Читать книгу Todesacker - Stephen Booth - Страница 13
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Freitag
Jamie Ward wachte am nächsten Tag spät auf. Er blieb eine Weile im Bett liegen und horchte auf Geräusche im Haus oder draußen auf der Straße, ohne genau zu wissen, was er zu hören erwartete. Die Doppelhaushälfte seiner Eltern befand sich in einem besseren Außenbezirk von Edendale, in der Nähe des besten Gymnasiums und der hübschesten Kirche. Die Sirenen ertönten immer auf der anderen Seite der Stadt in den Wohnsiedlungen.
Zunächst sträubte sich Jamie dagegen, sich den Vortag ins Gedächtnis zu rufen, doch nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. All die Details waren noch immer da, frisch und lebendig. Der Schlamm, die Polizei, die Auseinandersetzung. Die Hand.
Und dann kam er plötzlich zu der Überzeugung, dass dieser Tag kein normaler Tag werden konnte, nach dem, was auf der Pity Wood Farm geschehen war. Es war unvorstellbar, dass das Leben in seiner alltäglichen Routine weitergehen würde. Aufstehen, frühstücken, joggen gehen, mit Freunden am Telefon plaudern. Das würde sich einfach nicht richtig anfühlen.
Jamie ging ins Badezimmer und fand seine schlammverschmierten Jeans ganz oben im Wäschekorb. An seinem ersten Arbeitstag auf der Baustelle war er in Turnschuhen erschienen. Er hatte sein zweitbestes Paar getragen, nicht die modischen Turnschuhe, die er anzog, wenn er mit seinen Freunden ausging. Und Nikolai hatte ihn ausgelacht. Alle anderen hatten dasselbe getan, allerdings nicht ganz so offensichtlich.
»Kleiner Jamie, möchtest du deine Zehen verlieren?«, hatte Nikolai ihn gefragt, sich eine Benson and Hedges angezündet und den Rauch zu seinen Füßen geblasen. »Junge, so überstehst du auf meiner Baustelle nicht mal einen Tag. Wir besorgen dir anständige Stiefel, okay?«
»Okay, Nikolai.«
»Nenn mich Nik.«
Das meiste von dem, was auf der Baustelle vor sich ging, war Jamie ein Rätsel. Die Maurer, Zimmerer und Stuckateure waren geschickte Männer, die schnell und oft schweigsam arbeiteten und dabei mit Werkzeugen hantierten, deren Namen er nicht einmal kannte.
Einiges war offensichtlich – die Gräben, die für die neuen Abflussleitungen ausgehoben wurden, der Kies, der für die Zufahrt zur Baustelle aufgeschüttet worden war. Doch ein paar Dinge waren ihm merkwürdig vorgekommen. Wenn er mit den anderen Männern vertrauter gewesen wäre, hätte er sie nach den Gründen für das gefragt, was sie taten. Jamie wusste, dass man nachfragen sollte, wenn man etwas nicht verstand, und dass man keine Angst davor haben sollte, dumm zu wirken. Wenn man keine Fragen stellte, erhielt man auch keine Antworten, und das war wesentlich dümmer, oder etwa nicht?
Das einzig Gute daran, wie Nikolai und die anderen ihn auf der Baustelle behandelt hatten, war, dass sie nicht immer darauf geachtet hatten, ob er sich in ihrer Nähe aufhielt oder wie hart er arbeitete.
Jamie duschte und stöberte saubere Kleidung auf. Dann machte er sich auf die Suche nach seiner Mutter, um sie zu fragen, ob er sich ihren Wagen ausleihen und damit nach Rakedale fahren durfte.
Als Cooper an diesem Morgen an seinem Schreibtisch ankam, erwarteten ihn dreiundvierzig neue E-Mails. Keine Spam-Mails, keine Spaß-Mails, keine Privat-Mails – die hatte die IT-Abteilung gemäß den Polizeirichtlinien alle blockiert. Nein, diese dreiundvierzig standen allesamt im Zusammenhang mit der Arbeit. Natürlich nicht unbedingt im Zusammenhang mit seiner Arbeit. Trotzdem musste er leider jede Einzelne davon öffnen und ganz durchlesen, ehe er sich sicher sein konnte, dass sie ihn nicht betraf.
Heute hatte er einen ziemlich typischen Schwung E-Mails bekommen. Dazu gehörten die üblichen Anfragen der Strafjustizabteilung nach fertigen Zeugenaussagen und Kopien von Notizbucheinträgen. Außerdem war eine Reihe von Anweisungen und Ratschlägen vom Führungsstab dabei, die sich zu einem großen Teil auf die wichtigsten Erfolgskennzahlen bezogen. Von der Police Federation hatte er ebenfalls ein paar E-Mails erhalten, außerdem Ankündigungen fünf völlig neuer Bestimmungen und Arbeitsvorschriften, die allesamt im kommenden Monat in Kraft traten.
