Читать книгу Kühler Grund - Stephen Booth - Страница 10
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Okay. Alles abgesperrt?«
»Polizei an allen Zugängen«, antwortete Hitchens prompt.
»Tatortteam?«
»Unterwegs.«
Diane Fry stand hinter DI Hitchens und Detective Chief Inspector Tailby, keine zehn Meter von der Stelle entfernt, wo die Leiche des Mädchens lag. Der Tatort war bereits bestens durchorganisiert. Obwohl Hitchens eine regelrechte Staatsaktion daraus gemacht hatte, die Polizisten auf dem Weg zu postieren und sich mit Informationen versorgen zu lassen, die er nun an den DCI weitergab, hatte Fry den Eindruck, dass schon vor seinem Eintreffen alles Notwendige veranlasst worden war.
»Spurensicherung?«
»Ebenfalls im Anmarsch.«
»Fahndungsgruppe?«
»Unter Leitung von DI Baxter.«
Tailby war schlank und mehr als einen Kopf größer als Hitchens, und wie viele hoch gewachsene Männer ließ auch er ein wenig die Schultern hängen. Sein Haar war vorn leicht angegraut, aber länger als das der meisten seiner jüngeren Kollegen, die Kurzhaarschnitte bevorzugten. Er trug grüne Gummistiefel, nicht gerade das ideale Schuhwerk, wenn man durch unebenes Gelände stapfen musste, das steinig und mit Kaninchenlöchern übersät war. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er es bis zum Tatort geschafft hatte, ohne sich einen Knöchel zu verstauchen. Fry war froh, dass sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, robuste flache Schuhe und Hosen zu tragen.
»Der Fotograf?«, sagte Tailby.
»Eingetroffen und einsatzbereit.«
»Er soll anfangen.«
Fry erwartete als Nächstes die Frage nach dem Arzt, doch dann sah sie, dass Dr. Inglefield bereits den Weg herunterkam.
»Der Finder?«, sagte Tailby.
»Wieder in seinem Cottage, Sir. Mit DC Cooper.«
»Dann wollen wir uns mal anhören, was der Doc zu sagen hat.«
Der Arzt nannte einem Police Constable, der auf der halben Höhe des Weges stand, seinen Namen. Tailby wurde immer ungeduldiger, während die beiden Männer ihre Uhren verglichen und der PC die genaue Ankunftszeit in sein Notizbuch eintrug. Die meisten anderen Beamten, die sich am Tatort eingefunden hatten, waren wieder fortgeschickt worden, um die Suche fortzusetzen, die ihnen nun noch sinnloser erschien als vorher.
Rings um die Tote spannte sich in einem Radius von mehreren Metern ein blauweißes Band um die Baumstämme und einen schwarzen Felsvorsprung. Von ihrem Standort aus konnte Fry von Laura Vernon lediglich einen Unterschenkel erkennen. Der schwarze Stoff ihrer Jeans stand im scharfen Kontrast zu dem weißen nackten Fuß, dessen Zehennägel blutrot lackiert waren. Der Rest der Leiche lag hinter dichtem Farnkraut verborgen, das umliegende Gelände war zertrampelt, Stängel waren abgeknickt, das Gras platt getreten. Die Chancen, auf dem Boden Spuren zu sichern, die zu einer schnellen Festnahme führen konnten, standen demnach nicht schlecht. Fry wäre zu gern näher an die Leiche herangegangen, um das Gesicht des Mädchens zu sehen. Wie war sie gestorben? War sie erwürgt oder erschlagen worden? Keiner sagte etwas. Zu diesem Zeitpunkt wollte sich niemand festlegen. Alle warteten ab, während der Arzt die nötigen Formalitäten erledigte, dem Posten schweigend zunickte und sich vorsichtig über einen abgesteckten Geländestreifen auf das niedergedrückte Farnkraut zubewegte.
