Читать книгу Kühler Grund - Stephen Booth - Страница 12
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Der Pathologie-Assistent schlug das Plastiklaken vorsichtig zurück. Die Angehörigen sollten die Verletzungen nur zu sehen bekommen, wenn es unbedingt nötig war. Das Gesicht sah schlimm genug aus, auch wenn es in der Kürze der Zeit so gut wie möglich hergerichtet worden war. Die Maden waren eingesammelt und in Gläser gefüllt, die Augen gereinigt und geschlossen, das getrocknete Blut abgeschabt und zur Untersuchung ins Labor geschickt worden. Das Haar hatte man so nach hinten gekämmt, dass die Kopfverletzungen kaum zu erkennen waren.
»Ja«, sagte Graham Vernon, ohne zu zögern.
»Sie identifizieren die Tote als Ihre Tochter Laura Vernon, Sir?«, fragte DCI Tailby.
»Ja. Das habe ich doch gesagt.«
»Vielen Dank, Sir.«
»War das alles?«
»Es ist eine Formalität, die es uns erlaubt, die nötigen Schritte einzuleiten.«
Der Assistent zog bereits wieder das Laken über Lauras Gesicht und gab ihr damit bis zum Ende der Obduktion die Anonymität der Verstorbenen zurück.
»Gehört zu diesen Schritten vielleicht auch die Verhaftung des Mörders meiner Tochter, Chief Inspector?«, fragte Vernon, ohne den Blick von der Toten zu nehmen.
Für Tailby bestand eigentlich keine Veranlassung, bei der Identifizierung der Leiche durch Graham Vernon persönlich anwesend zu sein, aber er betrachtete es als günstige Gelegenheit, die Reaktionen der Angehörigen zu studieren. Er beobachtete Vernon, während dieser sich von den zugedeckten sterblichen Überresten entfernte, die einmal seine Tochter gewesen waren. Er sah, wie Vernons Augen mit einem faszinierten Schaudern an den losen Falten des grünen Plastiks hingen, unter dem sich das Gesicht des toten Mädchens verbarg. Seine Hände waren ständig in Bewegung. Er berührte sein Gesicht und seinen Mund, strich sein Jackett glatt oder rieb sich die Finger, eine Reihe unwillkürlicher Gesten, die sowohl Nervosität als auch dicht unter der Oberfläche liegende Trauer bedeuten konnten. Sein Gesicht sprach Bände.
Viele Eltern und Ehepartner von Verstorbenen hatten Tailby gesagt, dass der Tod für sie in diesem Augenblick noch jenseits der Realität war. Sie stellten sich vor, dass sich der Tote plötzlich aufrichtete und über den Streich lachte, den er ihnen gespielt hatte, dass das Laken von ihm abglitt und Leben und Gesundheit in sein Gesicht zurückkehrten.
Waren das auch Graham Vernons Gedanken? Sah und hörte er noch die lebendige Laura? Und wenn ja, was sagte sie zu ihm, dass er so ein erschrockenes Gesicht machte?
Fälle wie dieser waren immer ein Balanceakt. Man musste mit den Hinterbliebenen mitfühlend und rücksichtsvoll umgehen, obwohl neunzig Prozent aller Morde im Familien- oder Bekanntenkreis geschahen und der Täter ein Verwandter oder Freund war. Tailby berührte der Schmerz der Angehörigen kaum noch. In seinem Beruf war es nicht ratsam, Gefühle an sich heranzulassen. Manchmal allerdings musste er sich eingestehen, dass sich das negativ auf seine Psyche auswirkte; er hatte schon lange keine enge Beziehung mehr aufbauen können.
»Sie werden sicher verstehen, dass wir noch einmal mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen müssen, Sir«, sagte er, als Vernon sich schließlich abwandte.
»Ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was weiß ich.«
»Wir müssen so viel wie möglich über Lauras Hintergrund in Erfahrung bringen. Wir müssen ihre Freunde und Bekannten noch einmal befragen. Wir müssen möglichen Kontakten nachgehen, von denen wir bis jetzt noch nichts wissen. Wir müssen überprüfen, wo sie sich am Tag ihres Todes aufgehalten hat. Es gibt viel zu tun.«
»Finden Sie Lee Sherratt!«, knurrte Vernon. »Mehr brauchen Sie nicht zu tun, Chief Inspector.«
»Bei unseren Nachforschungen beziehen wir auch diesen Aspekt mit ein, Sir.«
»Und was soll das heißen, verdammt noch mal?«
Die beiden Männer gingen durch die Flügeltür in den Flur hinaus und ließen den antiseptischen Geruch hinter sich. Ihre Schritte hallten über den gefliesten Boden. Tailby musste sich anstrengen, um mit Vernon Schritt zu halten, der offenbar so schnell wie möglich hier weg wollte.
