsel in einem Land anzeigt. Wenn Volk A über Volk B herfällt, um es langfristig zu beherrschen und zu kontrollieren, wird Volk A die nationalen Symbole von Volk B aus dem öffentlichen Raum entfernen. Das besiegte und unterworfene Volk B wird psychologisch geschwächt, indem man seine Identität schwächt. Dazu werden identitätsstiftende Symbole entfernt.

Merkels Fahnenentfernung symbolisiert ohne Frage eine Art von Machtwechsel. Nur fällt der Machtwechsel nicht so auf, weil Angela Merkel ihre eigene Fahne im Verborgenen hält. Und dieses „nicht die Fahne zeigen“ – das werden viele Leser richtig erspürt haben – ist nicht weit entfernt von „nicht mit offenen Karten spielen“.

Jeder Bürger eines demokratischen Staates weiß ab einem bestimmten Alter, dass Politik auch immer Schauspiel und Inszenierung ist. Das betrifft allem voran die Reden, Worte und Gestiken der Politiker, aber auch ihre Kleidung, das Timing und andere Dinge. Politiker sind immer auch Schauspieler. Das wissen wir. Wir wissen aber auch, dass Politiker, von Ausnahmen abgesehen, keine wirklich guten Schauspieler sind. Wären sie das, hätte sie ihr Talent und ihr Instinkt schon in jungen Jahren an eine Schauspielschule getrieben. Folglich liegt es in der Natur der Sache, dass Politiker hin und wieder eben nicht schauspielern und man sehen kann, was sie wirklich denken und fühlen. Und das, was da am Abend des 22. September 2013 auf der Bühne im Konrad-Adenauer-Haus geschah, könnte durchaus ein solcher ehrlicher Moment gewesen sein. Und selbst wenn nicht: Die symbolische Wirkung der Deutschlandfahnen-Entfernungs-Szene bleibt eindeutig. Deutschland ist nicht Angela Merkels Priorität.

Letzten Endes geht es hier aber nicht um Angela Merkel als Person; es geht um sie als Zeichen der Zeit; als Zeichen dafür, an welchem Punkt sich Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts politisch und massenpsychologisch befindet. Es geht um die Fragen: Was ist Deutschland? Wer sind wir? Wo stehen wir Deutschen jetzt, und wohin geht die Reise in den nächsten Jahren und Jahrzehnten? Was erwartet uns in Zukunft auf Grundlage dessen, was wir schon jetzt in W a h r h e i t sind?

Hier ein zweiter Angela-Merkel-Wahrheitsmoment zwei Jahre später:

Am 5. September 2015 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Geste der Großzügigkeit und Humanität – vereinfacht gesagt – die Staatsgrenzen Deutschlands für die leidenden Massen aus Afrika und dem Nahen Osten weit geöffnet. Zuerst haben „alle“ gejubelt, dann kamen immer mehr von den Flüchtlingen und sehr schnell gab es im Lande kritische Stimmen, die auch die Kanzlerin nicht mehr ignorieren konnte. Also trat sie am 15. September 2015 bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Österreichs Kanzler Werner Faymann vor die Kameras und sagte in staatsmännisch-beleidigtem Tonfall wortwörtlich:

„Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Die Brisanz dieser „angedrohten Aufkündigung der Zusammenarbeit“ mit dem deutschen Volk ausgerechnet aus dem Munde einer amtierenden deutschen Bundeskanzlerin, noch dazu vor laufenden Kameras, ist den deutschen Medien in den Tagen danach durchaus aufgestoßen. Beispielsweise die Bild-Zeitung vom 16. September 2015 hat versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Unter der Überschrift ›Was hinter Merkels Gefühlsausbruch steckt‹ fand Bild heraus: Nicht wenige (z. B. die Berliner Zeitung) denken, Merkels Worte seien hauptsächlich an Horst Seehofer und die CSU gerichtet gewesen, weil sich die CSU gegen Merkels (faktische) Einwanderungspolitik sträubt. Die Bild-Zeitung schreibt:

