Читать книгу Todesacker - Stephen Booth - Страница 10
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Raymond Sutton saß im großen Aufenthaltsraum des Oaks-Pflegeheims in Edendale – in dem mit Blick auf die dahinterliegenden Felder, wo er gelegentlich in der Ferne Kühe grasen sah. Holstein-Kühe, doch das war besser als nichts. Natürlich lief der Fernseher. Einige von den alten Mädchen sahen ununterbrochen fern, obwohl sie nicht immer wussten, was sie sahen. Das meiste von dem Zeug, was tagsüber lief, war Blödsinn: hirnlose Quizshows, uralte Spielfilme, Zeichentrickserien für Kinder. Er hatte es noch nie gemocht, drinnen vor dem Fernseher zu sitzen. Die Nachrichten sah sich Raymond allerdings gerne an. Wenn man alt und etwas steif in den Gelenken war, bedeutete das nicht, dass man seine Gehirnzellen absterben lassen sollte.
Er sah, wie ein Auto von der Straße in das Tor einbog und die Zufahrt entlanggefahren kam. Dank seines neuen Hörgeräts hörte er die Reifen auf dem Kies knirschen. Als sein Hörvermögen nachgelassen hatte, waren ihm viele Geräusche entgangen, doch das Motorengeräusch von Autos hatte nicht dazugehört. Die Pity Wood Farm war weit genug von der Straße entfernt gewesen, um ihn vor Verkehrslärm zu bewahren.
Dieses Auto konnte er nicht identifizieren. Es war rot, was heutzutage ungewöhnlich war. Alle schienen sich für grau oder silberfarben zu entscheiden, was es schwierig machte, Autos zu unterscheiden. Er sah auch, dass es sich um einen Geländewagen handelte. Um einen japanischen – Mitsubishi, Toyota? Irgendeine von diesen Marken. Früher hätte er den Unterschied womöglich erkannt, doch inzwischen spielten solche Dinge keine Rolle mehr für ihn.
Auf jeden Fall handelte es sich um einen Geländewagen, und er war an den Radläufen und im unteren Bereich der Türen stark mit Schlamm verspritzt. Jemand, der sich auf dem Land auskannte also. Er fragte sich, welcher der Bewohner wohl Besuch bekam.
Eine der Pflegerinnen kam ins Zimmer. Es war diejenige, die Elaine hieß. Jung, dunkelhaarig, eine von den netteren. Sie war immer liebenswürdig zu ihm, wenn sie ihm aus dem Bett oder in die Badewanne helfen musste. Ein bisschen Freundlichkeit machte seine letzten Tage erträglicher.
»Raymond«, sagte sie. »Fühlen Sie sich gut genug, um Besucher zu empfangen? Hier sind Leute, die Sie gerne sehen würden. Sie sind von der Polizei.«
Cooper hatte das Gefühl, dass die Befragung von Raymond Sutton vermutlich besser gelaufen wäre, wenn er mit ihm allein gewesen wäre. Doch vorerst war Detective Inspector Hitchens für die Untersuchung verantwortlich, und deshalb war es sein gutes Recht, zu tun, was er für richtig hielt. Manche wären vielleicht der Meinung gewesen, dass der Ermittlungsleiter die Untersuchung vom Büro aus hätte koordinieren und seine Mitarbeiter hätte einteilen sollen, doch was wusste er schon? Er war schließlich nur ein Detective Constable.
Eine Pflegerin, deren Namensschild verriet, dass sie Elaine hieß, brachte sie in einen Aufenthaltsraum. Entweder war Mr Sutton allein dort hineingesetzt worden, oder man hatte die anderen Bewohner woandershin gebracht, als Hitchens und Cooper eingetroffen waren. Was auch immer es war, sie fanden den alten Mann mutterseelenallein vor. Er saß in einem jener großen Sessel, in denen immer nur alte Menschen saßen. An den Wänden des Raumes standen weitere ähnliche Sessel, und in einer Ecke befand sich ein großer Fernseher, der einen Augenblick zuvor glücklicherweise ausgeschaltet worden war. Bei Befragungen, die bei den betreffenden Personen zu Hause durchgeführt wurden, musste man sich häufig über den Lärm des Fernsehers hinweg anschreien. Man war oftmals versucht, jemanden nur deshalb mit aufs Revier zu nehmen, um überhaupt verstehen zu können, was er zu sagen hatte.
