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Charlotte Vernon hatte sich seit einer Viertelstunde nicht mehr bewegt. Vielleicht lag es an den Tabletten oder dem Alkohol, vielleicht auch an den wilden Spekulationen, die ihr durch den Kopf schossen, jedenfalls wechselten sich schon den ganzen Tag Phasen der Unrast mit Augenblicken vollständiger Lähmung ab. Immer wenn es ihr scheinbar gelungen war, ihre Gedanken über einen kurzen Zeitraum hinweg vollkommen auszublenden, schlug erneut eine Welle der Angst über ihr zusammen. Das Warten war ihr zum Lebensinhalt geworden.

Charlotte stand auf der Terrasse, an die Steinbalustrade gelehnt, und sah dem Hubschrauber nach, der über sie hinwegflog. Sie verfolgte die Bewegungen der Rotorblätter, als hoffte sie, in deren Flirren eine Botschaft lesen zu können. Auf dem Tisch neben ihr standen ein halbes Glas Bacardi und ein überquellender Aschenbecher mit zerdrückten Kippen, die Filter zinnoberrot verschmiert.

Sie stand schon den ganzen Nachmittag auf der Terrasse und schien kaum zu bemerken, wie die Sonne nun allmählich hinter dem Haus verschwand und die Luft merklich kühler wurde. Sie hatte sich nur gerührt, wenn hinter ihr im Haus das Telefon geklingelt hatte. Dann hatten sich ihre Muskeln gespannt und ihre Finger die Balustrade fester umklammert, bis Graham den Hörer abnahm. Erst hatte sie sich angestrengt, sein Gemurmel zu verstehen, dann hielt sie sich die Ohren zu, als ob sie nichts davon hören wollte.

Doch es waren immer nur Anfragen von Freunden oder sogar geschäftliche Gespräche gewesen, die Graham mit gesenkter Stimme erledigte, wobei er sich, mit einem Blick auf den Rücken seiner Frau, schuldbewusst abwandte. Er schien erleichtert, sie nicht ansehen zu müssen, vor der Bergkulisse der Witches, den Kopf zum Himmel erhoben, wie die Heldin eines Ritterromans, die auf Nachricht aus einer fernen Schlacht wartet.

Nach dem letzten Anruf legte Graham den Hörer auf und wandte sich wieder um zur Terrassentür.

»Das war Edward Randle von AET«, sagte er. »Er lässt dich grüßen. Und er wollte wissen, ob Martina und er morgen Abend trotzdem kommen sollen.«

Charlotte sagte kein Wort. Nur das leise Surren der Ventilatoren und das ferne Bellen eines Hundes unten im Dorf waren zu hören.

»Ich habe ihm natürlich zugesagt. Wir können sie schließlich nicht wieder ausladen. Das Leben geht weiter.«

Graham fragte sich, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Sie war in ihrer eigenen Welt versunken, wo für Banalitäten wie Allied Electronics kein Platz war. Graham ging ein paar Schritte auf sie zu, unsicher, ob er sie berühren sollte. Vielleicht brauchte sie jetzt menschliche Nähe, vielleicht würde dadurch aber auch alles nur noch schlimmer werden. Er wusste es nicht.

Er roch das Sonnenöl auf ihrer Haut. Ihr blond gefärbtes Haar hing glatt herunter, bis auf den Rand des Tuchs, das sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Die Muskeln ihrer schlanken, gebräunten Beine waren straff gespannt. Graham unterdrückte das in ihm aufsteigende Verlangen. Vielleicht wäre seine Frau bis zum Abend wieder etwas empfänglicher für seine Avancen. Vielleicht auch erst morgen.

»Hast du gehört, Charlotte?«

»Können wir nicht einfach den Hörer daneben legen?«

»Aber dann würden wir nichts hören … wenn es etwas Neues gibt.«

»Wenn sie Laura finden, wolltest du sagen.«

Charlotte klang müde, die Anstrengungen der letzten 48 Stunden forderten ihren Tribut, auch wenn sie das nur ungern zugeben würde.