»Wir werden den Jungen finden, Sir. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich bin zuversichtlich.«
Vernon blieb so unvermittelt stehen, dass Tailby einen Zusammenprall nicht verhindern konnte. Sie standen sich fast Auge in Auge gegenüber, obwohl der Beamte eine gute Handbreit größer war. Vernon starrte ihn böse an, das attraktive Gesicht zur Grimasse verzerrt. Seine müden Augen waren von roten Äderchen durchzogen, und eine Gesichtshälfte war schlecht rasiert.
»Mir ist fast so, als hätte ich das schon einmal gehört, Chief Inspector. Vor fast zwei Tagen. Aber da haben Sie mir ja auch noch versichert, dass Sie meine Tochter finden würden.«
Tailby hielt Vernons Blick ruhig stand. »Ja, Sir.«
»Doch dann ist Ihnen jemand zuvorgekommen.«
Tailby erinnerte sich an die deprimierende Szene am frühen Abend, als er die Villa aufgesucht hatte, um den Vernons die traurige Nachricht zu überbringen. Die Eltern hatten über sein Erscheinen keinerlei Erstaunen an den Tag gelegt, nur Verzweiflung und Resignation.
Charlotte Vernon hatte einen Weinkrampf bekommen und war immer hysterischer geworden, bis sie sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen und Graham Vernon einen Arzt anrufen musste. Natürlich waren beide geschockt und entsetzt gewesen, aber jeder war mit seiner Reaktion allein geblieben. In den ersten Minuten nach seiner Eröffnung hatte Tailby nicht die kleinste Geste gegenseitigen Trosts beobachten können.
Die beiden Männer standen auf der Treppe vor der Gerichtsmedizin, als Tailby erneut das Wort ergriff. Rechts von ihnen, hinter einer Hecke aus Koniferen, waren die erleuchteten Fenster des Endendale General Hospitals zu sehen, die modernen zweistöckigen Anbauten des weitläufigen Krankenhauses, das noch aus viktorianischer Zeit stammte. Die Lichter wirkten freundlich und hell im Vergleich zu der schlichten Fassade der Gerichtsmedizin und dem schwach erleuchteten Parkplatz.
»Abgesehen von der Tatsache, dass er nicht aufzufinden ist, gibt es zurzeit noch keine konkreten Beweise dafür, dass Lee Sherratt etwas mit dem Tod Ihrer Tochter zu tun haben könnte«, sagte der DCI sachlich.
»Und genau das ist Ihre Aufgabe, Chief Inspector. Es liegt an Ihnen, diese Beweise zu finden. Ich hoffe nur, Sie strengen sich jetzt ein bisschen mehr an.«
Seit sie die beklemmende Atmosphäre der Gerichtsmedizin hinter sich gelassen hatten, war seine Stimme immer lauter geworden. Er hatte sich wieder in den brüsken, ungeduldigen Geschäftsmann verwandelt, als der er auch sonst auftrat. Es war interessant gewesen, mit anzusehen, welche Veränderung beim Anblick seiner toten Tochter in ihm vorgegangen war. Aber die Veränderung hatte nicht lange vorgehalten.
»Wir wissen von Lee Sherratt lediglich, dass er in den letzten vier Monaten als Gärtner bei Ihnen gearbeitet hat. Sie haben ihn eingestellt, nachdem er sich auf ein Stellenangebot gemeldet hatte, das Sie im Postamt in Moorhay ausgehängt hatten. Offenbar kannte er Ihre Familie vorher nicht. Seine Tätigkeit beschränkte sich auf körperlich anstrengende Arbeiten, wie umgraben oder Unkraut jäten, Rasen mähen oder Abfallbeseitigung. Über besonderes gärtnerisches Fachwissen verfügt er anscheinend nicht, da er keine Ausbildung und auf dem Gebiet auch keine Erfahrung hat. Ist das korrekt?«
»Mehr brauchen wir nicht, nur einen Mann fürs Grobe. Die Fachkenntnisse hat meine Frau.«
»Aha. Bis auf eine kurze Aushilfstätigkeit als Packer im Lager eines Supermarktes hier in Edendale war es Sherratts erste Arbeitsstelle, obwohl er schon zwanzig Jahre alt ist. Er geht gern in die Kneipe, gibt zu, dass er mehrere Freundinnen hat, und ist Anhänger des Sheffield Wednesday FC. Daraus lassen sich keine eindeutigen Schlüsse ziehen, Sir.«
»Aber sein Vater sitzt wegen Hehlerei im Gefängnis«, sagte Vernon. »Und der Junge selbst war an einem Autodiebstahl beteiligt. Was sagen Sie dazu?«
»Eine kriminelle Vergangenheit, hm? Warum haben Sie ihn dann eingestellt, Mr. Vernon?«