Zu jeder neuen Bestimmung gab es begleitende Dokumente, und es wurde von ihm erwartet, sie zu studieren und zu lernen und anschließend anzuwenden. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Doch irgendein Schreibtischhengst würde zum Kontrolleur ernannt werden, um die neuen Bestimmungen zu überwachen, also musste er sich auf den neuesten Stand bringen.
Hin und wieder speicherte Cooper ein paar Glückwunsch-E-Mails – nur für den Fall, dass er irgendwann ein wenig Aufmunterung brauchen sollte.
»Glück ist ein leerer Posteingangsordner«, philosophierte Murfin.
»E-Mails?«
»Ja, aber die lese ich nie.«
»Wie kommst du damit durch, Gavin?«
»Keine Ahnung. Eigentlich betrachte ich sie genauso wie die ganzen Junk-Mails, die ich zu Hause bekomme und die mir einen größeren Penis versprechen. Ich gehe einfach davon aus, dass sie für jemand anderen bestimmt sind, da ich sie ganz offensichtlich nicht brauche.«
»Vielleicht ist ja etwas über einen neuen Kurs dabei, den du belegen könntest«, schlug Cooper vor.
»Den brauche ich genauso wenig. Nicht seit ich meine Kläranlagen-Übung gemacht habe.«
Cooper lachte. Gavin war im Jahr zuvor zu einer Übung des Ordnungsamts geschickt worden und hatte sich immer noch nicht von dem Schock erholt. Er war zusammen mit mehreren Hundert anderen Polizisten mit Kampfausrüstung ausstaffiert und in das Klärwerk von Derby abkommandiert worden. Ein paar Stunden lang hatte er einer aufgebrachten Meute von Severn-Trent-Water-Angestellten und Hilfspolizisten gegenübergestanden, die Steine und Molotowcocktails auf ihn schleuderten, um die Übung so realistisch wie möglich wirken zu lassen. In seiner Mitarbeiterbeurteilung stand, er habe wertvolle Erfahrungen gemacht, wie ein größerer Aufruhr unter Kontrolle gebracht werden könne. Gavin sagte, das Einzige, was er dabei gelernt habe, sei, dass Scheiße stinkt.
Noch immer lachend, warf Cooper einen Blick auf den ersten E-Mail-Anhang, den er geöffnet hatte. Er las ihn ein zweites Mal und versuchte zu verstehen, was er vor Augen hatte. In dem Text wurde auf eine sogenannte Regelbefolgungsmatrix zur Sicherheit der Allgemeinheit verwiesen.
Die Einsatzbesprechung an diesem Morgen war verhältnismäßig zwanglos. Detective Chief Inspector Kessen war in seiner Funktion als Crime Manager der Division anwesend, obwohl er derzeit Ermittlungsleiter bei einer größeren Untersuchung in der Gegend von Matlock war. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein ranghoher Kriminalpolizist mehrere Ermittlungen gleichzeitig leitete, doch bislang war der Fall Pity Wood noch nicht einmal offiziell als Morduntersuchung deklariert worden.
»Es ist noch zu früh, um die Vermisstenanzeigen zu durchforsten«, erklärte Detective Inspector Hitchens, nachdem sich das Team versammelt hatte, »solange wir noch nichts über das Alter des Opfers und den Todeszeitpunkt wissen. Die Liste ist sonst zu lang – wir brauchen irgendetwas, um sie einzugrenzen. Es existieren weder Berichte zu Zwischenfällen auf der Pity Wood Farm, noch wurde irgendwo im Rakedale-Tal jemand als vermisst gemeldet. Wir müssen unsere Netze weiter auswerfen. Irgendwelche Vorschläge?«
»Wir könnten trotzdem mit den Eigentümern der Farm anfangen. Wie lange steht sie schon leer?«, fragte jemand.
»Seit neun Monaten. Aber im Haushalt waren keine Frauen verzeichnet. Die Pity Wood Farm wurde von zwei älteren Männern geführt, den Brüdern Derek und Raymond Sutton. Derek ist vor zwölf Monaten gestorben, und Raymond lebt in einem Pflegeheim in Edendale, seit bei ihm Alzheimer im Anfangsstadium diagnostiziert wurde. Vielleicht wurde die Farm verkauft, um seine Pflege zu finanzieren. Inzwischen wäre er ohnehin nicht mehr in der Lage, sie zu führen.«
»Irgendjemand muss den beiden doch bei der Arbeit auf der Farm geholfen haben«, sagte Fry. »Sie ist zwar ziemlich heruntergekommen, aber zwei alte Männer hätten das unmöglich allein schaffen können, oder?«
»Hast du schon mal welche von diesen Bergfarmern kennengelernt?«, fragte Cooper. »Das sind zähe Burschen. Manche von ihnen machen einfach bis zur völligen Erschöpfung weiter.«
»Trotzdem …«
»Na ja, hin und wieder wurden auf Pity Wood sicher Arbeiter beschäftigt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass unter diesen Helfern auch Frauen waren. Allem Anschein nach haben die Brüder selbst gekocht und geputzt.«
Cooper erinnerte sich an den Zustand des Farmhauses und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. In der Küche mochte zwar gekocht worden sein, doch er war sich ziemlich sicher, dass Putzen nicht sehr weit oben auf der Tagesordnung der Brüder gestanden hatte. Vielleicht galt Schmutz heutzutage ja als Lebenseinstellung.