»Mr Sutton? Ich bin Detective Inspector Hitchens, und das ist Detective Constable Cooper. Wir sind von der Kriminalpolizei Edendale.«
Hitchens zückte seine Dienstmarke, wie es die Vorschriften empfahlen. Doch Sutton streckte stattdessen die Hand aus, um seine Besucher zu begrüßen, und Hitchens blieb nichts anderes übrig, als sie zu schütteln. Cooper tat dasselbe und umschloss dabei eine Hand mit hauchdünner Haut, die in der seinen leicht zitterte. Der alte Mann roch nach Seife, und seine Bekleidung war sauber und ordentlich, wenngleich ihm die Strickjacke, die er trug, nicht mehr so gut passte, wie es einst der Fall gewesen sein mochte.
Sie ließen sich links und rechts von ihm auf Stühlen nieder, und Hitchens eröffnete das Gespräch.
»Mr Sutton, Sie sind der ehemalige Eigentümer der Pity Wood Farm, ist das richtig?«
»Jawohl. Dort wohne ich. Pity Wood.«
Hitchens schüttelte den Kopf. »Dort haben Sie früher gewohnt. Sie haben die Farm verkauft, nicht wahr?«
»Stimmt. Da haben Sie recht. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, wer sie gekauft hat.«
»Wir wissen, wer sie gekauft hat, Mr Sutton.«
»Wer denn? Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
»Mr Goodwin, aus Manchester.«
»Den kenne ich nicht. Das wurde alles über den Makler und die Anwälte abgewickelt. Sie müssen die fragen, wo er ist.«
»Nein, wir möchten uns mit Ihnen über die Pity Wood Farm unterhalten.«
»Pity Wood, da wohne ich.«
»Sie wohnen dort nicht mehr. Haben Sie das denn vergessen?«
Sutton lachte – ein trockenes, krächzendes Lachen, das wenig Heiterkeit enthielt, als folterte ihn der Detective Inspector, indem er ihn mit einer Feder an einer empfindlichen Stelle kitzelte.
»An manche Dinge erinnere ich mich noch ganz gut. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den Kerl, der die Farm gekauft hat. Wie heißt er, sagten Sie?«
»Goodwin.«
»Den kenne ich nicht.«
»Nein, Sir …«
Der alte Mann wandte sich von Hitchens ab und musterte stattdessen Cooper mit funkelnden Augen. »Sie besuchen mich doch wieder, oder? Ich bekomme nämlich nicht oft Besuch.«
Daraufhin wurde Hitchens ungeduldig und machte den Fehler, die Hand auf Suttons Arm zu legen, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der alte Mann zog abrupt den Arm weg und starrte Hitchens empört an.
»Moment mal, junger Mann. Nehmen Sie Ihre Hände von mir weg, oder ich lasse die Polizei rufen.«
»Mr Sutton. Ich fürchte, wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen, Sir. Heute Vormittag wurden auf der Pity Wood Farm die sterblichen Überreste eines Menschen gefunden. Die Leiche einer Frau. Wir müssen herausfinden, wie es dazu gekommen ist, dass diese Person auf Ihrer Farm begraben wurde.«
»Fragen? Tja, das können Sie schon versuchen. Öffnen Sie das Scheunentor, dann finden Sie vielleicht eine Kuh.«
Hitchens öffnete den Mund, schloss ihn aber schnell wieder, als habe er soeben die Kuh gefunden und wollte verhindern, dass sie wieder entkam.
Sie ließen Mr Sutton allein im Aufenthaltsraum zurück und suchten die Pflegerin, die sie ins Oaks-Pflegeheim eingelassen hatte.
»Tut mir leid, wenn Sie nicht viel Erfolg hatten, Inspector«, sagte sie. »Raymond hat gute Tage und schlechte Tage. Sie würden sich wundern, an wie viel er sich manchmal erinnern kann. Sein Gedächtnis ist noch ziemlich gut. Hin und wieder ist er allerdings ein bisschen, na ja … verwirrt, ja sogar verzweifelt. Das ist in seinem Zustand vollkommen normal, aber man kann nie genau sagen, was ihn bekümmert. Erinnerungen, vermute ich.«
»Wäre es möglich, ihn für ein paar Stunden von hier mitzunehmen, wenn er einen guten Tag hat?«, erkundigte sich Hitchens. »Wir hätten gerne, dass er uns begleitet und die Farm in Augenschein nimmt.«
»Sein ehemaliges Zuhause? Oh, ich bin sicher, darüber würde sich Raymond sehr freuen.«
»Ich gehe davon aus, dass er dafür körperlich fit genug ist, oder?«
»Oh, ja. Er hat für sein Alter keine größeren gesundheitlichen Probleme. Der Arzt sagt, Raymond ist ein ziemlich zäher alter Knabe. Wahrscheinlich wird er in zehn Jahren immer noch hier sein, wenn von unseren anderen Bewohnern keiner mehr unter uns ist. Ich nehme an, das liegt daran, dass er Farmer war.«
»Und bestimmt auch an der wunderbaren Betreuung, die er hier bekommt.«
»Oh, vielen Dank, Inspector.«
Hitchens nickte und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Cooper konnte es sich nicht verkneifen, eine Augenbraue hochzuziehen. Er persönlich war der Meinung, dass Raymond Sutton sich ganz und gar nicht über einen Tagesausflug zur Pity Wood Farm freuen würde, aber vielleicht täuschte er sich auch, was das betraf.