Vernon wandte sich ab und starrte den Polizeiwagen an, der auf dem Parkplatz wartete. »Ich wollte ihm eine Chance geben. Ich finde, solche jungen Männer brauchen eine Beschäftigung, sonst geraten sie nur auf die schiefe Bahn. Was ist denn daran auszusetzen? Außerdem schien er mir ein kräftiger Bursche zu sein, der für die schweren Arbeiten geeignet war. Schon gut, ich gebe ja zu, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber woher hätte ich wissen sollen, als was er sich entpuppen würde?«
»Seine Mutter sagt, er ist ein ganz normaler Junge, der gern ins Pub geht und auf Mädchen und Fußball steht.«
»Quatsch!«, entgegnete Vernon. »Graben Sie etwas tiefer, Chief Inspector. Dann werden Sie sehen, dass Sherratt ein gewalttätiger Kerl ist, der es krankhaft auf meine Tochter abgesehen hatte. Ich habe ihn gewarnt, und dann habe ich ihn gefeuert. Und ein paar Tage später wird Laura überfallen und ermordet. Wer soll denn sonst als Täter in Frage kommen?«
Damit marschierte Vernon zu dem Streifenwagen, der ihn nach Moorhay zurückbringen sollte. Stewart Tailby blieb noch einen Augenblick auf der Treppe der Gerichtsmedizin stehen und dachte über Vernons letzte Frage nach. Wenn er es sich recht überlegte, war er froh, dass Vernon seine Antwort nicht abgewartet hatte.
Diane Fry fuhr mit zwei Verkehrspolizisten nach Edendale zurück. Sie hatte für den Abend dienstfrei bekommen, nachdem DCI Tailby persönlich zur Villa gefahren war, um die Vernons um die Identifizierung der Leiche zu bitten.
Während sie hinter den Verkehrspolizisten saß, deren gelb fluoreszierende Jacken leise raschelten, schlug ihre Stimmung allmählich in Niedergeschlagenheit um, je mehr die Spannung von ihr abfiel und ihr Adrenalinspiegel sank. Schon bald würde sie die letzten Arbeiten des Tages erledigt haben und sich einen weiteren Abend lang der düsteren Realität ihres Privatlebens stellen müssen.
»Schönen Dank, Kollegen!«, rief sie, als die Männer sie am Revier abgesetzt hatten.
Der Polizist am Steuer winkte ihr lässig zu, aber sein Partner drehte sich nach ihr um, als der Rover wieder anrollte. Er musterte sie neugierig und sagte etwas zu dem Fahrer, was Fry nicht verstehen konnte. Sie verschwendete keinen unnötigen Gedanken daran. Sie hatte oft genug erlebt, dass Kolleginnen überempfindlich auf jede Geste oder Bemerkung reagierten und ihre Polizeikarriere aufs Spiel setzten, nur weil sie sich von irgendwelchen Bagatellen aus der Ruhe bringen ließen.
Zuerst ging sie ins Kripo-Büro. Alle Lampen brannten, und auf ein, zwei Computerbildschirmen flackerten Bildschirmschoner, die so aussahen, als ob alle Sterne der Galaxie an der Brücke des Raumschiffs Enterprise vorbeirasten. Aber es war kein Mensch zu sehen, nicht einmal der Dienst habende Detective Constable. Fry setzte sich an ihren Schreibtisch und fasste ihre Notizen über die Befragung Harry Dickinsons zusammen. Sie wollte Tailby den Bericht am nächsten Morgen noch vor der Frühbesprechung unaufgefordert präsentieren können. Es wäre erstens ein kleiner Pluspunkt für sie und würde zweitens bedeuten, dass sie auf der Stelle einem Ermittlungsteam zugeordnet werden konnte.
Sie brauchte nicht lange für den Bericht. Sie konnte gut tippen, und ihre Notizen waren akkurat und gut lesbar. Nur einmal zögerte sie kurz und zwar, als sie an das Ende der Befragung kam, aber dann beschloss sie, Harry Dickinsons abschließende Bemerkung der Vollständigkeit halber doch mit aufzunehmen. Als sie schrieb, dass der alte Mann DCI Tailby aufgefordert hatte, »abzuhauen«, musste sie unwillkürlich schmunzeln. Doch dann setzte sie rasch wieder eine ernste Miene auf und blickte sich in dem leeren Büro um, ob sie auch niemand beobachtet hatte. Es war nicht ihre Art, sich über ihre Vorgesetzten lustig zu machen – sie hatte sich noch nie an den respektlosen Scherzen und derben Witzen in der Kantine beteiligt, weder hier noch in den West Midlands. Sie konnte selbst nicht verstehen, warum sie über Harry Dickinsons Bemerkung hatte grinsen müssen.
