Читать книгу Kühler Grund - Stephen Booth - Страница 9
Оглавление4
Die Polizei-Zentrale der Dienststelle E in Edendale hatte ihrem Architekten in den Fünfzigerjahren einen Preis eingebracht. Aber in den letzten Jahrzehnten hatten vor sich hin gammelnde Akten, Zigarettenqualm und schlechtes Essen ihre Spuren an den Wänden und ihren Geruch im Teppichboden hinterlassen. Vor kurzem waren aus dem knappen Etat der Derbyshire Polizeiverwaltung Mittel bereitgestellt worden, um die Wände zu tapezieren, die Fensterrahmen zu erneuern und in einigen Büros eine Klimaanlage zu installieren. Auch die alten Holzschreibtische waren gegen moderne ausgetauscht worden, die besser zu den neuen Computern passten.
DC Diane Fry las Berichte. Sie hatte mit den aktuellsten begonnen und war dann die Fälle der vergangenen Wochen durchgegangen. Sie wollte sich einen Überblick über die jüngsten Ermittlungen der Abteilung verschaffen. Obwohl sie nun schon seit fast zwei Wochen in Edendale war, fühlte sie sich immer noch fremd, so frisch wie die Farbe an der Außenwand neben dem Fenster, die aus unerfindlichen Gründen nicht trocknen wollte. Alle Fenster auf dieser Seite gingen auf das Tor C und die Osttribüne des Fußballvereins hinaus, dessen Mannschaft in den unteren Regionen einer der zahllosen Ligen herumkrebste.
Ganz oben auf der Prioritätenliste standen zurzeit die Aktivitäten von Autoknackern an beliebten Ausflugsorten. Dem gelangweilten Ton einiger Berichte nach zu urteilen, schien das Problem zu dieser Jahreszeit in der Dienststelle E immer höchste Priorität zu genießen. Die Touristenscharen, die im Sommer den Nationalpark Peak District besuchten, zogen ihre eigene Verbrechenswelle nach sich, wie ein Ozeanriese sein Kielwasser. Die Besucher parkten an abgelegenen Stellen, auf provisorischen Parkplätzen im offenen Gelände, in stillgelegten Steinbrüchen und am Straßenrand. Natürlich waren die Autos mit Kameras, Ferngläsern, dicken Brieftaschen, Kreditkarten und allen möglichen anderen Wertgegenständen voll gestopft. Gleichzeitig reisten aus den Ballungszentren Sheffield im Osten und Manchester im Westen Kriminelle an, die auf eben diese leichte Beute aus waren. Nur wenige Minuten mit einem unbeaufsichtigten Fahrzeug genügten ihnen, dann waren sie schon wieder auf dem Rückweg in die Stadt und ließen verzweifelte Touristen und zerstörte Urlaubsträume hinter sich zurück.
Das Problem schien unlösbar. Es war nicht möglich, die Autobesitzer zu warnen, weil die Touristenströme ständig in Bewegung waren und kaum jemand mehrere Tage an einem Ort blieb. Es war auch nicht möglich, die besonders gefährdeten Stellen zu überwachen, dazu reichten die verfügbaren Kräfte nicht aus. Es gab nur eine praktikable Lösung, nämlich potenzielle Straftäter im Vorfeld zu identifizieren und sie durch die Kollegen in der Großstadt beobachten zu lassen. Das Prinzip Hoffnung.
Diane Fry warf einen Blick auf Detective Sergeant Rennie. Er telefonierte, und das schon seit geraumer Zeit. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass er sich mit dem Kugelschreiber, auf dem er herumkaute, noch keine einzige Notiz gemacht hatte. Er hatte breite Schultern und einen Stiernacken und war, wie sie einem seiner Gespräche mit einem anderen Detective Constable entnommen hatte, ein altgedienter Stürmer im Rugby-Team der Dienststelle. Außerdem wusste sie, dass er mit Vornamen David hieß, verheiratet war und zwei halbwüchsige Kinder hatte.
Es hatte nicht lange gedauert, bis ihr aufgefallen war, wie er sie heimlich von der Seite ansah, wie sein Blick zu ihr hinüberwanderte, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie kannte diese Blicke von früher, zaghafte erste Annäherungsversuche an eine jüngere Kollegin, die, wenn es nach den Männern ging, in einem Techtelmechtel endeten. Natürlich ging es bei vielen nie über dieses erste Manöver hinaus; es drückte eher eine vage Hoffnung als eine konkrete Absicht aus. Aber es gab auch Kollegen, die lästig werden konnten, und Fry vermochte noch nicht einzuschätzen, zu welcher Sorte Rennie gehörte. Immerhin war sie nun vorgewarnt und konnte selbst entscheiden, wann es Zeit wurde, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Affären mit Kollegen standen bei ihr nicht auf der Tagesordnung. Ganz und gar nicht.
Obwohl ein Detective Chief Inspector im Haus war, der jeden Augenblick hereinkommen konnte, machte Rennie sich noch nicht einmal die Mühe, so zu tun, als ob er arbeitete.
»Sergeant?«, sagte Fry, als er endlich den Telefonhörer aufgelegt hatte.