»Ja, wenn das Wetter mitspielt, stellen wir einen Rollstuhl in den Kleinbus, und Colin fährt Raymond nach Rakedale, damit er die Farm besuchen kann. Aber Sie werden ihn doch nicht überfordern, oder?«
»Ganz bestimmt nicht. Wir schicken ihn sofort wieder zurück, wenn er nicht mehr will.«
»Gut, Inspector. Können wir Sie anrufen, wenn wir denken, dass er bereit ist?«
Der Detective Inspector holte eine Visitenkarte hervor und überreichte sie mit einer Geste, die beinahe einer kleinen Verbeugung glich. Cooper verspürte einen leichten Würgereiz, obwohl Hitchens Charme nicht ihm galt.
»Sir«, sagte Cooper, als sie gingen, »denken Sie, Raymond Sutton weiß, wer die Leiche auf der Farm vergraben hat?«
»Da bin ich mir fast sicher.«
»Könnte er in Gefahr sein? Ob vielleicht irgendjemand sichergehen möchte, dass Mr Sutton nichts verrät?«
»Schon möglich. Aber wie sollte jemand im Oaks-Pflegeheim an ihn herankommen? Die Sicherheitsvorkehrungen sind ziemlich gut, und das Personal weiß bei allen Bewohnern rund um die Uhr genau Bescheid, wo sie sich aufhalten.«
»Hoffentlich haben Sie recht«, erwiderte Cooper.
Nikolai Dudzik schob sich fluchend seinen gelben Bauhelm aus der Stirn. »Sehen Sie sich die Nebengebäude an. Alle Dächer sind morsch. Völlig morsch. Sie müssen alle abgedeckt werden, wissen Sie. Allein für die Dachstühle brauchen wir Unmengen von Balken.«
Fry sah, dass Dudziks Arbeiter hinter der Scheune ein Labyrinth von Gräben für die neuen Wasser- und Abflussleitungen ausgehoben hatten. Bislang waren noch keine Rohre verlegt worden – diese lagen noch in Stapeln am Rand des Feldes. Doch die Gräben waren dank des Regens, der auch weiterhin mit nur kurzen Unterbrechungen auf die Pity Wood Farm fiel, halb voll mit Wasser. Sie sah, dass der Lehm offenbar wasserundurchlässig war. Weiter nördlich hätte der Kalkstein das Regenwasser durchgelassen wie ein Sieb. Das war einer der geologischen Fakten, die sie gelernt hatte, seit sie von Birmingham in den Peak District umgesiedelt war.
»Angeblich sind da drüben irgendwo alte Abflussrohre«, sagte Dudzik und deutete auf die verfallenen Ruinen eines Kuhstalls. »Wir haben sie nicht gefunden, und wir suchen auch nicht mehr danach. Weiß Gott, in welchem Zustand sie sich befinden. Sie müssen sehr, sehr alt sein.«
In den Nebengebäuden hatte jemand damit begonnen, den alten Putz von den Wänden zu schlagen. Der Boden war dick mit Staub bedeckt, und das freigelegte Mauerwerk sah verdächtig feucht aus.