Sie druckte den Bericht zweimal aus und legte ein Exemplar in die Ablage auf DI Hitchens’ Schreibtisch. Dann ging sie in den Einsatzraum, wo ein Detective Sergeant und ein Computerexperte vor einem Telefon und einem Bildschirm voller Daten hockten. Die Männer ignorierten sie, als sie sich nach der Ermittlungsakte umsah, um die zweite Kopie ihres Berichts abzuheften. Am Morgen, wenn die reguläre Tagesschicht zum Dienst erschien, würde in diesem Raum hektische Betriebsamkeit herrschen. Nach allem, was sie bisher von Tailby gesehen hatte, würde er bestens informiert sein und sich bis ins Detail mit den jüngsten Entwicklungen vertraut gemacht haben, wenn die anderen zu der Besprechung eintrafen.
Schließlich gab es wirklich nichts mehr für sie zu tun. Sie zog leise die Tür hinter sich zu und ging durch das fast menschenleere Gebäude zum Parkplatz.
Nachdem sie die Alarmanlage ihres schwarzen Peugeot ausgeschaltet hatte, blieb sie noch einen Augenblick stehen und starrte auf die Rückseite des Polizeireviers. Es gab nichts zu sehen, nur ein paar erleuchtete Fenster, hinter denen hin und wieder der schattenhafte Umriss eines Polizeibeamten auftauchte. Wahrscheinlich ärgerten sich einige von ihnen, dass sie Dienst schieben mussten, obwohl sie lieber bei ihrer Familie oder im Pub oder sonst wo gewesen wären. Es wäre wohl kaum einer böse darüber gewesen, nach Hause gehen zu müssen. Fry startete den Peugeot und fuhr eine Spur zu schnell vom Hof.
Wie in anderen Kleinstädten waren auch in Edendale die Straßen abends oft wie ausgestorben. Nur zwischen acht und neun Uhr, wenn kleinere Gruppen von Jugendlichen die Pubs ansteuerten, und um halb elf, wenn sie unsicheren Schrittes wieder herauskamen und schwankend nach Bussen und Taxis Ausschau hielten, um noch in einen Night Club oder auf eine Party zu fahren, belebten sie sich vorübergehend.
Viele der jungen Leute, die sich nachts auf der Straße herumtrieben, waren nicht nur angetrunken, sondern auch minderjährig. Diane Fry war erfahren genug, ein Auge zuzudrücken, wenn sie ihnen begegnete. So lange nicht noch ein anderes Delikt hinzukam – Ruhestörung, Beleidigung oder Erregung öffentlichen Ärgernisses zum Beispiel – wurde es von allen Beamten so gehandhabt. Gegen den Alkoholkonsum von Jugendlichen konnte man nur in den Kneipen selbst vorgehen, aber es gab immer dringendere Aufgaben, immer andere Prioritäten.
Heute war Montag, und an einem solchen Abend waren selbst die Jugendlichen spärlich gesät, als Fry die Greaves Road in Richtung Stadtzentrum hinunterfuhr. Nach dem Kreisverkehr am Ende der Fußgängerzone sah sie automatisch nach links, das Clappergate hinunter. In der Apotheke und bei McDonald’s brannte Licht. Drei Jugendliche, die sich vor dem Schnellrestaurant auf der gusseisernen schwarzen Bank lümmelten, aßen Chicken McNuggets und Pommes frites, deren Verpackungen sicher über kurz oder lang den Abfall auf dem Gehweg vermehren würden.
Die meisten Läden waren dunkel, die Nacht gehörte den Pubs und Restaurants. Für Fry war die Auswahl der Geschäfte in Edendale noch gewöhnungsbedürftig. So gab es im Clappergate eine kleine Bäckerei, vor der tagsüber Weidenkörbe, eine bemalte Milchkanne und ein mit Zwiebeln dekoriertes, altes Lieferantenfahrrad auf dem Bürgersteig standen. Einige Türen weiter war ein New-Age-Laden, aus dem es nach Aromaölen und Duftkerzen roch und in dessen Schaufenster Kristalle glitzerten. Dazwischen lagen ein Brillendiscounter, eine chemische Reinigung und eine Filiale der Derbyshire Building Society.
In der Hulley Road, unweit des Marktplatzes, stand ein etwa dreißigjähriges Pärchen vor dem dunklen Fenster eines Immobilienmaklers. Wahrscheinlich verglichen sie die Preise von Objekten in Catch Wind und Pysenny Banks, den malerischsten und gepflegtesten Wohngegenden Edendales, wo die mit Steinmauern gesäumten Straßen kaum breit genug für ein Auto waren und die Vorgärten mit ihren Lobelien und den Flechten bewachsenen Mühlsteinen an den Fluss grenzten. Diane Fry fragte sich, warum die beiden noch so spät am Abend beim Immobilienmakler vorbeischauten. Wo wollten sie hin, wo kamen sie her? Was für intime Pläne schmiedeten sie?