»Sie werden sie doch finden, Graham?«

»Aber natürlich.«

Seit zwei Tagen beschwichtigte Graham sie nun schon mit den gleichen Worten. Obwohl er sich um einen möglichst überzeugenden Ton bemühte, bezweifelte er, dass seine Frau ihm glaubte. Er glaubte sich ja selbst nicht.

Der Hubschrauber beschrieb eine Kurve, und die Rotorblätter verschwanden hinter der Hügelkette. Charlotte sah ihm verzweifelt nach, als ob sie sich nicht genug bemüht hätte, die Botschaft zu entziffern. Von der Terrasse aus war keines der Häuser, die zum Dorf gehörten, zu erkennen. Man sah nur ein paar Farmen, hoch oben auf der gegenüberliegenden Bergflanke, deren verwitterte Wände mit dem übrigen Gestein verschmolzen. Kein Wunder, dass Charlotte den Hubschrauber nur ungern aus den Augen verlor. Er war das einzige Zeichen von Leben, das sie vom Mount aus sehen konnte.

»Man hört so oft, dass ein Mädchen von zu Hause wegläuft und für immer verschwindet«, sagte sie. »Nach London zum Beispiel. Könnte sie in London sein, Graham? Und wie sollte sie dort hingekommen sein?«

»Sie ist doch erst fünfzehn«, sagte er. »Man würde sie wieder zurückbringen.«

»Wie soll sie hingekommen sein?«, wiederholte sie. »Woher hätte sie das Geld gehabt? Sie könnte natürlich per Anhalter gefahren sein. Weiß sie überhaupt, wie man trampt? Warum hat sie nichts zum Anziehen mitgenommen?«

Seit zwei Tagen stellte sie nun schon zu viele Fragen, die Graham nicht beantworten konnte. Er hätte ihr gern gesagt, dass Laura höchstens bis Bakewell gekommen sein konnte und dass die Polizei sie spätestens diese Nacht aufgreifen würde. Er hatte versucht, es ihr zu sagen, aber er hatte es nicht über die Lippen gebracht.

»Willst du nicht reinkommen? Du musst etwas essen.«

»Noch nicht«, sagte sie.

»Es wird schon dunkel. Du solltest dir wenigstens etwas überziehen.«

»Ich bleibe hier draußen«, sagte sie.

»Charlie …«

»So lange sie noch nach ihr suchen«, sagte sie. »So lange möchte ich hier draußen bleiben.«

Ein kaum angelesenes Buch lag aufgeklappt auf dem Tisch. Graham sah am Einband, dass es der neueste Krimi aus einer Bestsellerserie über eine amerikanische Gerichtsmedizinerin war, die eine Leiche nach der anderen sezierte und scharenweise Serienkiller fing. Auf dem Umschlag war der kaum identifizierbare Teil eines nackten Körpers vor einem dunklen Hintergrund zu sehen.

»Ich weiß wirklich nicht, wo wir sie noch suchen könnten«, sagte Charlotte. »Obwohl ich mir so das Hirn zermartere. Aber wir haben sie doch schon überall gesucht. Fällt dir nicht noch etwas ein, Graham?«

»Wir haben es überall probiert«, sagte Graham.

»Was ist mit dem Mädchen aus Marple?«

»Da haben wir auch schon nachgefragt. Ihre Eltern sagen, dass sie den Sommer über in Frankreich ist.«

»Ach ja, das hatte ich vergessen.«

»Wenn sie in schlechte Gesellschaft geraten ist …«

»Wie denn?«, sagte Charlotte schnell. »Wir haben doch immer so gut auf sie aufgepasst. Wie sollte sie da in schlechte Gesellschaft geraten?«

»So etwas kommt vor, da dürfen wir uns nichts vormachen. Auch wenn … Auch wenn ihre Freunde aus den besten Familien stammen, können sie auf die schiefe Bahn geraten sein.«

»Möglich wäre es.«

»Und dann gibt es diese Rave-Partys. Ich habe gehört, dass sie manchmal das ganze Wochenende dauern.«

Charlotte schauderte. »Meinst du, sie nimmt Drogen?«

»Wenn sie wieder da ist, müssen wir jedenfalls ernsthaft mit ihr reden.«

Nachdem der Hubschrauber abgedreht hatte, trug die Abendbrise leise Stimmen und Rufe zum Haus herauf. Wegen des dichten Baumbestandes konnten Graham und Charlotte niemanden sehen, doch sie wussten beide, dass es die Männer waren, die am Berg nach ihrer Tochter suchten.

