Читать книгу Kühler Grund - Stephen Booth - Страница 6
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Das jähe grelle Licht tat den Augen der jungen Frau weh, als sie aus der Hintertür des Cottage ins Freie stürzte. Sie hastete barfuß über die Steinfliesen, und das Haar floss ihr in roten Wellen über die nackten Schultern.
Das Gezeter aus dem Haus endete abrupt, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Während sie den Gartenweg entlanglief, wirbelte zwischen den Platten der Staub der sonnengedörrten Erde auf. Der Dorn einer scharlachroten Strauchrose, die halb über den Weg rankte, riss ihr beim Vorbeilaufen den Arm auf, doch sie nahm den Schmerz kaum wahr.
»Warte!«, rief sie.
Aber das alte hölzerne Gartentor war schon geräuschvoll zugeschlagen, bevor sie es erreichte. Sie reckte sich über die Trockenmauer und hielt den alten Mann auf der anderen Seite am Ärmel fest. Trotz der Hitze trug er eine Wolljacke, und durch den Stoff hindurch fühlte sich sein Arm steif und sehnig an. Als die junge Frau fester zugriff, spürte sie, wie sich seine Muskeln über die Knochen schoben, als wäre sie mit ihrer Hand tief in seinen Körper eingedrungen.
Harry Dickinson blieb stehen und drehte den Kopf weg, um der Bitte in den Augen seiner Enkelin zu entgehen. Die einzige Veränderung in seinem Gesicht war ein leichtes Zucken der Mundwinkel, als er an Helen vorbei über die Reihe der steinernen Cottages blickte. Die Mauern mit den weiß gestrichenen Sprossenfenstern, die bereits im abendlichen Schatten lagen, kühlten allmählich ab, obwohl die Sonne noch immer tief über den Schieferdächern hing und gnadenlos vom Himmel brannte. Harrys Pupillen zogen sich zu ausdruckslosen schwarzen Punkten zusammen, bis er den Kopf wendete, sodass ihn der Schirm seiner Mütze gegen die Sonne schützte.
Helen stieg der Geruch von Erde, Schweiß und Tieren in die Nase, der tief in die Wolle der Jacke eingedrungen war und nur überlagert wurde von dem vertrauten Duft kalten Tabakrauches. »Es hat keinen Sinn, einfach zu verschwinden. Früher oder später musst du den Tatsachen ja doch ins Gesicht sehen. Du kannst nicht ewig davonlaufen.«
Ein lautes Knattern, das hinter Harry durch das Tal hallte, ließ ihn zusammenfahren. Seit über einer Stunde rollte der Lärm nun schon über den dichten Wald, der bis in die Talsenke hinunterreichte. Das Geräusch prallte von den gegenüberliegenden Hängen zurück wie das wütende Flügelschlagen eines Vogels, hämmerte auf Ginster und Heidekraut ein und erschreckte die Schafe auf den höher gelegenen Hängen.
»Wir würden es verstehen«, sagte Helen. »Wir sind doch deine Familie. Wenn du nur mit uns reden würdest …«
Der alte Mann hielt den rechten Arm unnatürlich abgeknickt, sodass sich der Ärmel seiner Jacke zu einer hässlichen Ziehharmonika zusammenschob.
Helen wusste, dass die Wälder eine starke Anziehungskraft auf Harry ausübten, der er sich kaum entziehen konnte, auch wenn er sich noch so sehr dagegenstemmte. Einen Moment lang wirkte er unentschlossen, doch dann schienen die widerstreitenden Emotionen seine Abwehr noch zu verstärken. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus, bei seinem einmal gefassten Entschluss zu bleiben.
»Granddad? Bitte.«
Sie spürte die scharfen Kanten der Gartenmauer durch ihre Shorts, und der linke Handteller tat ihr weh, wo sie sich an den schartigen Decksteinen aufgeschürft hatte. Nachdem sie, von ihren Gefühlen überwältigt, hinter ihm hergestürzt war, wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie spürte die Machtlosigkeit der Konventionen, die die Kommunikation unter Erwachsenen regelten, selbst wenn sie zur selben Familie gehörten. Genau wie ihrem Großvater fehlten auch ihr die Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Vor allem den Menschen gegenüber, die ihr am nächsten standen.