Am anderen Ende des Platzes musste sie an der Ampel warten. Rechts von ihr führten steile, mit Kopfsteinen gepflasterte Gassen mit Namen wie Nimble John’s Gate und Nick i’th Tor bergab. An den Kreuzungen drängten sich schmale Kneipen, Cafés und Kunstgewerbeläden, wie Zuspätgekommene, denen nur der Rand des Geschäftszentrums geblieben war. Und sie waren tatsächlich Nachzügler – angelockt von den Touristenströmen der jüngeren Zeit, nicht vom traditionellen Handel des alten Marktfleckens.
Fry, die sich über ihre neue Heimat kundig gemacht hatte, wusste, dass ein großer Teil der 22 Millionen Besucher, die Jahr für Jahr in den Peak District reisten, früher oder später auch nach Edendale kam. Tagsüber war auf dem Marktplatz manchmal kaum ein Durchkommen, so dicht war der Verkehr, und in der Nähe der öffentlichen Toiletten und der Recycling-Container bildeten sich lange Schlangen.
Ein schwerer Lastwagen rollte langsam vorbei, auf die Rückseite des Supermarktes zu, der kürzlich in einer ehemaligen Baumwollspinnerei eröffnet worden war. Hinter der Kreuzung stieg die Castleton Road den Berg hinauf, gesäumt von rauverputzten Doppelhaushälften. Auf beiden Seiten lagen dicht bebaute Wohngebiete mit engen, sich bergauf windenden Straßen, die sich mit jähen Biegungen und Kehren den Konturen der welligen Landschaft anpassten. Durch die Stoßstange an Stoßstange parkenden Autos, die die Kurven nur knapp freiließen, wurde die Fahrbahn noch zusätzlich verengt. Die größeren Häuser hatten Einfahrten und Garagen, aber die bescheideneren Cottages waren nicht für Autobesitzer gebaut worden.
Je weiter die Häuser vom Stadtzentrum entfernt waren und je höher sie am Berg lagen, desto neuer wurden sie. Aber auch sie waren aus dem gleichen weißen Stein gemauert. Am Stadtrand lagen kleine Sozialbausiedlungen, wo die Grundstücke mit einem Grasstreifen an die Straße grenzten. Schließlich dünnte sich die Bebauung aus, verstreute Bauernhöfe und kleinere Molkereibetriebe bestimmten das Bild. Der Übergang von der Stadt zum Land war fließend und an manchen Stellen schwer zu erkennen. Zu Wohnhäusern und Eigentumswohnanlagen umgebaute Farmen lagen unmittelbar neben schlammigen Höfen und Weiden mit schwarzbuntem Vieh, und über allem hing ein durchdringender Landgeruch.
Früher oder später würde die Nachfrage nach Bauland die Grundstückspreise in die Höhe treiben, und die Stadt würde sich weiter ausbreiten. Doch noch wurde Edendale von den umliegenden Bergen in der Talsenke festgehalten.
Fry bog von der Castleton Road in die Grosvenor Avenue ein und hielt vor der Nummer zwölf. Dem solide gebauten Haus, eine der zahlreichen viktorianischen Villen in einer von Bäumen gesäumten Straße, merkte man an, dass es einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Die Eingangstür war von Säulen eingerahmt, und die winzigen möblierten Zimmer in der obersten Etage waren nur über versteckte Dienstbotentreppen erreichbar.
Ihre eigene Wohnung im ersten Stock bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, einem Bad mit Dusche und einer Kochnische. Die Tapete war blassbraun gestreift, und das Muster auf dem Teppich war ein kompliziertes Gewirr aus verwaschenen Blau-, Rosa- und Gelbtönen, das extra zu dem Zweck hätte entworfen sein können, verschüttete Flüssigkeiten spurlos aufzusaugen. Nach dem Geruch zu urteilen, der in der Wohnung hing, musste im Laufe der Jahre einiges auf den Boden gekippt worden sein, was Fry sich lieber nicht ausmalte. Die meisten anderen Bewohner des Hauses waren Studenten, die das High Peak College im Westen der Stadt besuchten.