»Wahrscheinlich kennen wir nicht alle ihre Freunde«, sagte Graham. »Darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen. Und manchmal hat sie sich bestimmt auch an Orten herumgetrieben, von denen wir nichts wissen sollten.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Laura hatte keine Geheimnisse vor mir«, entgegnete sie. »Vor dir natürlich schon. Aber nicht vor mir.«

»Wenn du meinst, Charlotte.«

Charlotte kräuselte irritiert die Stirn, weil er ihre Kritik so widerspruchslos hinnahm. »Weißt du vielleicht mehr als ich, Graham? Weißt du etwas, was du mir nicht sagen willst?«

»Natürlich nicht.«

Er dachte an sein letztes Gespräch mit Laura. Es war am späten Donnerstagabend gewesen, als sie in sein Arbeitszimmer geschlüpft war und ihn überredet hatte, ihr ein Glas Whisky einzuschenken. Sie war aufgeregt gewesen, hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt, seinen Arm gestreichelt und ihn mit dem verführerischen Lächeln angesehen, das, wie sie sehr wohl wusste, auf alle männlichen Besucher des Hauses eine unwiderstehliche Wirkung hatte. Sie hatte sich wieder einmal die Haare gefärbt, ein dunkleres Rot als je zuvor, fast schon violett, und ihre Fingernägel waren so dunkel lackiert gewesen, dass sie schwarz wirkten. Dann hatte sie ihm mit diesem wissenden Blick in ihren Augen und diesem verstohlenen Zwinkern gesagt, was sie von ihm wollte. Am nächsten Morgen hatte er Lee Sherratt entlassen. Es war bereits der zweite Gärtner, den er in diesem Jahr verlor.

»Nein, natürlich nicht, Charlotte.«

Sie akzeptierte seine Antwort. »Und was ist mit dem Jungen, diesem Lee?«

Graham schwieg. Er legte ein weiches, ledernes Lesezeichen zwischen die Seiten des Romans und klappte ihn zu. Er nahm das Buch und das halb volle Glas Bacardi vom Tisch. Die Sonne war inzwischen fast völlig aus dem Tal verschwunden. Nur die zerklüfteten Grate der Witches glühten noch im Abendrot, von dem sich die bereits im Schatten liegenden Felsrinnen wie schwarze Streifen abhoben.

»Was ist mit ihm, Graham? Was ist mit dem Jungen?«

Er wusste, dass Charlotte in Laura noch immer das unverdorbene, unschuldige Mädchen sah. Und das würde ihre Tochter auch immer für sie bleiben. Aber Graham sah sie seit einiger Zeit mit anderen Augen. Und der Junge? Der Junge hatte seine Strafe bereits bekommen. Die Strafe dafür, dass er nicht nach Lauras Pfeife tanzen wollte. Lee Sherratt war zu stur gewesen, um sich auf ihre Spielchen einzulassen, und außerdem hatte er noch ein paar andere Eisen im Feuer. Deshalb hatte Graham ihn entlassen. Laura hatte es so gewollt.

»Er ist von der Polizei vernommen worden. Er hat ausgesagt, dass er Laura seit Tagen nicht mehr gesehen hat.«

»Glaubst du das?«

Er zuckte mit den Achseln. »Wer kann im Moment schon sagen, was man glauben soll?«

»Ich will mit ihm sprechen. Ich will ihn selbst fragen. Ich will ihn zwingen, die Wahrheit zu sagen.«

»Das wäre bestimmt keine gute Idee, Charlie. Überlass das lieber der Polizei.«

»Aber sie wissen Bescheid über ihn?«

»Natürlich. Sie haben ihn sowieso in ihren Akten. Wegen des Autodiebstahls.«

»Was für ein Autodiebstahl?«

»Du weißt doch. Vom Parkplatz oben auf dem Kliff wurde ein Wagen gestohlen. Laura hat uns davon erzählt.«

»Wirklich?«, sagte Charlotte vage.