»Das Problem ist, je mehr Arbeitern wir nachspüren, desto mehr potentielle Verdächtige bekommen wir.«
»Gibt es denn tatsächlich Hinweise auf ein Verbrechen?«
»Tja, zumindest die illegale Entsorgung einer Leiche. Irgendjemand muss das Grab ja geschaufelt und anschließend wieder zugeschüttet haben, oder etwa nicht? Aber was die Todesursache betrifft … dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Ebenso wenig kann ich sagen, ob es sich um Mord, Selbstmord, einen Unfall oder einen natürlichen Tod handelt. Tut mir leid.«
»Aber welche Fakten haben wir, Paul?«, fragte Kessen. »Haben wir, abgesehen von einem Leichnam mit unbekannter Todesursache, irgendwelche Beweise für ein Tötungsdelikt?«
Das war eine schwierige Frage, doch die Antwort war von entscheidender Wichtigkeit. Wenn der Ermittlungsleiter den Schauplatz falsch interpretierte und eine Morduntersuchung einleitete und sich dann herausstellte, dass es sich um einen Selbstmord oder einen natürlichen Tod handelte, lief er Gefahr, wegen Verschwendung von Ressourcen gerügt zu werden. Wenn er dagegen den Tod natürlichen Ursachen zuschrieb und anschließend bei der Obduktion widerlegt wurde, konnte seine Entscheidung ernste Konsequenzen für den Erfolg jeder späteren Untersuchung haben. Da der Ermittlungsleiter seine Einschätzung unter Druck abgeben musste, bedurfte es eines guten Urteilsvermögens, um anhand von begrenzten Informationen die richtige Entscheidung zu treffen.
»Wir stellen die Beurteilung vorerst zurück«, sagte Hitchens. »Noch wird keine Morduntersuchung eingeleitet.«
Kessen grunzte unverbindlich. »Und wer untersucht den Farmhintergrund?«
»Detective Constable Cooper. Er ist derjenige, der hier seine Wurzeln hat. Einverstanden, Ben?«
Cooper nickte automatisch, da er keine Chance bekommen hatte, darüber nachzudenken.
»Ich hoffe, dass die Kriminaltechniker in der Zwischenzeit ein paar frische Beweise finden. Zumindest frischer als die Leiche.«
»Frischer als die Leiche? Das dürfte nicht so schwierig sein«, sagte Murfin leise zu Cooper.
»Wir befragen heute die Bewohner der Ortschaft, und das bedeutet, alle Mann an die Arbeit«, sagte Hitchens. »Rakedale ist ein kleiner Ort, also werden wir jeden Haushalt abklappern. Und vergessen Sie nicht die abgelegenen Farmen. Sie wissen ja alle, wie solche Orte sind – das Wissen der Einheimischen könnte der Schlüssel sein. Irgendeine alte Schachtel wird uns schon die entscheidende Information zukommen lassen. Also, machen wir uns an die Arbeit.«
»Bevor Sie gehen«, sagte Kessen und erhob die Stimme über den Trubel, der sich entwickelte, »muss der Detective Chief Inspector noch eine Ankündigung machen. Er möchte das Ermittlungsteam in seinem Büro sehen, sobald wir hier fertig sind.«
»Oh, oh«, sagte Murfin. »Das klingt nach schlechten Neuigkeiten.«
Auf ihrem offiziellen Foto wirkte sie steif und humorlos. Sie vermittelte den Eindruck, als sei sie eine Frau, die normalerweise kein Make-up trug, sich jedoch verpflichtet gefühlt hatte, sich Mühe zu geben, als sie für den Fotografen posiert hatte. Cooper dachte, dass ihr jemand ein paar Schminktipps hätte geben sollen. Doch womöglich hatte sich niemand getraut, etwas zu ihr zu sagen. Stattdessen hatte sie mit ungeübter Hand Lippenstift und Wimperntusche aufgetragen, und das Ergebnis sah unnatürlich aus. Sie machte ihn schon jetzt nervös.
»Und das ist …?«, erkundigte sich Fry.