Fry machte sich einen Käsetoast und eine Tasse Tee und nahm einen Diätjogurt aus dem Kühlschrank, in dem es verdächtig nach gammeligem Fisch und Zwiebeln roch. Obwohl sie ihn gründlich geschrubbt hatte, war sie den Mief nicht losgeworden, aber sie hatte ohnehin nicht vor, mehr als das Notwendigste an Lebensmitteln darin aufzubewahren. Sie ging lieber öfter einkaufen, froh um jeden Anlass, die Wohnung zu verlassen. Wenige Minuten entfernt gab es einen kleinen Laden, der von einem jungen asiatischen Ehepaar betrieben wurde, das einen netten Eindruck machte. Ein paar freundliche Worte, während sie Brot und Milch kaufte, würden vielleicht ab und zu ganz gut tun.
Nach dem Essen machte sie zehn Minuten leichte Gymnastik, um sich zu entspannen, wie nach einer Übungsstunde im Dojo. Sie dehnte die Muskeln, lockerte die Gelenke und streckte die Glieder. Dann duschte sie und zog ihren alten schwarzen Seidenkimono an, der auf dem Rücken mit einem chinesischen Drachen und auf der Vorderseite mit Yin- und Yangsymbolen bestickt war.
Sie beschloss, sich am nächsten Tag die Gelben Seiten zu besorgen und Namen und Adressen der Kampfsportzentren in Edendale herauszusuchen. Einen Lehrer wie ihren alten Shotokanmeister in Warley würde sie hier wohl kaum finden, und sie würde sich auch an neue Techniken gewöhnen müssen, aber sie konnte es sich nicht leisten, aus der Übung zu kommen. Dafür war es ihr viel zu wichtig, sich verteidigen zu können. Außerdem genoss sie das Selbstvertrauen und die Kraft, die sie dem Karate verdankte. Darüber hinaus erforderte der Sport ihre völlige Konzentration. So lange sie Shotokan und ihre Arbeit hatte, brauchte sie vielleicht nie mehr an irgendetwas anderes zu denken.
Fry beschäftigte sich nicht lange mit dem Mord an Laura Vernon. Ohne konkrete Daten und Fakten, auf deren Grundlage sie Schlüsse ziehen und Verbindungen herstellen konnte, wäre sie sowieso nicht weit gekommen. Sie freute sich schon darauf, dass sie bei der Besprechung am nächsten Morgen reichlich mit Informationen eingedeckt werden würde. Dann konnte man sehen, welche Ermittlungsansätze sich anboten und welche Chancen sich für sie selbst daraus ergaben.
Plötzlich wurde ihre Vorfreude durch einen unschönen Gedanken getrübt, eine kleine Irritation. Irgendwann würde sie sich mit diesem Problem wohl befassen müssen. Das Problem hieß DC Ben Cooper. Der Polizist, den alle liebten, der Mann, der ihr wahrscheinlich am meisten im Weg stehen würde. Sie sah ihn fast vor sich, ein Bild von einem Mann mit breiten Schultern und perfekten Zähnen, der selbstgefällig grinste. Doch sie hielt sich nicht lange mit diesem Gedanken auf. Unüberwindliche Hindernisse gab es nicht. Es gab keine Probleme, nur Herausforderungen.
Bevor sie ins Bett ging, sah sie sich noch einen Spätfilm im Fernsehen an, einen uralten Horrorschinken in Schwarzweiß. Aus dem zerschlissenen Sessel, in dem sie saß, konnte sie mit der Hand unter das Bett greifen, ohne den Bildschirm aus den Augen lassen zu müssen. Sie zog eine große Schachtel Pralinen hervor und biss langsam in einen Wiener Trüffel. Die Frau auf dem Bildschirm, die allein durch die Nacht ging, fuhr herum, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Dann fiel ein dunkler Schatten über ihr Gesicht, und sie schrie und schrie.
Sieben Kilometer von der Grosvenor Avenue entfernt fuhr Ben Cooper, die übelsten Schlaglöcher souverän umkurvend, in seinem Toyota den holprigen Feldweg zur Bridge End Farm hinunter. Stellenweise war die Fahrspur mit Erde oder einem Stück Backstein ausgebessert worden. Der erste heftige Winterregen würde alles wieder wegspülen, wenn das Wasser den Berg hinunterlief und den schmalen Weg in einen Bach verwandelte.
Im Vorbeifahren fiel ihm auf, dass an einer Stelle die Decksteine der Mauer heruntergefallen waren und dass sich die Mauer zum Feld hin wölbte. Er nahm sich vor, diesen Job an seinem nächsten freien Tag für Matt zu erledigen.
Cooper versuchte bewusst, sich mit solchen Alltagsdingen abzulenken. Aber in Gedanken war er noch immer mit dem Fall Laura Vernon beschäftigt. Es war eine Ermittlung, die er nicht so schnell vergessen würde. Der alte Mann, Harry Dickinson, war ihm ein Rätsel. Er hatte schon oft beobachtet, wie Menschen reagierten, die zufällig in ein schwereres Verbrechen verwickelt worden waren, doch noch bei keinem war ihm eine solch verwirrende Mischung aus Gleichgültigkeit und klammheimlicher Freude begegnet.