»Wenn es nach mir ginge, würde ich das ganze Ding abreißen«, sagte Dudzik. »Dann könnten wir von vorn anfangen und die Sache ordentlich machen. Aber wir sollen den originalen Charakter erhalten. Den originalen Charakter! Ein Haufen alter Steine und morscher Balken. Was hat das für einen Sinn? Das würde ich wirklich gerne wissen.«
Fry ließ ihn noch eine Weile weiterreden. Dann fiel ihr eine Frage ein. »Warum, sagten Sie, haben Sie die alten Abflussrohre nicht ausgegraben?«
Dudzik zuckte mit den Schultern. »Man kann unmöglich wissen, wo sie sich genau befinden. Bei so alten Anwesen gibt es keine Aufzeichnungen mehr, keine anständigen Pläne. Und die Kanalisation verläuft oft in merkwürdigen Winkeln, wenn sie so alt ist. Sie besteht aus Tonrohren – die sind inzwischen unbrauchbar. Völlig unbrauchbar. Außerdem ist in den neuen Plänen für diesen Bereich nichts eingezeichnet. Dort soll nur ein Garten oder eine Koppel hinkommen – welchen Sinn hätte es also, wenn wir die Leitungen ausgraben würden?«
»Und die Stelle, wo Jamie Ward die Leiche gefunden hat – da sollte gar keine Mauer hin?«
»Nein, nein. Da sollte keine Mauer hin. Die Aufgabe habe ich Jamie nur gegeben, wissen Sie … damit er uns nicht im Weg umgeht.«
»Dürfte ich bitte einmal einen Blick auf die Pläne werfen?«
»Sicher.«
Dudzik zog einen zusammengerollten Plan aus seiner Gesäßtasche und reichte ihn ihr.
»Sieht so aus, als sollte dieser Bereich weitgehend unberührt bleiben«, sagte sie. »Auf dem Plan ist hier nur Rasen eingezeichnet.«
Dudzik zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Aber was für eine Verschwendung. Das wäre der ideale Platz für eine Terrasse. Ein ordentliches Pflaster, wissen Sie. Ein Brunnen vielleicht. Das hätten wir hübsch machen können.«
»So etwas Ähnliches hat Jamie auch gesagt.«
»Dieser Junge. Dumm ist er nicht – er ist nur nicht besonders geschickt, wissen Sie.«
»Er hätte sicher bald gemerkt, dass gar keine Mauer gebaut werden soll, oder?«
»Gut möglich, Detective.«
Fry hatte auf seinen Akzent geachtet. Sie wusste, dass er Pole war, aber das merkte man nur am Klang der Vokale. Er konnte sich hervorragend ausdrücken und geriet bei der Verwendung von Zeitformen, die für Nichtmuttersprachler häufig ein Problem darstellten, nicht ins Straucheln.
»Ihr Englisch ist ausgezeichnet, Mr Dudzik. Wie lange sind Sie denn schon in diesem Land?«
Der Polier sah sie argwöhnisch an. »Seit acht Jahren, Sergeant. Englisch habe ich schon als Kind in Polen in der Schule gelernt. Als ich hierherkam, habe ich mit allen Leuten, die ich kennenlernte, Englisch gesprochen. Einige meiner Landsleute, die jetzt nach England kommen, sind der Meinung, sie müssten sich nicht die Mühe machen, Englisch zu lernen. Das ist ihnen zu aufwändig. Sie glauben, dass für sie alles ins Polnische übersetzt wird, weil sie so viele sind. Aber ich war einer der Ersten, die hierhergekommen sind, als mein Land noch nicht einmal zur Europäischen Union gehörte. Ich wollte schon immer in England leben, deshalb habe ich Englisch gelernt. Das ist die einzige Möglichkeit, um sich zu integrieren, oder?«
»Ja, selbstverständlich.«
Er sah sie noch immer unsicher an. »Meine Papiere sind in Ordnung.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, entgegnete Fry. »Aber könnten Sie mir einen großen Gefallen tun? Würden Sie meinem Kollegen Detective Constable Murfin bitte eine Liste Ihrer Männer geben, die hier auf der Farm gearbeitet haben?«
Raymond Sutton stand auf einer Seite des Fensters und beobachtete, wie die Polizisten am Ende der Einfahrt in ihren Wagen stiegen. Leise murmelte er einen Satz vor sich hin.
»Und sie antworteten und sprachen zu ihm: Herr, wo?«
Als das Auto aus dem Blickfeld verschwand, ließ er den Vorhang fallen. Er wandte sich wieder dem Raum zu, sah sich einen Augenblick lang um und vollendete das Zitat.
»Er aber sprach zu ihnen: Wo der Leichnam ist, da sammeln sich auch die Adler.«
»Entschuldigung, Raymond? Haben Sie gerade etwas gesagt?«
Sutton starrte Elaine an, da ihn ihre Anwesenheit verwirrte. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie das Zimmer betreten hatte. Er hatte geglaubt, woanders zu sein, weit weg, beinahe in einem anderen Leben.
»Das Lukas-Evangelium«, sagte er. »Kapitel siebzehn, Vers siebenunddreißig.«
»Ich verstehe, Raymond. Sind Sie schon fertig fürs Abendessen?«
»Die King-James-Version. Natürlich.«
»Dann hole ich es, ja?«
»Tun Sie, was Sie wollen. Das macht jetzt sowieso keinen Unterschied mehr.«