In der „Berliner Morgenpost“ hieß es:

„Gestern hielt Deutschland kurz die Luft an. […] Das war gefühlshaltiger als die üblichen Floskeln mit Ausstiegsoption. So klar haben wir Angela Merkel selten erlebt […] [Sie] zeigte zum ersten Mal in ihrem politischen Leben, wie sie Patriotismus definiert, und zwar durchaus pragmatisch. 3 Merkel-Deutschland hilft Menschen, die in Panik über Autobahnen irren. Merkel-Deutschland versucht aber zugleich, jene zu stoppen, die ohne Asylgrund oder Einwanderungserlaubnis kommen.“

Bisher wurde Merkel von Beobachtern gern als kühl, als überaus rational, beherrscht und kontrolliert wahrgenommen. Und jetzt dieser deutliche Gefühlsausbruch? 4

Sieht man sich die Filmaufnahmen von Merkels angeblichem „Gefühlsausbruch“ auf YouTube5 genauer an, so ist kaum eine übermäßige Gefühlsregung zu erkennen, schon gar kein Gefühlsausbruch. Angela Merkel hebt weder ihre Stimme, sie kommt nicht aus dem Rhythmus noch gestikuliert sie umher. Bis unmittelbar vor der Aussage mit »nicht mein Land« folgt die Kanzlerin ruhig und wohl wissend, was sie sagen will, einer offenbar vorbereiteten Ansprache. Demnach ist ihr das »Nicht mein Land« keinesfalls einfach so herausgerutscht.

Doch nicht nur die Bild-Zeitung erkennt einen Gefühlsausbruch, wo vielleicht gar keiner war. Die Süddeutsche Zeitung vom 17. September 2015 schreibt:

Der seltene Gefühlsausbruch der Kanzlerin

„… dann ist das nicht mein Land.“ Aus dem Mund einer Regierungschefin ist das ein erschreckender Satz. Er zeigt eine Verletztheit, die kaum ein Politiker gern zu erkennen gibt, schon gar nicht Angela Merkel. […]

Der Schluss des Konditionalsatzes – „dann ist das nicht mein Land“ – ist sein bemerkenswertester Teil. Sofort spürbar ist eine Emotionalität, eine Verletztheit, die kaum ein Politiker, schon gar nicht Angela Merkel, gern zu erkennen gibt. […] Man sollte den Ton der Verletztheit, den Merkel anschlug, also nicht zu persönlich verstehen. Es ging wohl nicht nur um Horst Seehofer. […]

„Dann ist das nicht mein Land“: Das ist aus dem Mund einer Regierungschefin ein ziemlich erschreckender Satz. 6

Die Brisanz des Merkel’schen Nicht-mein-Land-Satzes ist den Medien also durchaus aufgefallen. Die Süddeutsche Zeitung nennt ihn »erschreckend«, die Berliner Morgenpost schreibt, Deutschland habe »kurz die Luft« angehalten. Erklärt wird der Satz mit Merkels Emotionalität. Ich persönlich kann jedoch nur empfehlen, sich das Video mit Merkels Aussage auf YouTube selbst anzusehen, um sich ein eigenes Urteil zu bilden.7

Letztendlich hat der Nicht-mein-Land-Satz in der Öffentlichkeit aber keine nachhaltige Debatte über die innere Grundhaltung Angela Merkels angestoßen; nicht in den Massenmedien und auch nicht im Lager politischer Gegner, wie der SPD, den Grünen usw. Eine wirklich qualifizierte Kritik an der inneren Haltung der Kanzlerin kommt in den Mainstream-Medien meines Wissens so weit nur von der Literaturwissenschaftlerin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler (geb. 1941), aus deren Feder das Buch ›Die Patin – Wie Angela Merkel Deutschland umbaut‹ (2012) stammt.

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