Obwohl kaum Zweifel bestehen konnten, dass es sich bei der Toten um Laura Vernon handelte, galt dies erst dann als gesicherte Tatsache, wenn sie durch ein Elternteil offiziell identifiziert worden war.
»Ausgeschlossen, den Caravan hier herunterzuschaffen«, sagte Tailby.
»Jedenfalls nicht weit genug, Sir«, pflichtete Hitchens ihm bei.
»Gibt es keinen Feldweg in der Nähe? Was ist hinter den Bäumen?«
»Ich weiß nicht, Sir.«
Hitchens und Tailby drehten sich um. Als Hitchens sah, dass Fry hinter ihnen stand, runzelte er die Stirn, als hätte er jemand anderen erwartet.
»Sehen Sie mal zu, was Sie finden können, Fry«, sagte er. »Einen möglichst nahe gelegenen Stellplatz für den Caravan.«
»Ja, Sir.«
Fry hatte keine Ahnung, wie sie diesen Auftrag ausführen sollte. Es war kein bewohntes Gelände zu sehen. Das Dorf selbst war hinter den Felsen verborgen. Hinter ihr erhob sich eine Steilwand, vor ihr war bis zur Straße alles dicht bewaldet.
Ihr wurde bewusst, dass der DCI sie musterte. Er hatte ein schmales, knochiges Gesicht und kluge graue Augen mit einem wachsamen Blick. Bis jetzt hatte sie ihm noch nie gegenüber gestanden. Er war ihr nur einmal gezeigt worden, als er in einiger Entfernung vorüberging, und sie hatte ihn sich gemerkt, weil er etwas zu sagen hatte. Auf gar keinen Fall durfte er bei ihrem ersten Zusammentreffen den Eindruck bekommen, dass sie nicht zu gebrauchen war. Ein erster Eindruck wirkte lange nach.
»Vielleicht kann Ihnen dabei jemand helfen, der über bessere Ortskenntnisse verfügt«, schlug Tailby vor.
Hitchens sagte: »Oder wir fragen lieber …«
Plötzlich wusste Diane Fry, was das für ein Geräusch war, das sie schon die ganze Zeit störte, dieses stetige Dröhnen und Knattern über den Bäumen etwas weiter östlich. Der Hubschrauber behielt seine Position fürs Erste bei, bis die Crew die Anweisung bekam, zum Stützpunkt zurückzufliegen.
Fry nahm ihr Funkgerät heraus und lächelte. »Ich glaube, ich habe eine bessere Idee, Sir.«
Der DCI verstand sofort. »Ausgezeichnet. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich auch gleich nach einem Stellplatz für die Wagen des Tatortteams und der Spurensicherung umsehen.«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Dr. Inglefield den Weg wieder heraufkam und auf Tailby zuging.
»Mausetot«, sagte er. »Den Schädel eingeschlagen, mal ins Unreine gesprochen. Einzelheiten natürlich erst nach der Autopsie, aber viel mehr gibt es sowieso nicht zu sagen. Die Leichenstarre hat sich bereits weitgehend gelöst, und die Verwesung hat eingesetzt. Außerdem haben wir an den üblichen Stellen die ersten Maden. Augen, Mund, Nasenhöhlen. Sie wissen ja … Die Gerichtsmedizin dürfte den Todeszeitpunkt relativ präzise bestimmen können. Normalerweise würde ich sagen, mindestens vierundzwanzig Stunden, aber bei diesem Wetter …« Er zuckte viel sagend mit den Schultern.
»Vergewaltigt?«
»Mmm. Es hat sich mit Sicherheit jemand an ihrer Kleidung zu schaffen gemacht. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Ich sehe sie mir schnell an, während wir auf die Pathologie warten«, sagte Tailby zu Hitchens.