Schließlich erlaubte sie ihm doch, sie zurück ins Wohnzimmer zu führen, wo sie die Hände über die vertrauten Einrichtungsgegenstände gleiten ließ – ein Kissen, die Rückseite eines bezogenen Stuhls, den Klavierhocker, eine Reihe goldgerahmter Fotos in einer Vitrine. Sie öffnete ihre Handtasche, zog sich die Lippen nach und zündete sich eine Zigarette an.

»Wer wollte morgen Abend sonst noch kommen?«, fragte sie.

»Die Wingates, Paddy und Frances. Sie bringen Freunde aus Totley mit, die offenbar groß im Computergeschäft sind und zurzeit in Doncaster und Rotherham Systeme installieren. Paddy meint, sie haben eine echte Zukunft in der Branche. Sie wären die idealen Klienten, aber ich müsste zusehen, dass ich möglichst schnell den Kontakt knüpfe.«

»Dann sollte ich mich wohl um das Essen kümmern.«

»Bist ein Schatz.«

Als sie sich zu ihrem Mann umdrehte, hatte sie keine Tränen in den Augen. Graham war erleichtert. Charlotte war keine Frau, die leicht weinte, und er hätte nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Stattdessen nestelte sie an ihrem Tuch, sodass er ihre braunen Schenkel und die sanfte Wölbung ihres Bauchs über dem Bikinihöschen sehen konnte.

»Du stehst auf Frances, nicht wahr?«, sagte sie.

Graham grinste, den Spruch kannte er schon. »Nicht so sehr wie auf dich, Charlie.«

Er wollte auf sie zugehen, aber sie wandte sich ab, nahm einen Fotorahmen aus der Vitrine und strich über die Ränder.

»Kannst du nicht zu Lee Sherratt gehen, Graham? Damit wir Laura zurückbekommen.«

»Lass es gut sein, Charlie.«

»Warum?«

»Weil die Polizei sie sowieso findet.«

»Meinst du?«

Der Rahmen, den sie in der Hand hielt, war leer. Sie hatten das Bild der Polizei gegeben, damit Laura identifiziert werden konnte, wenn man sie fand. Graham nahm Charlotte den Rahmen ab und stellte ihn wieder in die Vitrine.

»Ganz bestimmt«, sagte er.

Der Wutausbruch der alten Frau war vorbei, doch ihre knochigen Hände huschten immer noch fahrig über die geblümten Armlehnen des Sessels. Helen sah zu, wie sie sich allmählich wieder beruhigte und wie sie die Strickjacke hochzog, die ihr in der Aufregung von den Schultern gerutscht war.

»Ich habe Wasser aufgesetzt, Grandma.«

»Wie du meinst.«

»Möchtest du deine Spezialmischung?«

»Mach einfach eine Kanne Beuteltee. Aber tu einen mehr rein. Du weißt ja, wie ich ihn am liebsten mag.«

Helen stellte sich an das schmale Küchenfenster des Dial Cottage und wartete, dass das Wasser kochte. Wegen all der Küchengeräte, die ihr Vater seinen Schwiegereltern geschenkt hatte, war kaum noch Platz, um sich zu bewegen. Zwischen dem Herd und dem überdimensionalen Holztisch, der quer zur Spüle in den Raum gequetscht worden war, konnten nicht einmal zwei Leute stehen.

Der Tisch war mit Küchensachen übersät; Sets mit Szenen aus einem nordwalisischen Seebad, Minze- und Thymiansträußchen, ein Glas Orangenmarmelade, ein Glas mit hölzernen Kellen und Kochlöffeln, ein Kartoffelschäler mit Holzgriff, ein Hackbrett und eine Schüssel Wasser, in der eine halbe Zwiebel lag. Auf dem Linoleum neben der Hintertür standen ein Paar Gummistiefel und ein Spazierstock, und an dem Haken, der normalerweise für Harrys Mütze reserviert war, hing eine dunkelgrüne gewachste Jacke mit Cordkragen. Die Jacke hatte Helen ihm zum fünfundsiebzigsten Geburtstag geschenkt.