Rennie sah sich um, als wäre er erstaunt, dass sie noch da war. Dann grinste er und rang sich fast so etwas wie ein Zwinkern ab. Er trug eine dunkelgrüne Krawatte mit einem kleinen Goldwappen; sein Anzug war zwar gut geschnitten und kaschierte seine breiten Schultern, aber er hatte eine Reinigung nötig. Er steckte sich einen Streifen Kaugummi in den Mund, eine leidige Angewohnheit, aus der Fry schloss, dass er sich erst vor kurzem das Rauchen abgewöhnt hatte.
»Was kann ich für Sie tun, Diane?«
»Es geht um die Projektgruppe, die sich um die Autoknacker kümmert.«
»Ja?«
»Ich habe mich gefragt, ob die Sache wohl schon mal mit dem Computer gecheckt worden ist. Ein Abgleich von Orten und Zeiten. Eine Analyse der Vorgehensweisen. Wir könnten ein Computermodell erstellen.«
»So was macht bei uns normalerweise Ben Cooper«, sagte Rennie. »Am besten lassen Sie den Computer in Ruhe, bis Sie mit ihm gesprochen haben.«
»Mit Hilfe eines Computermodells könnten wir die Taten vielleicht vorhersagen und bestimmte Zielorte anpeilen. Es wäre einen Versuch wert, Sergeant.«
»Wie ich schon sagte, fragen Sie Ben. Er musste nach Moorhay raus, aber Gott sei Dank kommt er später noch mal ins Büro.«
Während ihrer ersten Woche in Edendale hatte Fry Ben Coopers Namen bereits des Öfteren gehört. Anscheinend war er ein Ausbund an Tugend und wusste einfach alles. DC Cooper kannte die Gegend wie seine Westentasche, hieß es. Er kannte offenbar alle einheimischen Straftäter und sogar ihre Familien. Er wusste, wie alles im Büro funktionierte. Er bewältigte Berge von Papierkram, über denen die anderen Kripobeamten verzweifelten, mit links. Nun war er offenbar auch noch der einzige, der wusste, wie man einen Computer bediente. Aber Diane Fry hatte eine Informatikausbildung, und sie hatte auf der Polizeiakademie in Bramshill einen Kurs über Datenanalysen absolviert. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit würde sie ihnen schon zeigen, wer sich hier mit dem Computer auskannte. Vorläufig wollte sie es aber erst einmal mit einer anderen Taktik probieren.
»Jemand vom NCIS hat über dieses Problem vor ein paar Monaten einen Bericht verfasst. Ich habe in Bramshill davon gehört.«
»Ach, ja?«
Rennie schien nicht interessiert.
»Vom National Criminal Intelligence Service.«
»Danke, ich weiß, was der NCIS ist.«
»Ich habe mich nur gefragt, ob jemand die Sache recherchiert hat. In den Unterlagen steht nichts davon. Vielleicht hat die Arbeitsgruppe den Ansatz aufgegriffen?«
»Glaube ich kaum.«
»Ich könnte es nachprüfen, wenn Sie wollen, Sergeant.«
Rennie zerrte mürrisch an seiner Krawatte, wühlte auf seinem Schreibtisch nach einem Zettel und griff wieder zum Telefonhörer.
»Soll ich, Sergeant?«
»Von mir aus.«
Fry machte sich eine Notiz und markierte den Eintrag mit einem Sternchen. Dann legte sie die Akten über die Autoknacker zur Seite und vertiefte sich in den Bericht über das vermisste Mädchen, Laura Vernon. Sie hatte ihn bereits einmal gelesen und sich die spärlichen Einzelheiten eingeprägt, die darin enthalten waren. Für solche Dinge hatte sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie kannte sämtliche Kleidungsstücke, die das Mädchen zuletzt getragen hatte, bis hin zu dem blauen Slip und den Reeboks, Größe 38, slim fit. Wenn sie als Erste auf einen dieser Gegenstände stieß, würde sie ihn sofort erkennen. Aber dafür müsste man sie natürlich zuerst einmal an der Suche beteiligen.
Alle verfügbaren Kräfte waren bereits mit der Fahndung nach Laura Vernon beschäftigt. Das heißt, alle Kräfte bis auf Detective Constable Diane Fry und Detective Sergeant David Rennie. Sicher, Fry war neu in der Dienststelle, aber was hatte Rennie verbrochen? Zurzeit war er in der Dienststelle E für die Alltagsdelikte zuständig, und Fry war seine einzige Mitarbeiterin. Nicht gerade ein Gespann, das den Eindruck erweckte, eine Verbrechenswelle aufhalten zu können. Und im Moment versuchten sie es nicht einmal.
Fry stand von ihrem Schreibtisch auf und ging hinüber, um sich den aktuellen Stand der Ermittlungen in Sachen Laura Vernon anzusehen. Der Fall war zwar noch keine 48 Stunden alt, aber die Akte war schon jetzt ziemlich dick. Die Maschinerie des Polizeiapparats hatte sich in Bewegung gesetzt, obwohl der Fall noch nicht zur Mordsache erklärt worden war – schließlich gab es auch noch keine Leiche. Teenager liefen schließlich dauernd von zu Hause weg und tauchten normalerweise ein paar Tage später, ausgehungert und verlegen, wieder auf. Laura hatte Geld – ihre Eltern gaben an, dass sie bis zu 30 Pfund bei sich haben könnte; offensichtlich wurde sie nicht knapp gehalten. Aber sie hatte weder Kleidung oder sonst etwas mitgenommen. Das war ein signifikanter Faktor. Doch es gab noch zwei weitere Gründe, warum die Ermittlungen in diesem Fall besonders schnell angelaufen waren. Zum einen hatte eine Zeugin Laura Vernon kurz vor deren Verschwinden hinter der elterlichen Villa mit einem jungen Mann sprechen sehen, und danach hatte sie seit fast zwei Tagen niemand mehr zu Gesicht bekommen.