Er zog Plastikhandschuhe an und näherte sich bis auf wenige Schritte der Toten. Er würde weder die Leiche selbst noch irgendetwas in der Umgebung anfassen, um keine vor Gericht verwertbaren Spuren zu zerstören. Dr. Inglefield warf einen neugierigen Blick auf Fry, die ihr Funkgerät wieder wegsteckte. Sie hatte dem Gespräch aufmerksam gelauscht, während sie die Anweisungen an den Hubschrauber durchgab.
»Sie sind neu, nicht wahr?«, sagte Inglefield. »Tut mir Leid, das mit den Maden.«
»Nur neu in der Gegend, aber nicht in dem Beruf«, sagte Fry. »Ich habe so etwas schon öfter gesehen. Die meisten Leute ahnen ja gar nicht, wie schnell Fliegen in die Körperöffnungen eindringen und ihre Eier ablegen.«
»Bei diesem Wetter sind die kleinen Biester schon wenige Minuten nach Eintritt des Todes da. Acht Stunden später können die ersten Maden schlüpfen. Wie lange wurde das Mädchen schon vermisst?«
»Seit fast zwei Tagen«, sagte Fry.
»Da haben Sie’s ja. Zeit genug. Aber nehmen Sie mich nicht beim Wort …«
»Das kann nur die Gerichtsmedizin beantworten. Ist schon klar.«
»Mrs. Van Doon wird es Ihren Kollegen genau sagen können. Ein forensischer Entomologe kann das Entwicklungsstadium der Larven feststellen und was Sie sonst noch wissen müssen. Damit lässt sich der Todeszeitpunkt ziemlich präzise bestimmen.«
Hinter den Bäumen waren Motorengeräusche zu hören, und dann tauchte der Hubschrauber wieder auf. Im Tiefflug geleitete er einen kleinen Konvoi einen Waldweg entlang.
»Ich gehe lieber mal los und zeige ihnen den Weg«, sagte Fry.
»Die haben mehr Glück als ich«, sagte der Arzt. »Mein Wagen steht irgendwo oben am Berg. Na ja, ein bisschen Bewegung kann nicht schaden. Das sage ich zumindest meinen Patienten immer.«
Fry begleitete die Pathologin und das Tatortteam den Berg hinunter. Der Mann und die Frau vom Tatortteam schwitzten in ihren weißen Overalls und Überschuhen, während sie ihre Koffer zu der Absperrung schleppten. Als sie sich die Kapuzen über den Kopf zogen, sahen sie wie Außerirdische aus. Tailby machte dem Fotografen Platz, der in den immer länger werdenden Schatten, die sich mittlerweile über den Tatort legten, seine Scheinwerfer aufbaute. Die genaue Lage der Leiche musste mit Fotoapparat und Videokamera festgehalten werden, bevor sich die Gerichtsmedizinerin die Maden näher ansehen konnte. Fry wandte sich ab. Als Nächstes würde die Ärztin die Rektaltemperatur des Mädchens messen.
Fry registrierte, dass DI Hitchens auf seinem Handy angerufen wurde.
»Hitchens hier. Was gibt’s?«
Seine Miene verdüsterte sich zusehends.
»Setzen Sie jeden verfügbaren Mann dafür ein. Sicher, sicher, ich weiß. Aber die Sache hat höchste Priorität. Wir stehen ja wie komplette Vollidioten da. Sie können so viele Leute von anderen Aufgaben abziehen, wie Sie brauchen.«
Hitchens blickte sich suchend nach Tailby um; der DCI kam gerade wieder den Berg herauf.
»Verdammt!«, sagte Hitchens und steckte das Handy ein.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Fry.
»Ein Team wollte zu Lee Sherratt, um ihn festzunehmen, aber er ist getürmt.«
Fry runzelte die Stirn. Es war ausgesprochenes Pech, den Haupttatverdächtigen entwischen zu lassen, wenn der Fall nach den ersten Zeugenaussagen schon so gut wie geklärt schien und man darauf hoffen durfte, nach Auswertung der Laborergebnisse zu einem raschen Abschluss der Ermittlungen kommen zu können. Während sie auf den DCI warteten, der an seinen Plastikhandschuhen nestelte, nahm Fry sich vor, dafür zu sorgen, dass nichts von diesem Pech auf sie abfärbte.