»So habe ich ihn noch nie erlebt«, sagte ihre Großmutter nebenan aus dem Sessel, ohne die Stimme erheben zu müssen, weil es bis zur Küche nur wenige Schritte waren. »So schlimm nicht. Wenn er überhaupt mit mir redet, dann nur, um mich anzuraunzen.«

»Hast du ihn mal gefragt, was mit ihm los ist?«

»Gefragt? Harry? Da kann ich genauso gut mit der Wand reden.«

»Vielleicht ist er krank, Grandma.«

»Na ja, er hatte letztens eine Erkältung.«

Helen sah, dass ihre Großmutter glaubte, Harry irgendwie verärgert und gegen sich aufgebracht zu haben. Sie selbst hatte eher den Verdacht, dass er schwer erkrankt war, dass ihn etwas quälte, was er lieber für sich behielt, ein schreckliches Geheimnis, das er seiner Frau und seiner Familie nicht zumuten wollte.

Bei einem Mann von Ende siebzig, der Raucher war, fast sein gesamtes Arbeitsleben in einer Bleimine zugebracht und in einem Weltkrieg gekämpft hatte, war so etwas nicht auszuschließen. Solche Gedanken wären ihrer Großmutter, Gwen, nie in den Sinn gekommen. Erst wenn man Harry auf den Friedhof von St. Edwin brachte, würde sie glauben, dass er etwas Ernsteres als eine schlimme Erkältung gehabt hatte.

»Aber krank oder nicht, es hat ihn jedenfalls nicht davon abgehalten, mit Jess spazieren zu gehen. Es hindert ihn auch nicht daran, mit seinen Freunden herumzuziehen.«

»Nein, Grandma.«

Helen spülte die Kanne heiß aus, gab drei Teebeutel hinein und goss kochendes Wasser auf.

Während sie den Tee ziehen ließ, blickte sie aus dem Fenster, hinaus in den Garten und hinunter ins Tal. Der Garten mit den Petunien- und Veilchenbeeten, den Reihen von Kartoffeln mit ihren weißen und gelben Blüten und den Stangen, um die sich die Bohnen rankten, wirkte hell und freundlich. Aber die Wälder, die sich bis ins Tal erstreckten, sahen beklemmend düster aus. Eine halbe Meile entfernt stand der Polizeihubschrauber über den Baumwipfeln. Sie suchten immer noch. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

»Er hat sich verändert. Und daran sind seine Freunde schuld. Er denkt mehr an sie als an mich. Mehr als an seine Familie.«

»Aber Granddad geht die Familie doch über alles.«

»Sie sind schuld. Wilford Cutts und der andere, Sam Beeley.«

»Sie sind doch nur seine Freunde. Seine alten Arbeitskollegen. Sie haben nichts damit zu tun.«

»Doch, das ist alles ihre Schuld.«

»Sie haben bestimmt nichts getan, Grandma. Es sind bloß seine Freunde aus der Glory Stone Mine. Er kennt sie doch schon ewig.«

»Aber früher war es anders, als sie noch gearbeitet haben. Jetzt haben sie ihn mir weggenommen und ihn auf komische Gedanken gebracht.«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Helen.

Dabei hatte sie selbst schon gerätselt, was die drei alten Männer wohl trieben, wenn sie zusammen auf dem Berg waren oder auf Wilfords heruntergekommener kleiner Farm, wo er eine Schar Hühner und eine seltsame Menagerie alter Tiere hielt. Manchmal brachte Harry eine Mütze voll gesprenkelter brauner Hühnereier oder einen Sack Kartoffeln von der Koppel mit, aus der Wilford und er ein großes Gemüsebeet gemacht hatten. Manchmal gingen die drei auch nur zusammen ins Wirtshaus, wo Sam Beetley in seinem Element war und die Runden bezahlte.

»Seit er nicht mehr arbeitet, ist er ein anderer geworden«, sagte Gwen. »Alle drei haben sich verändert. Es tut Männern nicht gut, wenn sie nichts zu tun haben. Jedenfalls diesen Männern nicht. Müßiggang ist aller Laster Anfang.«

»Jetzt redest du aber wirklich Unsinn, Grandma.«

Helen fand im Kühlschrank eine Packung H-Milch und gab vorsichtig ein paar Tropfen in die Tasse, damit der Tee schön stark blieb.