»Grandma ist wütend«, sagte Helen. »Aber sie beruhigt sich bald wieder. Sie macht sich doch nur Sorgen um dich.«
Helen war bei Harry immer ohne viele Worte ausgekommen. Er hatte stets genau gewusst, was sie wollte, und auf ihren Blick reagiert, auf das schüchterne Lächeln, auf den Sonnenglanz in ihrem Haar, auf die kleine Hand, die sich vertrauensvoll in die seine legte. Doch dieses Kind gab es nicht mehr, schon seit Jahren nicht mehr. Als Lehrerin hatte sie sich eine andere Form der Verständigung aneignen müssen, basierend auf Distanz, nicht auf Nähe. Aber Harry verstand sie noch immer. Er wusste, was sie in diesem Augenblick von ihm wollte. Doch er konnte es nicht tun, weil es seinen lebenslangen Gewohnheiten widersprach.
Nach und nach verebbte das Knattern, von den Bäumen und dem bergigen Gelände zu einem dumpfen Brummen abgemildert. Nun machten sich die leisen Geräusche des Abends bemerkbar – das Rascheln einer Brise in den Buchen, das Muhen einer Kuh im Tal, das Lied einer Lerche über dem Heidekraut. Harry lauschte, als hörte er eine Stimme, die niemand sonst vernehmen konnte. Sie verstärkte die Trauer in seinen Augen, aber auch seine Entschlossenheit. Er straffte den Rücken und ballte die Fäuste. Sein Griff um die abgewetzte schwarze Lederschlaufe, die er in der einen Hand hielt, wurde fester.
»Komm zurück und rede mit uns. Bitte, Granddad«, sagte Helen.
Sie hatte die Stimme nie gehört. Sie hatte es oft versucht, wenn sie beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Großvaters veränderte, aber nicht zu fragen gewagt, was er vernahm. Stattdessen hatte sie selbst die Ohren gespitzt, um vielleicht wenigstens ein schwaches Echo zu erhaschen. Wie die meisten Männer, die unter Tage gearbeitet hatten, verbrachte auch Harry so viel Zeit wie möglich an der frischen Luft. Wenn sie mit ihm zusammen war, konnte Helen die Geräusche des Waldes und des Himmels hören, die winzigen Bewegungen im Gras, die Richtungsänderungen des Windes, das Springen der Fische im Bach. Doch was ihr Großvater hörte, hatte sie nie gehört. Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass diese Stimme nur ein Mann vernehmen konnte.
»Wenn du schon nicht mit Grandma darüber sprechen willst, warum erzählst du es dann nicht wenigstens mir, Granddad?«
Langsam schwoll das Knattern wieder an, es kam auf sie zu, während es dem Verlauf der Straße folgte, die sich durch das Tal schlängelte. Es kam immer näher, über die steinigen Hänge der Raven’s Side, um eine schroff hervortretende schwarze Felsennase herum, immer weiter auf das Dorf zu, bis es fast über ihnen war. Das Getöse war so laut, dass jede Verständigung unmöglich war. Ausgerechnet in diesem Moment entschloss Harry sich, etwas zu sagen, trotzig erhob er die Stimme, um sich gegen den Lärm durchzusetzen.
»Verdammte Radaubrüder«, sagte er.
Der Hubschrauber stand reglos in der Luft, der blaue Rumpf flirrte im Schatten der Rotorblätter. In der Kabine beugte sich ein Mann nach vorn und starrte auf die Erde. Der Hubschrauber trug die Aufschrift POLIZEI.
»Sie suchen das vermisste Mädchen«, sagte Helen, der die Worte regelrecht von den Lippen gerissen wurden. »Die Kleine aus der Villa.«
»Aye, gut. Aber müssen sie deswegen so einen Krach machen?«
Harry räusperte sich ausgiebig und spuckte den Schleim in das gelbe Jakobskraut neben dem Gartentor.
Als wäre er beleidigt, wandte sich der Hubschrauber plötzlich vom Dorfrand ab und schwebte auf eine Reihe hoher Nadelbäume zu, die auf dem Grundstück eines großen weißen Hauses wuchsen. Die Klanghöhe veränderte sich, als das Geräusch an dem Gebäude vorbeiglitt und über die Dächer und Schornsteine streifte, wie ein Echolot, das einen Tiefseegraben abtastete.
»Wenigstens wird die Bande da oben auch aufgeweckt.«
»Granddad …«
»Mehr gibt es nicht zu sagen. Jedenfalls jetzt nicht.«
Helen seufzte, bedrängt von Gedanken, die sie nicht ausdrücken, und von Gefühlen, die sie nicht vermitteln konnte.