Der andere dringende Grund, der in der Akte heruntergespielt wurde, sich aber wie ein roter Faden durch alle Berichte zog, war der noch ungeklärte Mord an der sechzehnjährigen Susan Edson in der benachbarten Dienststelle B vor wenigen Wochen.
Jeder wusste, dass es bei den Ermittlungen besonders auf die ersten zwei, drei Tage ankam, falls sich erweisen sollte, dass es sich um einen Mord oder ein anderes Gewaltverbrechen handelte. Während der ersten 72 Stunden waren die Erinnerungen der Zeugen noch frisch, und der Täter hatte kaum Zeit, sich der Beweise zu entledigen oder ein Alibi zurechtzubasteln. Gleichzeitig erhöhte schnelles Handeln die Chancen, Laura Vernon lebend zu finden.
Fry stellte interessiert fest, dass der Polizei bereits im Anfangsstadium ein möglicher Tatverdächtiger präsentiert worden war, ein junger Mann namens Lee Sherratt, auf den die Eltern hingewiesen hatten und der bereits im Zuge der Erstermittlungen von Beamten befragt worden war. Er bestritt, der junge Mann zu sein, mit dem Laura zuletzt gesprochen hatte, aber er hatte kein Alibi. Man hatte Sherratts Vorstrafen aus dem Zentralregister abgerufen – einige kleinere Delikte, manche davon noch aus Teenagertagen. Es war nicht viel, aber es reichte, um seinen Namen zunächst ganz oben in der Akte zu führen, bis er endgültig als Tatverdächtiger ausgeschlossen werden konnte.
Den Berichten zufolge wurde die Suche im Gelände von einem uniformierten Beamten der Spezialeinheit aus Chesterfield geleitet. Für die kriminalpolizeilichen Ermittlungen war Detective Inspector Paul Hitchens zuständig, der wiederum Detective Chief Inspector Steward Tailby unterstellt war. Da Moorhay nur ein kleines Dorf war, hatten die Beamten bereits sämtliche Häuser abklappern können. Alle Freunde, Bekannten und Verwandten in der näheren Umgebung waren befragt worden. Keine Spur von Laura Vernon, keine Anhaltspunkte für ihren Verbleib.
Inzwischen war die gründliche Durchsuchung des Gebietes im vollen Gange. Beamte, die eigentlich dienstfrei hatten, und Hundestaffeln unterstützten die Suche am Boden, der Hubschrauber war im Einsatz. Außerdem beteiligten sich Nationalparkranger an der Aktion, und das Team von der Bergrettung durchkämmte die Hochmoore oberhalb der Dörfer. Und natürlich war auch Detective Constable Mr. Perfect persönlich an Ort und Stelle. Dann war der Fall ja so gut wie gelöst.
Fry hatte DI Hitchens an ihrem ersten Arbeitstag kennen gelernt. Er war ihr Vorgesetzter – zumindest kam er gleich nach DS Rennie, und dass Rennie nicht zählte, stand für sie jetzt schon fest. Hitchens war jünger als der Sergeant und besser ausgebildet. Also eine schnelle Beförderung; vielleicht war er auch ein Überflieger, genau wie sie. Er würde bestimmt Karriere machen, und in den oberen Etagen legte man auf seine Meinung sicher Wert. Fry wünschte sich nichts sehnlicher, als draußen im Gelände zu sein und an einem großen Fall zu arbeiten, als rechte Hand von DI Hitchens, mit der Chance, Eindruck zu machen. Sie hatte nicht die Absicht, sich lange mit Autoknackerstatistiken herumzuschlagen. Ein Mordfall wäre genau das Richtige. Aber er war zu früh gekommen, sie war noch zu neu im Revier. Also hielt sie vorerst mit Rennie im Büro die Stellung.
In ein, zwei Stunden musste die Suche nach Laura Vernon ohnehin abgebrochen werden. Selbst im August wurde es in den Bergen irgendwann dunkel, die Suchtrupps würden sich auflösen, die Beamten niedergeschlagen nach Hause gehen. Morgen würde es in der Zeitung und im Fernsehen Aufrufe an die Öffentlichkeit geben, und zivile Freiwillige würden sich melden, um sich an der Suche zu beteiligen.
Fry wusste, dass sie nur zwei Alternativen hatte. Entweder sie vertrieb sich irgendwie die Zeit, bis Rennie ihr eine Aufgabe zuwies, oder sie ergriff selbst die Initiative und fing langsam an, den neuen Kollegen zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Aber sie hielt den Mund. Die Zeit war noch nicht reif – sie musste erst ihre Stellung festigen. Außerdem lohnte es die Mühe nicht, DS Rennie zu beeindrucken.