Da er keine Erklärung für das Verhalten des alten Mannes finden konnte, konzentrierte er sich auf den Haupttatverdächtigen, den flüchtigen Lee Sherratt. Er kannte Lee nicht und hatte noch nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Aber er erinnerte sich an seinen Vater, Jackie Sherratt, einen kleinen Gauner. Zurzeit saß er in Derby zwei Jahre wegen Hehlerei ab, aber in der Gegend um Edendale war er besser als erfahrener Wilderer bekannt.
Am häufigsten jedoch wanderten Coopers Gedanken zu dem Augenblick zurück, als er die Leiche des toten Mädchens gefunden hatte. Die Eindrücke waren so stark gewesen, dass sie sich unauslöschlich in seine Sinne eingegraben hatten. Selbst der Abendwind, der durch die offenen Fenster des Toyota wehte, konnte den Geruch nach getrocknetem Blut und Urin nicht vertreiben, der ihn zu umgeben schien. Und nicht einmal die Kassette von den Levellers, die er eingelegt hatte, konnte das Brummen der Fliegen, die ihre Eier in Laura Vernons Mund abgelegt hatten, nicht übertönen, das er noch in den Ohren hatte, oder das verächtliche Kreischen der zerzausten Krähe, die unwillig von ihrem Gesicht aufgeflattert war. Direkt vor seinen Augen, wie auf die Innenseite der Windschutzscheibe geprägt, sah er die eine leere Augenhöhle und den verblüffenden Kontrast zwischen dem leuchtend weißen Streifen Oberschenkel und dem dichten, schwarzen Schamhaar. In dem Moment wusste Cooper, dass Laura Vernons dunkelrotes Kopfhaar gefärbt war.
Es war beileibe nicht seine erste Leiche gewesen. Aber es wurde trotz der Erfahrung nicht leichter. Jedenfalls nicht, wenn sie so aussahen wie diese Tote. Er wusste, dass ihn dieser Anblick noch tage-, wenn nicht wochenlang verfolgen würde, bis die Eindrücke von etwas noch Schlimmerem überdeckt wurden. Doch es war auch möglich, dass sie blieben.
Cooper wurde das Gefühl nicht los, dass in dem Cottage in Moorhay, wo Harry und Gewn Dickinson wohnten, etwas nicht stimmte. Auch die Enkelin, Helen Milner, hatte es gespürt. Er konnte nicht genau sagen, was ihn störte; es waren keine klaren Fakten, die er in seinen Bericht aufnehmen konnte, kein logischer Schluss, den er irgendwie hätte begründen können. Er war sich noch nicht einmal unbedingt sicher, dass die gespannte Atmosphäre etwas mit dem Auffinden von Laura Vernons Leiche zu tun gehabt hatte. Trotzdem war im Dial Cottage irgendetwas faul gewesen. Darin irrte er sich bestimmt nicht.
Der Toyota klapperte über einen Viehrost auf den Hof der Bridge End Farm. Die Reifen verspritzten frischen Kuhdung, den die Herde auf dem Weg von der Weide zum Nachmittagsmelken und wieder zurück hinterlassen hatte. Einige Kälber, die für den Markt in Bakewell bestimmt waren, muhten Cooper aus einem der Wirtschaftsgebäude an, die den Hof säumten. Aber er achtete nicht auf sie, sondern sah im Vorbeifahren in den Traktorschuppen, wo der große grüne John Deer und der alte graue Gergie untergestellt waren und eine Reihe von Gerätschaften an den Wänden lehnte. Von seinem Bruder war keine Spur zu sehen, obwohl er um diese Zeit eigentlich immer an irgendwelchen Maschinen herumbastelte.
Als er vor dem Wohnhaus hielt, wurde ihm das Herz schwer. Seine Nichten Amy und Josie saßen auf der Mauer zwischen dem Feldweg und dem kleinen Vorgarten. Sie spielten nicht und redeten auch nicht miteinander, sondern saßen nur da, traten mit den Absätzen gegen die Steine und malten mit den Spitzen ihrer Turnschuhe im Staub herum. Sie blickten zwar hoch, als er den Toyota parkte, aber sie lächelten ihm zur Begrüßung nicht zu. Cooper sah der erst sechsjährigen Josie an, dass sie geweint hatte. Sie hatte gerötete Augen, ihre Nase war verschmiert, und auf den braunen Wangen hatte sie schmutzige Streifen. Auf der Mauer lag unbeachtet ein Comic-Heft, und auf der Erde breitete sich eine himbeerfarbene Eispfütze aus.
»Hallo, ihr zwei«, sagte er.