»Es kommt darauf an, den Todeszeitpunkt so genau wie möglich zu bestimmen«, sagte Tailby. »Außerdem muss eine zweite Befragung der Dorfbewohner veranlasst werden, Paul.«
»Ja, Sir.«
»Und wir brauchen die Tatwaffe. Sobald die Spurensicherung hier fertig ist, sollen die Suchtrupps loslegen.«
»Ja, Sir.«
»Was war das für ein Anruf? Hat man den Jungen schon festgenommen? Diesen Sherratt?«
Hitchens zögerte zum ersten Mal.
»Nein, Sir.«
»Und warum nicht?«
»Sie können ihn nicht finden. Er ist seit gestern Nachmittag nicht mehr zu Hause gewesen.«
»Das soll hoffentlich ein Witz sein.«
Hitchens schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.«
Tailbys Gesichtsausdruck verfinsterte sich, noch verstärkt durch seine zusammengezogenen buschigen Augenbrauen. »Nicht zu fassen. Da befragen wir den Burschen am Sonntag, als es nur um eine Vermisstensache geht, und kaum taucht die Leiche auf, geht er uns durch die Lappen.«
»Es gab keinen Grund …«
»Aber dafür gibt es jetzt einen Grund und zwar einen sehr guten. Meinen Sie nicht auch?«, sagte Tailby wütend und deutete auf die Stelle, wo Laura Vernon lag.
»Die Fahndung läuft. Aber weil so viele Männer hier unten bei der Suche im Einsatz waren …«
»Sie sollen sich verdammt noch mal ranhalten. Die Sache muss so schnell wie möglich vom Tisch, Paul. Wenn uns das nicht gelingt, fangen die Leute an, eine Verbindung zum Fall Edson herzustellen, und dann haben wir den Salat. Eine Massenhysterie, weil ein Serienmörder frei herumläuft. Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können.«
Hitchens warf Fry einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie verzog keine Miene. Sie hatte nicht die Absicht, sein Pech freiwillig mit ihm zu teilen.
»Okay«, sagte Tailby. »Was nun? Wie hieß der Mann noch gleich? Der Finder?«
»Dickinson, Sir«, antwortete Hitchens. »Harry Dickinson.«
Harry war in der Küche. Er hatte die Jacke ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt, sodass seine weißen, sehnigen Arme zu sehen waren. Eine deutliche Linie oberhalb der Handgelenke markierte die Grenze zwischen der blassen, von der Sonne unberührten Haut und den braunen, wettergegerbten Händen, die mit Altersflecken und dunklen, tief in den Poren sitzenden Pünktchen übersät waren. Harry stand an der Spüle, schrubbte mit einer blauen Bürste die Teetassen aus und wusch die Löffel ab. Dabei machte er ein so konzentriertes Gesicht, als wäre er mit einer Gehirnoperation beschäftigt.
»Er macht immer den Abwasch«, erklärte Gwen den Beamten, die in der Tür standen. »Angeblich kann ich es nicht richtig.«
»Wir möchten nur kurz mit ihm sprechen, Mrs. Dickinson«, sagte Tailby. »Es geht um unsere Ermittlungen.«
Allmählich schien Harry die Beamten wahrzunehmen. Er legte die Spülbürste weg, trocknete sich gründlich die Hände ab, rollte die Ärmel herunter, nahm seine Jacke vom Haken hinter der Tür und zog sie wieder an. Dann ging er gemächlich und ohne ein Wort zu sagen an ihnen vorbei in das dunkle Wohnzimmer, wo man durch einen Spalt in der weißen Gardine die Straße erkennen konnte.