Dann ging die Tür auf und DI Hitchens steckte den Kopf ins Büro. »Wen haben wir hier? Ach, ja.«
Er sah enttäuscht aus, wie der Kapitän einer Mannschaft, dem bei der Spielerauswahl nur noch die Nieten geblieben waren, die sonst niemand haben wollte. Hitchens trug kein Jackett, die Manschetten seines Hemdes hatte er hochgerollt, sodass man seine stark behaarten Arme sah. Er war Mitte dreißig und wirkte immer so, als ob er gleich lächeln wollte. Fry, die seinen Blick aufgefangen hatte, sah zu Rennie hinüber, der zwar den Fuß vom Schreibtisch genommen, sich aber ansonsten kaum gerührt hatte.
Hitchens nickte. »Kommen Sie hier für eine Weile allein klar, Dave?«
»Aber sicher, Sir.«
Fry sprang auf. »Wohin gehen wir, Sir? Hat es etwas mit der vermissten Laura Vernon zu tun?«
»Was sonst? Ja, es wurde ein Fund gemeldet. Wir haben einen guten Mann vor Ort, der die Sache zurzeit noch überprüft, aber es klingt vielversprechend. Können Sie in zwei Minuten fertig sein?«
»Natürlich.«
Als der DI das Büro wieder verlassen hatte, ging Diane Fry zu ihrem Schreibtisch, um die Berichte über die geknackten Autos wegzuräumen. Dabei achtete sie darauf, Dave Rennie den Rücken zuzudrehen, damit er ihr Lächeln nicht sehen konnte.
Edendale war in ein breites Tal eingebettet, das den Peak District in zwei völlig unterschiedliche Hälften teilte. Auf der einen Seite lag der White Peak, der sich mit seinen sanften Kalksteinhügeln und den bewaldeten Tälern an Bakewell und Wyedale vorbei bis in das Gebiet der Dienststelle B und an die Grenzen von Staffordshire erstreckte, auf der anderen der spärlich besiedelte Dark Peak mit seinen trostlos kahlen Mooren und den Gipfeln des Mam Tor und des Kinder Scout, die wachsam auf die abgelegenen, stillen Talsperren unterhalb vom Snake Pass hinunterblickten.
Edendale war eine von zwei Städten, die innerhalb der Grenzen des Nationalparks lagen, die andere war Bakewell, einige Kilometer weiter südlich, eins der Reviere der Dienststelle E. Andere Städte, wie Buxton, wo die Zentrale der Dienststelle B lag, waren bei der Festlegung der Nationalparkgrenzen absichtlich ausgegliedert worden.
Um Buxton, wie auch um Matlock und Ashbourne, machte die Grenze einen großen Bogen. Aber Edendale lag zu tief in den Bergen, um aus dem Nationalpark herausgetrennt zu werden. Deshalb galten die strengen Naturschutz- und Bauvorschriften für die Stadt genauso wie für die Felswände des Mam Tor oder die Blue-John-Höhlen in Castleton.
Diane Fry musste sich mit der Geografie von Stadt und Tal erst noch vertraut machen. Bis jetzt kannte sie nur die unmittelbare Umgebung des viktorianischen Gebäudes, in dem ihre Wohnung lag, und die Straßen in der Nähe der Wache – einschließlich des Blicks auf die Tribüne des Edendale FC. Immerhin wusste sie schon, dass es, wenn man aus Edendale hinausfuhr, immer nur eine Richtung gab und zwar bergauf, ganz gleich, welche Route man auch wählte, ob zu den abgelegenen Höfen im Moor oder zu den Dörfern im nächsten Tal.
Fry war eine gute Autofahrerin, sie hatte bei der Polizei der West Midlands ein spezielles Verfolgungstraining absolviert. Aber DI Hitchens lenkte den Wagen selbst aus der Stadt auf das Hochmoor zu, das Edendale vom nächsten Tal trennte.
»Es ist nur ein Schuh«, sagte Hitchens.
»Ein Turnschuh?«, fragte Fry. »Reebok, Größe 38?«
Der DI sah sie überrascht an.
»Sie haben sich über den Fall Vernon informiert.«
»Ja, Sir.«
»Es war von Anfang an nicht auszuschließen, dass ihr etwas passiert ist, obwohl man das den Eltern natürlich nicht sagen kann. Sie hatte außer Geld nichts bei sich. Bei ihren Freunden und Bekannten haben wir nur Nieten gezogen. Wir müssen wohl damit rechnen, ihre Leiche zu finden.«
»Was ist sie für ein Mädchen?«
»Wohlhabendes Elternhaus, keine Geldsorgen. Ich würde sagen, es hat ihr nie an etwas gefehlt. Sie besucht eine Privatschule, die High Carrs heißt, und hätte nächstes Jahr die Mittlere Reife machen sollen. Sie bekommt Klavierunterricht und hat ein eigenes Pferd, ein Geschenk ihrer Eltern. Es ist in einem Stall außerhalb von Moorhay. Manchmal nimmt sie an Turnieren teil.«
»Im Springreiten?«
»Nehme ich an.«
»Und ist sie in irgendetwas davon gut?«
Hitchens nickte anerkennend. »Wenn Sie die Eltern hören, ist sie in allem perfekt. Studium in Oxford oder Cambridge und später vielleicht noch eine Karriere als Konzertpianistin. Natürlich nur, wenn sie bis dahin bei der Olympiade keine Goldmedaille gewonnen hätte. Bei ihren Freunden hört sich das alles etwas anders an.«
»Jungengeschichten?«
»Natürlich. Was sonst? Mum und Dad streiten es allerdings ab. Sie sagen, dafür hat sie keine Zeit, wegen der Schule und der Reiterei. Aber wir sind schon dabei, die Jungen zu ermitteln.«
»Streit zu Hause? Irgendwelche Auseinandersetzungen?«
»Nichts. Jedenfalls …«
»Jedenfalls nicht, wenn man den Eltern glauben darf?«
»Volltreffer.«
Hitchens lächelte. Fry mochte es, wenn ihre Vorgesetzten lächelten, solange es im Rahmen blieb. Sie betrachtete seine Hände, die auf dem Lenkrad lagen. Kräftige Hände mit sauberen, gepflegten Fingernägeln. Die Nase war im Profil etwas zu groß geraten. Eine so genannte Adlernase. Aber ein Mann konnte sich eine solche Nase leisten – sie verlieh ihm Charakter. Sie warf einen Blick auf seine linke Hand. Kein Ehering, dafür aber eine weiße Narbe, die sich über die mittleren Knöchel dreier Finger zog.