»Ich muss weiter, Kind«, sagte er. »Sonst reißt mir Jess noch den Arm aus.«
Helen schüttelte den Kopf, aber sie ließ ihn los. Wo der Dorn sie gekratzt hatte, lief ein dünner Faden Blut über ihren Arm. Schon halb geronnen glänzte er dunkel auf ihrer hellen Haut. Sie sah ihrem Großvater nach, wie er den Berg hinunterging, in Richtung des Waldes unterhalb der Felsen. Jess, seine schwarze Labradorhündin, lief voraus und zerrte aufgeregt an der Leine, weil sie es kaum erwarten konnte, zum Bach zu kommen, wo sie sich austoben durfte.
Nein, man kann nicht ewig davonlaufen, dachte Helen. Aber man kann sich verdrücken und ein Stück mit dem Hund spazieren gehen.
Weiter unten am Hang stand Ben Cooper und schwitzte. Der Schweiß rann ihm durch das Brusthaar und legte sich als klebriger Film auf die Bauchmuskeln. Unter den Armen und am Rücken war sein T-Shirt klitschnass, und seine Kopfhaut kribbelte.
Noch hatte keine Brise den Weg durch die Bäume gefunden, um die stehende Hitze, welche die Nachmittagssonne zurückgelassen hatte, erträglicher zu machen. Jede Lichtung war eine kleine Sonnenfalle, in der sich die Wärme wie in einem Trichter sammelte. Selbst tiefer im Wald war die Luftfeuchtigkeit noch so hoch, dass es ihn am ganzen Körper juckte und er von winzigen schwarzen Fliegen geplagt wurde, die in dichten Wolken unter den Bäumen hingen und von seinem Schweißgeruch angezogen wurden.
Alle Männer in der Reihe hielten eine Holzstange in der Hand, mit der sie das hohe Gras durchstöbern und Farne und Brombeerranken zur Seite schieben konnten. Die zertretenen Blätter rochen feucht und nach Erde, und Coopers braune Bergstiefel hatten sich bis weit über die Sohle hinauf dunkel verfärbt. Wenn er die Stange aus dem Unterholz zog, hingen Kletten daran, und kleine Raupen und Insekten klammerten sich an ihr fest. Alle paar Minuten musste er stehen bleiben, um sie auf dem Boden oder an einem Baumstamm abzuklopfen. Den anderen Männern in der Reihe erging es ebenso, und das dumpfe Klopfen und Schlagen begleitete die sporadisch aufkommenden Gespräche.
Nach einiger Zeit tat Cooper vom gebückten Gehen der Nacken weh. Als die Reihe kurz anhielt, damit die Männer in der Mitte ein dichtes Brombeergestrüpp durchsuchen konnten, reckte er erleichtert den Hals und blickte nach oben über den Waldrand hinweg. Auf der anderen Seite des Tals erhob sich die Flanke von Win Low. Dort oben, auf den kahlen Felsnasen, die Witches – Hexen – genannt wurden, war es sicher wesentlich kühler. Bestimmt ging auf dem Gipfel ein frischer Westwind, ein Wind, bei dem man immer das Gefühl hatte, er käme direkt aus den walisischen Bergen und über die Cheshire-Ebene herübergeweht.
Seit zwei Stunden ärgerte er sich nun schon, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Kopfbedeckung mitzunehmen, um sich vor der Sonne zu schützen. Ausnahmsweise einmal beneidete er die uniformierten Kollegen weiter unten in der Reihe, die sich die dunklen Schirmmützen tief in die Stirn gezogen hatten und deren Abzeichen in der Sonne glänzten. Bei der Kriminalpolizei zu sein, hatte manchmal auch Nachteile.
»Mann, was für eine Zeitverschwendung.«
Der Police Constable neben Ben Cooper kam von der Dienststelle Matlock, ein angegrauter Landpolizist, der früher einmal Ambitionen gehabt hatte, sich zu einer Spezialeinheit nach Chesterfield versetzen zu lassen. Doch während die Spezialeinheit ein Stück weiter unten am Hügel im Einsatz war, direkt unterhalb der Villa, war PC Garnett zusammen mit dem Kripobeamten aus Edendale zu einer spontan zusammengewürfelten Suchmannschaft abkommandiert worden, der auch einige National Park Ranger angehörten. Man sah es seinem blauen Overall an, dass Garnett mehr Wert auf Bequemlichkeit legte als auf modisches Aussehen, und er hatte so wild mit seiner Stange herumgefuchtelt, dass die Kollegen nach und nach immer weiter von ihm abgerückt waren, um ihre Schienbeine vor ihm in Sicherheit zu bringen.