Als Hitchens und Tailby hereinkamen, saß er bereits kerzengerade auf einem Stuhl. Er erwartete sie wie ein Richter, der die Angeklagten musterte, die auf der Anklagebank Platz nahmen. Die Beamten zogen sich zwei Stühle unter einem Mahagoni-Esstisch hervor und bauten sie vor dem alten Mann auf. Diane Fry schlüpfte leise durch die Tür und lehnte sich mit ihrem Notizbuch an die Wand, während Hitchens und Tailby ihre Namen nannten und sich auswiesen.
»Harry Dickinson?«, fragte Hitchens. Der alte Mann nickte. »Das ist Detective Chief Inspector Tailby, Harry. Ich bin Detective Inspector Hitchens. Aus Edendale.«
»Wo ist denn der Junge?«, fragte Harry.
»Wer?«
»Der vorher hier war. Sergeant Coopers Junge.«
Tailby sah Hitchens an und zog eine Augenbraue hoch.
»Ben Cooper ist nur ein Detective Constable, Harry. Aber wir ermitteln in einem Mordfall. Verstehen Sie? Detective Chief Inspector Tailby ist der verantwortliche Beamte, der die Ermittlungen leiten wird.«
»Aye«, sagte Harry. »Der Mann am Drücker.«
»Sie wissen, dass wir eine Leiche gefunden haben, Mr. Dickinson?«, fragte Tailby. Er sprach laut und deutlich, als ob er einen Schwachsinnigen vor sich hätte.
Harry ließ den Blick langsam von Hitchens zu Tailby wandern. Anfangs hatte er sich nur unbeeindruckt gezeigt, jetzt wirkte er störrisch.
»Das Mount-Mädchen, hm?«
»Die Familie Vernon lebt im Mount«, erläuterte Hitchens Tailby. »Die Villa heißt so.«
»Die Tote ist noch nicht offiziell identifiziert worden, Mr. Dickinson«, sagte Tailby. »Bis es so weit ist, können wir dazu noch keine eindeutige Aussage treffen. Allerdings ist allgemein bekannt, dass wir seit mehreren Stunden eine breit angelegte Suche nach einem fünfzehnjährigen Mädchen dieses Namens durchgeführt haben. Unter den gegebenen Umständen besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei den in der Nähe aufgefundenen sterblichen Überresten um die von Laura Vernon handelt.«
Die Sekunden verstrichen. Auf dem Kaminsims tickte eine alte Kutscheruhr leise vor sich hin, das einzige Geräusch im Raum. Fry hatte überhaupt den Eindruck, dass die Zeit in diesem Zimmer ganz besonders langsam verging, als ob es, vom Rest der Welt abgeschottet, in einer eigenen Zeitzone lag, wo die normalen Regeln nicht galten.
»Sie reden ja mächtig geschwollen daher«, sagte Harry.
Tailby ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Wir hätten gerne von Ihnen erfahren, wie es dazu kam, dass Sie den Turnschuh gefunden haben, Mr. Dickinson.«
»Das habe ich doch …«
»Ja, ich weiß, dass Sie es schon mal erzählt haben. Aber schildern Sie es bitte noch einmal.«
»Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.«
»Ja, ich weiß«, sagte Tailby frostig. »Heute ist Ihr Domino-Abend.«
Harry nahm seine Pfeife aus der Jackentasche und kratzte die Asche in eine Keramikschale. Seine Bewegungen waren langsam und entspannt, seine Miene betont gelassen. Hitchens wurde unruhig, aber Tailby bedeutete ihm zu schweigen.