»Die Eltern geben an, Laura sei an dem Nachmittag vor ihrem Verschwinden mit ihrer Mutter einkaufen gewesen«, sagte Hitchens. »Sie waren in Belper, im De Bradelei Centre.«
»Was gibt es da?«
»Ach – Klamotten«, sagte er unbestimmt.
»Dad war nicht mit?«
»Wahrscheinlich hatte er keine Lust. Außerdem haben ihm die beiden Frauen ein Geburtstagsgeschenk gekauft, sie hätten ihn also sowieso nicht mitgenommen. Er ist zu Hause geblieben und hat gearbeitet. Graham Vernon ist Finanzberater und sagt, das Geschäft läuft sehr gut. Die Familie scheint wirklich ziemlich reich zu sein.«
»Und als sie wieder zu Hause waren?«
»Da war es ungefähr halb sechs. Weil es immer noch warm war, hat Laura sich umgezogen und ist ein bisschen in den Garten gegangen. Als sie bis zum Abendessen um halb acht nicht zurück war, bekamen es die Vernons mit der Angst zu tun.«
Fry war beeindruckt, dass er alle Einzelheiten im Kopf hatte und sie mühelos abrufen konnte. Offensichtlich besaß Hitchens die Art von Intelligenz, die heutzutage bei der Polizei hoch im Kurs stand. Viele Beamte hätten die Informationen nicht wiedergeben können, ohne auf ihre Notizen zurückzugreifen.
»Die Eltern geben sich gegenseitig ein Alibi?«
»Ja.«
»Aber sie wurde doch mit einem jungen Mann gesehen, bevor sie verschwand, nicht wahr?«
»Sehr gut, Diane. Ja, wir haben eine Frau ausfindig gemacht, die am Rande des Baulk Blumen gepflückt hat. Sie ist Mitglied des Frauenvereins und hilft bei der Dekoration für ein Brunnenfest in Great Hucklow. Kaum zu glauben, aber es war ihr peinlich, darüber zu reden. Sie dachte, wir würden sie verhaften, weil sie Wildblumen gestohlen hat. Ihre Kinder haben ihr erzählt, so etwas sei eine Umweltsünde. Aber die Dekoration des Brunnens war ihr offenbar so wichtig, dass sie sich vom Pfad der Tugend hat abbringen lassen. Jedenfalls hat sie sich trotzdem gemeldet und Laura Vernon anhand einer Fotografie identifiziert. Den Jungen, mit dem sie gesprochen hat, konnte die Frau allerdings nicht beschreiben. Er war zu weit entfernt.«
»Und jetzt ein Turnschuh.«
»Ja, das ist alles, was wir bis jetzt haben, aber es ist immerhin ein Anhaltspunkt. Wir haben Ben Cooper vor Ort – er war bei einem der Suchtrupps. Ben hat ein gutes Urteilsvermögen.«
»Da bin ich mir sicher.«
»Ach, dann haben Sie Cooper schon kennen gelernt? Er ist erst heute aus dem Urlaub zurückgekommen.«
»Nein, aber ich habe von den Kollegen schon viel über ihn gehört.«
»Verstehe.« Hitchens schwieg eine Zeit lang und konzentrierte sich auf eine Kreuzung, an der in regelmäßigen Abständen schwere Lastwagen vorbeidonnerten, die eine Wolke aus Kalksteinstaub am Straßenrand verteilten. Fry versuchte seine Gedanken zu erraten. Sie fragte sich, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Aber sie konnte sich darauf verlassen, dass ihre Stimme keine Emotionen preisgab. Sie hatte es so lange geübt, bis sie immer nur positiv klang.
»Und wie gefällt es Ihnen bei uns, Diane? Haben Sie sich schon etwas eingelebt?«
»Sehr gut, Sir. Es wird zwar manches etwas anders gehandhabt, als ich es gewohnt bin, aber damit komme ich schon zurecht.«
»Das ist gut. Dave Rennie behandelt Sie anständig?«
»Kein Problem«, sagte Fry. Ihr war nicht entgangen, dass der DI sie Diane nannte, seit sie mit ihm allein im Auto saß. Sie achtete auf solche Dinge, für den Fall, dass sie eine tiefere Bedeutung hatten. Vielleicht konnte sie ihrerseits auf das Sir verzichten. Mal sehen, ob sie damit den richtigen Ton traf. Freundlichkeit unter Kollegen, statt Förmlichkeit zwischen Vorgesetztem und Untergebener. Aber mehr nicht.