»Meinen Sie?«
»Aye, auf jeden Fall«, antwortete Garnett. »Die Kleine soll doch angeblich mit ihrem Freund durchgebrannt sein.«
»Ach ja?«, sagte Cooper. »Davon weiß ich nichts. Bei der Einsatzbesprechung wurde nichts davon erwähnt. Nur, dass sie vermisst wird.«
»Vermisst? Dass ich nicht lache. Verlassen Sie sich darauf, die treibt es mit irgendeinem pickeligen Knaben. Fünfzehn Jahre alt, was will man heutzutage schon anderes erwarten?«
»Vielleicht haben Sie Recht. Trotzdem müssen wir der Sache nachgehen.«
»Das kann ich Ihnen sagen, wenn sich eine von meinen beiden so was erlauben würde, würde ich sie umbringen.«
Garnett drosch mit solcher Wut auf einen kleinen Holunderschössling ein, dass er in zwei Teile zerbrach, die zarten jungen Zweige auf die Erde fielen und klebriger Saft herauslief. Dann trat er auf den abgeknickten Stamm und rammte ihn mit seinem Polizeistiefel ins Gras. Falls irgendwelche zerbrechlichen Beweisstücke im Wald herumlagen, konnte Cooper nur hoffen, dass er sie fand, bevor Garnett in ihre Nähe kam.
Doch dann sah er den Police Constable an und musste lächeln. Der Mann meinte es nicht böse. Er war nur ein gealterter Familienvater, dem jeder berufliche Ehrgeiz mit zunehmender Leibesfülle abhanden gekommen war, aber er war kein schlechter Mensch. Cooper konnte förmlich sehen, welche kleinen Alltagssorgen an Garnett nagten, angefangen von seinem zurückweichenden Haaransatz über die wiederkehrenden Kreuzschmerzen bis hin zur Höhe seiner Telefonrechnung.
»Seien Sie froh um die Überstunden«, sagte er. »Die können wir alle gebrauchen.«
»Ah, da haben Sie Recht, mein Junge. Wie wahr. Da braucht es schon einen Fall wie diesen, dass die Geizkrägen da oben mal ein paar Pfund extra lockermachen.«
»Das liegt an den Sparmaßnahmen.«
»Sparmaßnahmen!« Garnett stieß es wie einen Fluch hervor. Beide Männer blieben einen Augenblick stehen, um dem Wort hinterherzulauschen, und schüttelten resigniert den Kopf.
»Bleiben Sie mir bloß mit diesen Buchhalterseelen vom Leib«, sagte Garnett. »Für die sind wir doch keine Polizisten mehr, sondern eine Zahlenkolonne auf einem Stück Papier. Alles dreht sich nur noch um spektakuläre Einsätze und Aufklärungsquoten. Für einen Polizisten vom alten Schlag ist heute kein Platz mehr.«
Verbittert sah er zu der Spezialeinheit hinüber, die sich hinter einer Reihe von Pyramidenpappeln, die wie dunkle Stacheln aus der Landschaft ragten, durch das Gebüsch kämpfte.
»Aber wem sage ich das? Sie sind anders, mein Junge. Ganz der Vater, wie man hört. Hut ab, kann man da nur sagen. Viel Glück wünsche ich Ihnen.«
»Danke.«
Cooper war gerade erst aus seinem zweiwöchigen Sommerurlaub zurückgekommen. Gleich an seinem ersten Arbeitstag war er für die Suche nach Laura Vernon eingeteilt worden, fünfzehn Jahre alt, seit Samstagabend vermisst. Sie hatte kurzes, dunkles, rot gefärbtes Haar, trug eine silberne Perle in der Nase, war 1,75 Meter groß und reif für ihr Alter. Gleichzeitig suchten sie auch nach ihrer Kleidung – schwarze Jeans, rotes, kurzärmeliges Baumwoll-T-Shirt, weißer Sport-BH, blauer Slip, blaue Söckchen, ein Paar Turnschuhe Marke Reebok, Größe 38, slim fit. Dass die Suche ihrer Leiche gelten würde, sobald sie die Kleidung gefunden hatten, verstand sich von selbst.