»Eines Tages kommen Sie auch noch dahinter«, sagte Harry. »In meinem Alter kann man nicht mehr zweimal an einem Nachmittag den Berg rauf und runter rennen und am Abend noch etwas unternehmen, ohne ein Nickerchen zwischendurch. Dafür reichen die Kräfte nicht mehr. Da beißt die Maus keinen Faden ab.« Er fuhr sich mit der Hand durch das akkurat geschnittene Haar und strich die grauen, pomadigen Strähnen glatt. »Auch wenn Sie noch so viele Leichen finden.«
»Je schneller wir es hinter uns bringen, desto eher lassen wir Sie wieder in Frieden.«
»Es hilft alles nichts, da können Sie noch so ein hohes Tier sein und noch so große Worte machen. Dieses ganze Kommen und Gehen und dauernd irgendwelche fremden Leute im Haus – das ist mir alles zu viel.«
Tailby seufzte. »Wir würden die Geschichte gern noch einmal in Ihren eigenen Worten hören, Mr. Dickinson. Erzählen Sie uns einfach die Geschichte.«
Harry starrte ihn trotzig an. »Die Geschichte. So, so. Wie hätten Sie sie denn am liebsten, soll ich ein bisschen Hintergrundmusik dazu spielen lassen?«
Diane Fry hatte den Eindruck, dass die Befragung unmerklich gekippt war und sich die Rollen vertauscht hatten, sodass die beiden Beamten darauf warteten, von dem alten Mann vernommen zu werden, statt umgekehrt. Hitchens und Tailby waren nervös, sie rutschten auf den harten Stühlen herum und wussten nicht recht, was sie sagen sollten, um die Atmosphäre aufzulockern. Harry hingegen blieb völlig gleichmütig. Entspannt und ruhig saß er da, die Füße auf einer abgewetzten Stelle im Teppich als wären sie angewurzelt. Er hatte das Fenster im Rücken, sodass er sich von der hellen Straße draußen abhob, eine schwache Aura um Kopf und Schultern. Hitchens und Tailby mussten ins Licht sehen, während sie darauf warteten, dass der alte Mann weitersprach.
»Also keine Musik, hm?«
»Wie Sie möchten, Mr. Dickinson.«
»Ich war mit Jess unterwegs.«
»Jess?«
»Mein Hund.«
»Natürlich. Sie sind mit Ihrem Hund spazieren gegangen.«
Harry zündete einen Fidibus an und zog an seiner Pfeife. Er schien abzuwarten, ob Tailby die Geschichte vielleicht selbst zu Ende erzählen wollte.
»Ich bin mit meinem Hund spazieren gegangen, wie Sie sagen. Wir gehen immer da runter. Das habe ich dem Jungen schon erzählt. Sergeant Coopers …«
»Sergeant Coopers Jungen, ja.«
»Sie fallen einem gerne ins Wort, was?«, sagte Harry. »Ist das eine bestimmte … Wie heißt es noch gleich? Eine Verhörtechnik?«
Fry hatte den Eindruck, dass der Anflug eines Lächelns über Tailbys Gesicht huschte. Hitchens dagegen, der im Büro immer so leutselig war, sah nicht so aus, als ob ihm nach Lachen zu Mute war.
»Fahren Sie bitte fort, Mr. Dickinson«, sagte Tailby.
»Wir gehen immer am Fuß der Raven’s Side spazieren. Jess läuft gerne am Bach lang. Hinter den Karnickeln her. Dabei hat sie noch nie eins gefangen. Ist ein Spiel, verstehen Sie?«
Der Qualm von Harrys Pfeife stieg als Wolke zur Decke und wallte um eine schalenförmige Glaslampe, die an dünnen Ketten unter einer Sechzigwattbirne hing. In der Mitte des Raums war die Deckentapete gelb von Rauch.