»Ist es Ihnen bei uns in Derbyshire nicht zu ruhig nach den West Midlands?«
»Eine angenehme Abwechslung«, sagte Diane. »Außerdem hat die Dienststelle E sicher auch genügend Herausforderungen zu bieten.«
Hitchens lachte. »Die anderen Dienststellen nennen uns E wie einfach.«
Fry hatte von ihren neuen Kollegen bereits gehört, dass es einzig und allein alphabetische Gründe gewesen waren, warum Edendale als Sitz der Zentrale der Dienststelle E den Vorzug vor Bakewell oder auch Matlock bekommen hatte. Es war eine Eigentümlichkeit der Polizeistruktur in Derbyshire, dass alle regionalen Zentren in Städten angesiedelt waren, die mit dem passenden Buchstaben begannen – A in Alfreton, B in Buxton, C in Chesterfield und D in Derby.
Deshalb wäre es nie in Frage gekommen, die Dienststelle E in Bakewell oder Matlock einzurichten. Es hätte nicht zum Profil einer modernen Polizeitruppe gepasst. Und hätte es nicht zufälligerweise schon eine Stadt gegeben, die Edendale hieß, hätte man wohl eine erfinden müssen.
»Ich dachte eher an die Freizeitmöglichkeiten«, sagte Hitchens. »Edendale ist ja nicht gerade die Vergnügungsmetropole Europas. Ein bisschen öde im Vergleich zu Birmingham, würde ich meinen.«
»Es kommt wohl immer darauf an, wonach man sucht.«
Er wandte sich ihr zu, die Hände lässig auf dem Lenkrad. »Und wonach genau sucht Diane Fry?«
Gute Frage. Es gab nur eine Antwort, die Fry auch sich selbst gegenüber gelten ließ. Vielleicht war es nicht das, was Hitchens hören wollte, aber es war etwas, was er wissen musste. Besser früher als später.
»Ich möchte in meinem Beruf vorankommen«, sagte sie.
»Aha.« Er zog die Augenbrauen hoch, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er sah wirklich nicht übel aus, und er trug keinen Ehering.
»Ich bin gut«, sagte sie. »Ich möchte nach oben kommen. Das ist mir wichtig. Zurzeit zumindest.«
»Warum auch nicht? Es gefällt mir, dass Sie so ehrlich sind.«
Die Hauptstraße nach Buxton führte immer höher hinauf, bis sie auf eine Hochebene mündete, wo die Kalksteinbrüche mit den Mooren als Hintergrundkulisse wetteiferten. An einer günstigen Stelle stand das Light House, ein Wirtshaus, von dem man eine überwältigende Aussicht auf die zwei Nachbartäler und die dahinter liegenden Berge hatte. Hitchens bog in eine Nebenstraße ab, bevor sie die Steinbrüche erreichten, und dann begann das sanfte Auf und Ab der kleineren Täler und Hügel, sacht abfallend in Richtung Wyedale. Hin und wieder glitt das Gatter einer Farm vorbei, mit einem schwarzweißen Schild, auf dem der Name einer Milchviehherde stand. Auf den Feldern hinter den Steinmauern lagerten runde Strohballen oder in schwarzes Plastik gewickelte Silage.
»Ich kenne natürlich Ihre Personalakte«, sagte Hitchens. »Nicht schlecht.«
Fry nickte. Sie wusste, dass sie nicht schlecht war. Sie war verdammt gut. Sie hatte bei allen Prüfungen als eine der Besten abgeschnitten. Seit sie bei der Kripo war, hatte sie eine überdurchschnittliche Aufklärungsrate aufzuweisen. In den West Midlands hatte sie eine Karriere vor sich gehabt und war für größere Aufgaben vorgesehen gewesen. Das konnte jeder sehen.
»Es ist eine Schande, dass Sie Ihre alte Truppe verlassen mussten«, sagte Hitchens.
Sie schwieg und wartete auf die Bemerkung, die unweigerlich folgen musste.
»Aber es ist verständlich. Unter diesen Umständen.«
»Ja, Sir.«
Unter diesen Umständen. Genauso versuchte es auch Fry inzwischen zu betrachten. Die Umstände. Ein wunderbar kalter und objektiver Ausdruck. Umstände waren etwas, was andere Leute betraf, nicht etwas, was das eigene Leben auf den Kopf stellte, was einem die Selbstachtung raubte und alles zu zerstören drohte, was man je für erstrebenswert gehalten hatte. Über die Umstände konnte man sich nicht aufregen. Man konnte damit weiterleben und sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Unter Umständen.
Sie fuhren einen Hügelkamm entlang, auf dessen einer Seite ein steiniger Hang steil zu einem kleinen Fluss hin abfiel. Allmählich verstellten immer mehr Bäume den Blick. Hier und da stand in einiger Entfernung zur Straße ein Haus, nicht alle davon bewirtschaftete Farmen.
»Keine bleibenden Folgen?«, fragte Hitchens.