»Was diese Kleine angeht: Wenn Sie mich fragen, ist sie längst über alle Berge«, sagte Garnett. »Mit ihrem Freund durchgebrannt. Irgendein Halbstarker aus Manchester mit einem Motorrad. Aber so geht es eben heutzutage zu bei den Teenagern. Und wen wundert das? Schließlich lernen sie in der Schule alles über Verhütung, wenn sie noch keine zwölf Jahre alt sind. Und die Eltern haben natürlich keine Ahnung. Eltern wie die hier bestimmt nicht. Meistens kriegen sie doch kaum mit, dass es das Kind überhaupt gibt.«
Cooper hatte noch Muskelkater in den Beinen von seiner Klettertour in den steilen, imposanten Cuillin Hills auf der Isle of Skye. Seine Freunde Oskar und Rakesh, die zur Bergrettung von Edendale gehörten, konnten von den Bergen einfach nicht genug bekommen. Er selbst hätte heute allerdings gegen einen ruhigen Tag am Schreibtisch nichts einzuwenden gehabt: ein paar Telefonate vielleicht, sich informieren, was in den letzten vierzehn Tagen passiert war, sich den neuesten Revierklatsch anhören. Alles wäre ihm lieber gewesen als diese Kraxelei.
Aber er kannte sich in der Gegend aus, das Dorf, aus dem er stammte, lag nur wenige Kilometer entfernt. Die meisten Männer, die für die Suchmannschaft eingeteilt worden waren, kamen aus anderen Gebieten oder Dienststellen. Einige von ihnen waren sogar aus der Stadt. In diesem Gelände wären sie reihenweise in die alten Minenschächte gefallen, wenn ihnen nicht einer erklärt hätte, wo oben und unten war.
Natürlich konnte PC Garnett durchaus Recht behalten. Es geschah schließlich oft genug, dass sich Jugendliche im ländlichen Peak District langweilten und den Verlockungen der Großstadt erlagen. Und einen Freund hatte die Kleine sicher auch gehabt, einen Jungen, den ihre Eltern ablehnten. Laut Protokoll hatten die Vernons ausgesagt, es habe bei ihnen zu Hause keinen Ärger gegeben, keinen Familienstreit, nicht den geringsten Grund, warum Laura hätte weglaufen sollen. Aber sagten das betroffene Eltern nicht immer? In jeder Familie gab es Missverständnisse und Dinge, die niemand ahnte. Vor allem, wenn es sich um eine Familie handelte, der die nötige Zeit oder das Interesse fehlte, miteinander zu reden.
Andererseits hatte Laura nichts zum Anziehen mitgenommen, kein Geld, keinerlei Habseligkeiten. Und sie war, wie erste Befragungen ergeben hatten, am Samstagabend dabei gesehen worden, wie sie am Rande des Baulk, eines ausgedehnten Waldgebietes, mit einem jungen Mann gesprochen hatte.
Als Cooper auf dem Hügel unterhalb des Dorfes Moorhay angekommen war, hatte er sich daran erinnert, dass er schon einmal in Laura Vernons Elternhaus gewesen war. Es war das große weiße Haus, The Mount genannt, das, hinter den Bäumen verborgen, allein auf einem Geländevorsprung stand, oberhalb der Stelle, die von dem Suchtrupp durchkämmt wurde. Die Villa, die ursprünglich einem Bergwerksbesitzer gehört hatte, war groß und protzig. Sie hatte einen streng gestalteten Garten voller Rhododendren und Azaleen und eine Terrasse mit einem überwältigenden Blick über das Tal. Cooper war dort zum achtzehnten Geburtstag eines Klassenkameraden eingeladen gewesen. Dass der Junge wohlhabende Eltern hatte, wussten an der alten Edendale High School alle, noch bevor sie in den Genuss einer Hausführung gekommen waren. Die damaligen Besitzer waren nicht die Vernons gewesen, sondern Einheimische, die Familie eines Mannes, der im Peak District eine Hand voll kleinerer Tankstellen geerbt hatte und von Edendale und den umliegenden Dörfern aus bis über die Grenzen Derbyshires hinaus expandiert hatte, bis nach Süd-Yorkshire und an den Rand der Großstädte.
Natürlich hatte er das Geschäft letztlich an eine größere Gesellschaft verkauft und dabei tüchtig abkassiert. Anschließend war er weggezogen. Ins Ausland, hieß es. Nach Südfrankreich oder Italien, so wurde allgemein vermutet.