Fry blickte der Wolke nach. Wahrscheinlich saß der alte Mann jeden Tag in diesem Zimmer und rauchte, immer auf demselben Stuhl. Was wohl seine Frau in der Zwischenzeit machte? Ob sie sich im Nebenzimmer eine Krankenhausserie im Fernsehen ansah? Und was machte Harry, während er rauchte? In der Nische neben dem Kamin standen einige Bücher in einem Regal. Die Titel, die sie entziffern konnte, lauteten Bergarbeiter in Krisen- und Kriegszeiten, Die Gewerkschaften Großbritanniens, Wege zur Freiheit und Der Ripper und das Königshaus. Soweit sie sah, gab es nur einen einzigen Roman, Vaterland von Robert Harris. Er stand mitten unter den anderen Büchern, die akkurat zwischen zwei geschnitzten Buchstützen aus Eichenholz aufgereiht waren. In einem Zeitungsständer neben dem Kamin lagen drei oder vier Ausgaben des Guardian. Einen Fernsehapparat, ein Radio oder eine Stereoanlage gab es hier nicht. Wenn der alte Mann die Zeitung ausgelesen hatte, konnte er in diesem Zimmer nichts weiter tun, als auf das Ticken der Uhr zu lauschen und nachzudenken.
Fry merkte, dass Harry sie ansah. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Ihr selbst wollte es bei ihm nicht gelingen. Seine Miene war ausdruckslos. Er hatte etwas von einem Aristokraten an sich, der eine Demütigung mit Fassung über sich ergehen ließ.
»Ein Spiel, Harry …«, soufflierte Hitchens. Er war ungeduldiger als der DCI. Jedes Mal, wenn er den alten Mann »Harry« nannte, schienen sich dessen Schultern noch ein wenig mehr zu versteifen. Tailby war höflicher, nachsichtiger. Fry achtete bei ihren Vorgesetzten genau auf solche Merkmale. Wenn sie genug Beobachtungen zusammengetragen hatte, konnte sie sie vielleicht analysieren, durch den Computer jagen und die idealen Charaktereigenschaften herausfinden, die man als angehender DCI brauchte.
»Manchmal schleppt sie Sachen an«, sagte Harry. »Ich setze mich auf einen Felsen, rauche meine Pfeife und sehe mir den Bach und die Vögel an. Manchmal kann man Otter beobachten, die hinter den Fischen her sind. Wenn man sich still verhält, bemerken sie einen nicht.«
Tailby nickte. Vielleicht war er auch ein Naturfreund. Fry wusste nicht viel über Tiere. Außer Tauben und streunenden Hunden hatte es in Birmingham kaum welche gegeben.
»Und während ich da sitze, bringt Jess mir irgendwelches Zeugs. Stöckchen und so. Oder einen Stein. Im Maul. Manchmal findet sie auch was Totes.«
Harry hielt inne. Fry kam es so vor, als ob er zum ersten Mal unabsichtlich ins Stocken geraten war. Er schien sich selbst über seinen letzten Satz zu wundern. Dann zuckte er mit den Achseln.
»Ich meine ein Wiesel oder eine Amsel. Einmal war es auch ein Eichhörnchen. Wenn sie noch nicht zu lange tot sind und nicht allzu mitgenommen aussehen, gebe ich sie einem Mann in Hathersage, und der friert sie ein.«
»Wie bitte?«
»Er stopft sie aus«, sagte Harry. »Alles legal.«
»Ein Präparator«, sagte Hitchens.
Tailby runzelte die Stirn. Harry zog genüsslich an seiner Pfeife, als hätte er gerade einen kleinen Sieg errungen.
»Aber wie war es heute, Mr. Dickinson?«, fragte Tailby.
»Ach, heute. Heute hat Jess mir was anderes gebracht. Sie lief los, stöberte im Farnkraut rum und so hab ich nicht besonders auf sie geachtet, ich saß bloß da. Dann kam sie wieder und hatte irgendwas im Maul. Zuerst wusste ich nicht, was es war. Aber es war der Schuh.«
»Haben Sie gesehen, wo der Hund ihn gefunden hat?«
»Nein, das habe ich doch schon gesagt. Ich konnte Jess nicht sehen. Ich habe ihr den Schuh abgenommen. Dann ist mir diese Kleine eingefallen, die Sie suchen, das Mount-Mädchen. Der Schuh sah mir so aus, als ob er ihr gehören könnte. Also habe ich ihn mitgenommen. Und meine Enkelin hat angerufen.«
»Sie kannten Laura Vernon?«
»Ich kenne wohl jeden im Dorf«, sagte Harry. »Wir sind hier schließlich nicht in Buxton. Ich habe sie ein paar Mal gesehen.«
»Und wann haben Sie sie zuletzt gesehen, Mr. Dickinson?«, fragte Tailby.