Fry konnte es ihm eigentlich nicht verdenken, dass er noch einmal nachhakte. Das war früher oder später zu erwarten gewesen. Natürlich war das Thema auch bei ihrem Vorstellungsgespräch zur Sprache gekommen, und sie hatte die vorsichtig formulierten Fragen angemessen beantwortet, sehr vernünftig und emotionslos. Aber damit war die Sache bei Leuten wie DI Hitchens, auf deren Fürsprache sie angewiesen war, wenn sie weiterkommen wollte, noch längst nicht vom Tisch. Sie sah es nur als eine weitere Hürde, die sie nehmen musste.
»Überhaupt keine«, sagte sie. »Damit bin ich fertig. Ich denke nicht mehr daran. Ich will einfach nur meine Arbeit machen.«
»Berufsrisiko, hm? Augen zu und durch?«
»So könnte man es vielleicht ausdrücken, Sir.«
Er nickte beruhigt. Einen Augenblick lang fragte sich Fry, wie er wohl reagieren würde, wenn sie das täte, wonach ihr im Innersten wirklich zu Mute war, wenn sie brüllte und schrie und ihm mit den Fäusten das selbstgefällige Lächeln aus dem Gesicht prügelte. Sie war stolz auf ihre Selbstbeherrschung; sie hatte gelernt, die Wut fest in sich zu verschließen.
Plötzlich wurde die Bebauung auf beiden Seiten der Straße dichter, obwohl noch kein Schild auf das Dorf hingewiesen hatte. Rechts lagen eine kleine Schule, einige ehemalige Farmgebäude, in denen jetzt kunstgewerbliche Werkstätten untergebracht waren, und ein winziges Dorfpostamt mit angeschlossenem Laden. Über den Dächern ragte der eckige Turm einer Kirche auf, umgeben von stattlichen Kastanien- und Ahornbäumen.
Auf einem geschotterten Parkplatz standen mehrere Autos und Lieferwagen. Sobald DI Hitchens angehalten hatte, kam Police Constable Wragg an das Fenster des Wagens, einen Plastikbeutel in der Hand, in dem ein Reebok-Turnschuh lag. Wragg schwitzte.
»Wragg? Wo ist DC Cooper?«
»Der alte Mann zeigt ihm, wo er den Schuh gefunden hat, Sir.«
»Wie kommt Cooper denn dazu? Er hätte warten müssen«, sagte Hitchens.
»Der Alte wollte nicht warten. Heute ist nämlich sein Domino-Abend. Entweder jetzt oder nie, hat er gesagt.«
»Sein Domino-Abend?«
Wragg machte ein verlegenes Gesicht. »Er schien es wirklich ernst zu meinen«, sagte er.
Im Grunde sah dieser Abschnitt des Weges genauso aus wie jeder andere. Der staubige Boden war von Baumwurzeln durchzogen, die durch die Erde brachen und an den steileren Stellen Stufen bildeten. Rechts und links klammerten sich Eichen und Birken an die Hänge, die Stämme dicht von Farn umringt. Halb im Farnkraut verborgen lagen einige große Felsbrocken wie überwucherte Trümmer eines Steinzeittempels. Vögel raschelten im Unterholz und stießen Warnrufe aus, untermalt vom Rauschen eines nahen Baches.
»Aye, ungefähr hier«, sagte Harry.
»Sind Sie sicher?«
»Müsste stimmen.«
Ben Cooper wusste nicht recht, was er von Harry Dickinson halten sollte. Normalerweise konnte er die Gefühle der Menschen, mit denen er bei dieser Art von Arbeit in Kontakt kam, wenigstens zum Teil deuten. Sie waren oft aufgeregt, ängstlich, wütend oder fassungslos vor Schock und Sorge. So reagierten diejenigen, die sich zum ersten Mal im Leben mit etwas so Furchtbarem wie einem Gewaltverbrechen konfrontiert sahen. Manche Leute wurden nervös oder unverhältnismäßig aggressiv. Auch das waren interessante Reaktionen, oft die ersten Anzeichen von Schuld. Bei den Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte, achtete er sehr genau auf solche Signale. Das gehörte für ihn zu den notwendigen polizeilichen Instinkten.
Harry Dickinson aber hatte keinerlei Gefühle gezeigt, weder im Cottage bei seiner Frau und seiner Enkelin, noch jetzt, da er mit Cooper an der Stelle stand, wo er und sein Hund den blutigen Turnschuh gefunden hatten.
Auf dem Weg hinunter zum Fuß der Raven’s Side war Harry schweigend und steif vorneweg marschiert, den Rücken durchgedrückt, mit den Armen gleichmäßig ausholend. Er hatte kein Wort mehr gesagt, seit sie das Haus verlassen hatten, und lediglich mit einem Kopfnicken die Richtung angedeutet, wenn sie an eine Abzweigung kamen. Es war, als ob der alte Mann aus Holz wäre. Cooper hätte ihn gern überholt, um zu sehen, ob er in seinen Augen etwas lesen konnte.
»Ist Ihnen klar, dass Laura Vernon möglicherweise schwer verletzt ganz in der Nähe liegen könnte, Mr. Dickinson?«
»Ja.«
»Oder sogar tot?«
Harry hielt Coopers Blick stand. Was war das für ein Ausdruck, der kaum wahrnehmbar in seinen Augen aufblitzte? Belustigung? Nein, Spott. Ungeduld über die überflüssigen Worte.