Die Villa hatte eine Zeit lang leer gestanden, bis zum Ende der Rezession. Abbildungen ihrer eleganten Fassade fanden sich regelmäßig in den exklusiveren Immobilienanzeigen der Landhaus-Magazine. Wenn die Dorfbewohner im Wartezimmer des Arztes saßen, staunten sie über die Anzahl der Bäder, rätselten darüber, was wohl ein Wirtschaftsraum war, und schüttelten ungläubig den Kopf über die vielen Nullen im Kaufpreis. Irgendwann hatten dann die Vernons die Villa gekauft. Niemand wusste, woher sie kamen oder was Mr. Vernon beruflich genau machte, außer dass er Geschäftsmann war. Er fuhr jeden Morgen mit seinem Jaguar XJS Richtung Sheffield und blieb manchmal tagelang fort. Gehörte er auch zu denen, die im Peak District nur eine kleine Zwischenstation einlegten, bevor sie sich in der Toskana niederließen?
»Das Überstundengeld kommt Ihnen doch bestimmt auch nicht ungelegen. Waren Sie nicht gerade im Urlaub?«, fragte Garnett.
»In Schottland«, antwortete Cooper.
»Ach, du lieber Himmel. Schottland? Da ist es doch genauso wie hier, bloß mit ein bisschen feuchter. Das wäre nicht mein Fall. Wenn ich in Urlaub fahre, will ich Sand und Sonne sehen. Und mich billig volllaufen lassen. Ich stehe auf Ibiza. Jede Menge englische Pubs und Kasinos. Ein paar Flaschen Sangria, eine Paella und dann nichts wie ran an die Spielautomaten. Das ist für mich das Höchste. Außerdem würde meine Frau sich scheiden lassen, wenn ich ihr mit etwas anderem käme. Im nächsten Jahr will sie auf die Malediven. Ich weiß noch nicht mal, wo die liegen.«
»Irgendwo östlich von Ibiza, glaube ich«, sagte Cooper. »Aber da würde es Ihnen auch gefallen.«
Die Reihe bewegte sich wieder vorwärts, und Cooper verscheuchte einen Fliegenschwarm vor seinem Gesicht. Sonne, Sand und billigen Fusel, an so etwas konnte er jetzt nicht denken. Selbst während der vierzehn Tage in den Steilwänden der Isle of Skye war er oft in Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen, sondern schon bei den Auswahlgesprächen für eine mögliche Beförderung, die in wenigen Tagen stattfinden sollten. In der Dienststelle E wurde in Kürze eine Stelle als Detective Sergeant frei. DS Niles war nun schon seit Wochen krankgeschrieben, und alles schien auf die übliche krankheitsbedingte Frühpensionierung hinauszulaufen – eine weitere Belastung des ohnehin schon überstrapazierten Polizeihaushalts. Ben Cooper hielt sich für Niles’ idealen Nachfolger: zehn Jahre im Polizeidienst, fünf davon bei der Kripo, bessere Ortskenntnisse als die übrigen Kollegen in seiner Schicht zusammengenommen. Er wollte und musste den Posten als Sergeant bekommen. Außerdem war es der Wunsch seiner Familie. Cooper dachte an den verzweifelt hoffnungsvollen Blick seiner Mutter, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, an die Frage, die sie genauso oft unausgesprochen ließ, wie sie sie stellte. Er musste tagsüber oft an sie denken, jedes Mal, wenn er einen kranken oder alten Menschen sah. Er dachte an ihre Schmerzen, die anscheinend gar nicht mehr besser werden wollten, an ihren Kummer und an das Einzige, was er tun konnte, um ihr Leid vielleicht ein wenig zu lindern. Er sehnte sich danach, ihr das zu geben, was sie sich am meisten wünschte, nur dieses eine Mal.
Die Reihe der Männer war inzwischen so weit unter die Bäume vorgedrungen, dass das Laubdach den Lärm des Polizeihubschraubers dämpfte, der noch immer über dem Tal kreiste und die Wälder mit der Wärmebildkamera absuchte. Der Übergang von der gleißenden Sonne in den dunklen Schatten machte es schwierig, irgendwelche Einzelheiten im Unterholz zu erkennen. Hinter den brusthohen Brombeersträuchern und Weidenröschen hätten ganze Trupps Soldaten auf der Lauer liegen können, die bloß darauf warteten, dass ein argloser Bobby im blauen Overall auf sie stieß, lediglich mit einer Holzstange bewaffnet, an der schleimige Schnecken klebten.
In der Nähe keckerte ein Fasan und flog aufgeschreckt davon. Weiter entfernt war ein anderes Geräusch zu hören. Die Bäume standen zu dicht, um sagen zu können, aus welcher Richtung es kam. Es war das Bellen eines Hundes, einmal nur.