Ihre Großmutter hatte sich von dem alten Linoleum in der Küche nicht trennen können. Als im Wohnzimmer der neue Teppichboden verlegt wurde, hatte sie so lange behauptet, Linoleum sei wunderbar sauber zu halten, bis ihrem Schwiegersohn Andrew nichts anderes übrig geblieben war, als nachzugeben. Helen konnte sich die Küche ohne das blaue Linoleum genauso wenig vorstellen wie ohne die dunkle Eichenholzvertäfelung, die unebenen Wände und die weiß getünchten Türrahmen.

»Auf jeden Fall denkt er mehr an seine Freunde als an mich. Das steht fest. Das hat er gerade wieder bewiesen.«

»Denk einfach nicht mehr daran, Grandma. Lass dir deinen Tee schmecken.«

»Du bist ein gutes Kind. Du warst immer sein Liebling, Helen. Warum redest du nicht mal mit ihm?«

»Ich werde es versuchen«, versprach Helen.

Sie stellte sich neben den Sessel der alten Frau, deren Kopfhaut rosa durch das schüttere weiße Haar hindurchschimmerte. Am liebsten hätte sie ihr den Arm um die Schultern gelegt, sie gedrückt und ihr gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Aber es wäre ihrer Großmutter peinlich gewesen, und außerdem war sie sich selbst nicht ganz sicher, ob sich wirklich alles wieder einrenken würde. Überwältigt von einem Gefühl der Zuneigung und der Frustration, wandte sie sich ab.

Dann sah sie ihren Großvater, eine kleine Gestalt unten auf dem Bergpfad, die gerade am Fuß der Raven’s Side aus den Bäumen hervortrat. Ob es an der Art lag, wie er sich bewegte, oder an seinen durchgedrückten Schultern, konnte sie selbst nicht sagen, aber sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

Gwen legte den Kopf auf die Seite und musterte sie, als wäre ihr Helens gespanntes Schweigen aufgefallen.

»Was hast du, Kind?«

»Nichts, Grandma.«

Helen entriegelte die Hintertür und stellte sich auf die weiß getünchte Stufe. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Erinnerungen würden aus dem alten Cottage hinter ihr aufsteigen, wie Rauchwolken aus einem brennenden Haus. Es waren Kindheitserinnerungen, hauptsächlich an ihren Großvater – wie er sie an der Hand nahm und mit ihr den Weg hinunter zum Bach ging, wo sie Fische beobachtete und Blumen für eine Gänseblümchenkette pflückte, wie ihr Großvater sie stolz auf seinen Schoß setzte und ihr zeigte, wie er seine Pfeife stopfte, die er mit einem langen bunten Papierfidibus anzündete. Sogar Gerüche schienen ihr in die Nase zu steigen und in Sekundenschnelle wieder zu verfliegen, aber die mit ihnen verbundenen Gefühle waren so intensiv, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Es waren die erinnerten Gerüche von Pfeifenrauch, Pomade und Schuhcreme.

Harry hatte schon damals ständig seine Schuhe geputzt, und bis heute war diese Manie ein unverwechselbares Kennzeichen, an dem sie ihren Großvater erkannte, so sehr er sich auch sonst im Laufe der Jahre verändert hatte. Ohne dieses und einige andere Merkmale wäre er für das Kind, das ihn als starken, unverwüstlichen Mittfünfziger erlebt hatte, im Alter vielleicht zum Fremden geworden.

In diesem Augenblick hätte sie ihren Großvater allein an seinem Gang erkannt. Es war ein gemessener, zielgerichteter Gang, aufrecht und feierlich, der Schritt eines Soldaten bei einem Begräbnis, den Sarg eines verstorbenen Kameraden auf den Schultern.

Der Hubschrauber drehte abermals ab und kam genau auf sie zu. Zwei Gesichter starrten zu ihr herunter, ausdruckslos hinter dunklen Brillengläsern. Helen hatte das Gefühl, als ob die Polizisten direkt in ihr Herz sehen könnten. Ihre Anwesenheit war irgendwie persönlich, fast intim, und doch waren sie immer zu weit entfernt.

Kühler Grund

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