»Hi, Onkel Ben.«
Amy sah ihn an, eine unbestimmte Trauer in den großen Augen. Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter auf das Farmhaus. Die Tür stand offen, doch es drang kein Geräusch nach draußen. Eine schwarzweiße Katze, die aus dem Garten kam, ging bis zur Schwelle, blieb stehen und schnupperte. Dann lief sie schnell in Richtung der offenen Scheune davon.
»Mum ist in der Küche«, sagte Amy, ohne dass er zu fragen brauchte.
»Und wo ist euer Dad?«
»Er musste gleich nach dem Melken in den Burnt Wood. Irgendwelche Gatter reparieren.«
»Ach so.«
Cooper lächelte, doch die Mädchen zeigten keine Reaktion. Er erkannte die beiden Kinder kaum wieder, die normalerweise fröhlich angelaufen kamen, um ihn zu begrüßen. Aber er konnte sich denken, warum sie so niedergeschlagen waren.
In der großen Küche fand er seine Schwägerin Kate. Sie bewegte sich so steif vom Tisch zum Herd, als hätte sie Arthritis. Ihr kurzes blondes Haar war zerwühlt, und sie hatte einen Schweißfilm auf der Stirn, der nicht nur durch den heißen Tag oder den dampfenden, leeren Topf auf dem Herd zu erklären war. Auch sie hatte geweint.
Als sie ihn sah, ließ sie das Tranchiermesser fallen, das sie in der Hand hielt, als wäre es eine Erleichterung, es loszuwerden. Normalerweise duftete es in der Küche nach Kräutern und selbst gebackenem Brot, manchmal auch nach Knoblauch und Olivenöl. Heute Abend aber roch es nach Desinfektionsmitteln, und es hingen noch üblere Gerüche in der Luft, die in Cooper eine böse Vorahnung aufsteigen ließen. Seine Bauchmuskeln krampften sich zusammen.
»Was ist passiert, Kate?«
Seine Schwägerin schüttelte den Kopf und musste sich auf den Holztisch stützen, völlig erschöpft von dem Versuch, um der Mädchen willen den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Nach allem, was Cooper draußen gesehen hatte, hätte er ihr sagen können, dass ihre Anstrengungen vergeblich gewesen waren.
»Sieh es dir selber an«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr, Ben.«
Als er ihr die Hand auf die Schulter legte, kamen ihr wieder die Tränen.
»Lass mich nur machen«, sagte er. »Kümmere du dich um die Mädchen.«
Er ging in die Diele, die mitten durch das Haus lief, und sah die Treppe hinauf. In seiner Kindheit war es in der Diele und auf der Treppe immer finster gewesen. Wände und Holz waren dunkel lackiert und die Dielenbretter zu beiden Seiten des schmalen Läufers schwarz gestrichen gewesen. Der Läufer selbst hatte jede Farbe verloren gehabt, so aussichtslos war der Kampf gegen den Schmutz, den sein Vater, sein Onkel, ihre Kinder, drei Hunde, zahlreiche Katzen und manchmal auch andere Tiere, die im Haus aufgepäppelt werden mussten, hereintrugen. Das alles war längst anders geworden. Die Diele war mit einem dicken Teppichboden ausgelegt, die Wände waren weiß gestrichen. Das abgebeizte Holz verbreitete einen goldenen Schimmer, und überall hingen Spiegel und Bilder, die das spärliche Licht, das durch die halbmondförmigen Fenster in den beiden Dielentüren hereinkam, einfingen und zurückwarfen.
So hell, luftig und einladend die Treppe inzwischen auch geworden war, heute graute es Cooper die erste Stufe zu betreten wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Auf einer der mittleren Stufen sah er einen rosafarbenen, flauschigen Hausschuh, der mit Exkrementen beschmiert war.
Der Pantoffel lag auf der Seite, so harmlos und unschuldig, dass er schockierend obszön wirkte. Die fröhliche Farbe biss sich mit der des Teppichs. Ein blutiges Herz auf der Treppe hätte Cooper nicht mehr entsetzen können.
Während er langsam nach oben ging, bückte er sich nach dem Hausschuh und hob ihn vorsichtig auf, als wäre er ein wichtiges Beweisstück. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen, legte den Kopf auf die Seite und lauschte dem verzweifelten, fiependen Wimmern hinter der Tür. Es waren unmenschliche Laute, wie das undeutliche Klagen eines leidenden Tieres, ohne Worte.
Dann öffnete Cooper die Tür. Er musste kräftig drücken, weil auf dem Boden ein Hindernis lag. Er trat ein. Das Zimmer glich einem Schlachtfeld, und es bot sich ihm ein Bild der Verwüstung, wie er es noch an keinem Tatort gesehen hatte.