»Das weiß ich selber. Ich bin doch nicht blöde.«
»Es ist ungeheuer wichtig, dass Sie uns den genauen Fundort des Turnschuhs zeigen. Mr. Dickinson.«
Harry spuckte ins Gras und kniff vor der tief stehenden Sonne die Augen zusammen, wie ein Indianer, der eine Fährte aufnahm. Mit dem Schirm seiner Mütze deutete er nach rechts.
»Da unten? Neben dem Bach?«
»Jess ist gern da unten, am Wasser«, sagte Harry.
»Was ist hinter den Felsen?«
»Gestrüpp, ein Dickicht. Da gibt es Kaninchen.«
»Kam da der Turnschuh her?«
Harry zuckte die Achseln. »Sehen Sie selber nach, mein Junge.«
Cooper ging zu den Felsen hinüber. Nur die Spitzen traten aus dem Gras zu Tage, scharfe Kanten, die glitschig und tückisch aussahen. Freiwillig wäre er hier nicht spazieren gegangen, dafür gab es in der Umgebung genug bequemere Wege. Aus den kurzen, struppigen Grashalmen schloss er, dass hier gelegentlich Schafe weideten. Zwischen den Steinen zeichneten sich schmale Pfade ab, und auf der Erde lagen angetrocknete schwarze Kotkugeln.
Cooper balancierte so gut wie möglich über die Felsen ins dichte Unterholz, um keine Fußspuren zu verwischen. Einige Schritte zu seiner Rechten, unterhalb einer glatten, grasigen Böschung, plätscherte der Bach, der an dieser Stelle recht seicht war. Ein verschwiegenes Plätzchen, der ideale Ort für ein ungestörtes Stelldichein.
Er blickte über die Schulter zurück. Harry Dickinson war ihm nicht gefolgt. Er stand auf einer flachen Felsplatte, als ob er den Weg bewachte, und schien überhaupt nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Ab und zu schloss er die Hand zur Faust, als vermisste er seine Hundeleine. Er wirkte vollkommen ruhig.
Während Cooper tiefer ins Unterholz vordrang, streifte er Adlerfarn und blieb an wuchernden Brombeerranken hängen. Einige aufgescheuchte Wespen schwirrten um seinen Kopf, starteten blitzschnelle Scheinangriffe und wichen seinen sinnlosen Abwehrversuchen aus. Allmählich schloss sich das Laubdach über ihm, und es war wie in einer dunklen Höhle.
Ein Stück voraus und etwa zehn Meter tiefer konnte er auf der gegenüberliegenden Seite des Baches einen mit kleinen Steinen eingefassten, breiten Weg erkennen, in den Holzbohlen eingelassen waren, die als Stufen dienten. Er zog sich wie eine Autobahnschneise durch die Natur, von zahllosen Füßen blank gewetzt und frei von jeglicher Vegetation. Cooper wurde klar, dass das der Eden Valley Trail sein musste, ein Wanderweg, der sich etwas weiter nördlich mit dem Pennine Way vereinigte. Es war eine sehr beliebte Route, die im Sommer Tausende von Wanderern anlockte.
Aber an der einsamen, abgelegenen Stelle, wo er stand, war von dem belebten Wanderweg genauso wenig zu spüren wie auf dem Gipfel des Mam Tor. Ein vorbeikommender Wanderer hätte Cooper hier oben im Farnkraut nicht entdecken können, selbst wenn er sich die Mühe gemacht hätte, heraufzusehen.
Er drehte sich um, verscheuchte die Fliegen, die um sein Gesicht brummten, und blickte durch die Bäume und das dichte Dornengestrüpp zurück. Es war wie ein Blick durch einen dunklen Tunnel, an dessen Ende Harry Dickinson stand, eingerahmt von einem Geflecht aus Ästen und Zweigen, die nach ihm zu greifen schienen. Cooper musste blinzeln, so scharf war der Kontrast zwischen dem hellen Licht und den kräftigen Farben der Hügelflanke. Der alte Mann stand im Schein der tief stehenden Sonne, und die aufgeheizten Felsen um ihn herum glühten. Im Hitzedunst, der vom Boden aufstieg, schien sich seine dunkle Silhouette langsam im Tanz zu wiegen. Zitternd und zuckend verlor sich der riesige, ausgefranste Schatten, den er auf die Felsen warf, im Dickicht.
Der Ausdruck in Harrys Augen war nicht zu deuten, sein Gesicht lag halb im Schatten seiner Mütze. Cooper konnte nicht einmal erkennen, in welche Richtung er sah, ob er sich abgewandt hatte oder durch die Bäume zu ihm herüberstarrte.
Am liebsten hätte er den alten Mann bei den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt. Es war tatsächlich jemand an dieser Stelle gewesen, und zwar erst kürzlich. Es war nicht zu übersehen – und man konnte es riechen. Zwei Menschen waren hier gewesen, und wenigstens einer von ihnen hatte es nicht nur auf Kaninchen abgesehen gehabt. Der Geruch, der unter den Bäumen in der Luft hing, war der nach geronnenem Blut, verwesendem Fleisch und Urin. Und die Fliegen hatten etwas Verlockenderes gefunden als Coopers Schweiß.