»Ah. Kann ich nicht sagen.«
»Es könnte sehr wichtig sein.«
»Mmhm?«
»Wenn sie regelmäßig auf dem Baulk spazieren gegangen ist, wo Sie immer Ihren Hund ausführen, Mr. Dickinson, könnten Sie sie vorher gesehen haben.«
»Sie könnten auch ihren Mörder gesehen haben«, ergänzte Hitchens.
»Glaube ich nicht«, sagte Harry. »Da ist nie einer.«
»Aber Sie müssen doch …«
»Da ist nie einer.«
Harry funkelte Hitchens an, plötzlich aggressiv. Der DI verlor für einen Augenblick die Beherrschung.
»Wir ermitteln in einem Mordfall, Harry! Vergessen Sie das nicht! Wir erwarten Ihre volle Unterstützung.«
Der alte Mann schürzte die Lippen. Die Falten um seinen Mund vertieften sich, aber sein Blick blieb hart und frostig. »Ich würde sagen, ich habe mein Teil getan. Ich habe langsam die Nase voll von Ihnen.«
»Nun denn. Das hier ist kein Kaffeeklatsch, Harry. Es ist kein Spiel, wie Sie es mit Ihrem Hund spielen, wenn Sie ihn Stöckchen holen lassen. Das ist eine ernste Angelegenheit, und wir sind auf Ihre Aussage angewiesen.«
»Haben Sie sonst noch jemanden auf dem Baulk gesehen, Mr. Dickinson?«, fragte Tailby freundlich.
»Wenn es so wäre, würde ich mich wohl noch daran erinnern«, sagte Harry.
Hitchens schnaubte wütend und wäre fast aufgesprungen. »Unverschämtheit.«
»Lassen Sie es gut sein, Paul«, beruhigte Tailby ihn automatisch.
»Richtig. So lasse ich in meinem Haus nicht mit mir reden«, sagte Harry. »Höchste Zeit, dass Sie sich trollen, und zwar allesamt. Tun Sie etwas Nützliches.« Er deutete mit dem Pfeifenstiel auf Fry und ihr Notizbuch. »Und nehmen Sie Ihre Sekretärin mit. Sie macht mir einen Fleck an die Wand.«
»Detective Constable Fry muss noch Ihre Aussage aufnehmen.«
»Dann wird sie mich wohl erst wecken müssen.«
Tailby und Hitchens erhoben sich von den harten Stühlen und streckten sich. Der DCI wirkte zu groß für den Raum. Das Haus stammte noch aus einer Zeit, als niemand größer wurde als 1,80 Meter. Wahrscheinlich hatte er den Kopf eingezogen, um durch die Tür zu kommen, aber Fry hatte nichts davon bemerkt.
»Vielleicht müssen wir noch einmal auf Sie zurückkommen, Mr. Dickinson«, sagte Tailby.
»Dann schicken Sie mir nächstes Mal lieber den Jungen vorbei.«
»Ich fürchte, Sie werden sich mit DI Hitchens und mir begnügen müssen. Wir wollen Sie nicht unnötig stören, aber wir erwarten, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen nach besten Kräften unterstützen, auch wenn es länger dauern sollte. Haben Sie uns fürs Erste wirklich nichts mehr zu sagen, Mr. Dickinson?«
»O doch«, sagte Harry.
»Und das wäre?«
»Hauen Sie ab.«