Hitchens verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Unser neuer Boss.«
»Was?«
Der Divisionsleiter, Chief Superintendent Jepson, hatte das Ermittlungsteam zu einer Besprechung in sein Büro zitiert. Er brachte Hitchens mit einer Geste zum Schweigen.
»Ripley hat endlich jemanden in das Senior Management Team berufen«, erklärte Jepson. »Die E-Division hat eine neue Detective Superintendent.«
Es herrschte einen Moment lang Stille, als alle das Foto betrachteten. Der letzte Neuzugang in der Führungsriege, eine weitere Quelle für motivierende E-Mails.
»Detective Superintendent Hazel Branagh«, sagte Hitchens, um die Anspannung zu lösen. Der Tonfall seiner Stimme war schwer einzuordnen, als habe er sich besonders bemüht, neutral zu klingen.
»Sie ist eine äußerst effiziente Führungskraft«, sagte Jepson, »und genießt großen Respekt bei ihrem derzeitigen Team. Alle Leute, die für sie arbeiten, sind sich einig: Bei Superintendent Branagh wissen sie genau, wo sie stehen.«
»Nicht in Reichweite, nehme ich an«, flüsterte Murfin Cooper zu.
Jepson quittierte die Unterbrechung mit einem Stirnrunzeln, obwohl er nicht verstanden hatte, was gesagt worden war. »Wissen Sie, manche Führungskräfte sind nicht in der Lage, Abstand zu ihren Mitarbeitern zu halten. Sie verhalten sich ihren Untergebenen gegenüber zu kameradschaftlich. Ich weiß, wie verlockend es ist, das zu tun – man möchte, dass eine freundschaftliche Atmosphäre herrscht. Bonding nennt man das heutzutage. Aber das funktioniert nicht, wissen Sie, denn letzten Endes verliert man damit nur den Respekt seiner Untergebenen.«
Er sah Hitchens an und fixierte ihn so lange, bis der Detective Inspector sich verpflichtet fühlte, darauf zu antworten.
»Ja, Sir. Vollkommen richtig.«
»Wie sehr man sich auch nach Beliebtheit sehnt, man muss Abstand zur Menge wahren, um ein echter Führer zu sein. Hazel Branagh genießt enormen Respekt bei den Polizisten in ihrem Team.«
Cooper warf abermals einen Blick auf das Foto. Branaghs schlecht aufgetragenes Make-up verlieh ihr das Aussehen einer kürzlich verstorbenen Tante, die vom Bestatter hergerichtet worden war. In diesem Fall waren die Angehörigen so beeindruckt gewesen, dass sie Tante Flo für ein letztes Foto in einen Sessel gesetzt hatten, ehe sie sie begruben.
»Es heißt, dass sie ohnehin nicht lange bei uns bleiben wird, Sir«, sagte Hitchens.
»Sie glauben also den Gemeinschaftsküchengerüchten?«, fragte Jepson.
»So könnte man es nennen.« Der Detective Inspector machte sich nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass die Gemeinschaftsküchen abgeschafft worden waren, um die Bildung einer Gemeinschaftsküchenkultur zu unterbinden. »Ich habe gehört, dass die Möglichkeit diskutiert wurde, das ist alles.«
»Tja, Sie haben recht, Paul. Superintendent Branagh hat sich landesweit einen Ruf erworben. Sobald irgendwo der nächste Job für einen Assistant Chief Constable zu vergeben ist, wird hier sicher irgendjemand herumschnüffeln. Darauf können Sie wetten.«
Diane Fry legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Nach und nach löste sich die Verspannung in ihren Schultern. Sie hatte stundenlang auf ihren Computerbildschirm gestarrt, sich durch Zahlen und Berichte gekämpft, Online-Formulare begutachtet und endlose E-Mails des Senior Management Teams gelesen. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Erschöpfung aus ihrem Gehirn verschwand.
Auf dieser Seite des Gebäudes musste man im Dezember den ganzen Tag lang das Licht brennen lassen, sehr zum Missfallen des Leiters der Verwaltungsabteilung, der hatte feststellen müssen, dass es unmöglich war, dem Mangel an Tageslicht Herr zu werden, indem man ein Memo schrieb.
Für Diane war die Lichtqualität durch glitzernde Lamettafäden und rot-grüne, wie Ziehharmonikas gefaltete Dekorationen mit der Aufschrift »Frohe Weihnachten« über den Schreibtischen zusätzlich beeinträchtigt, als ob sonst niemand wüsste, welche Jahreszeit gerade war. Sie war überrascht, dass die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften Weihnachtsdekoration überhaupt gestatteten. In diesem Fall hätte sie ein Memo ausnahmsweise einmal begrüßt. Sie war sogar versucht, selbst eines zu schreiben, wusste jedoch, dass sie sich damit für den Rest ihres Berufslebens in Anlehnung an die Hauptfigur aus Charles Dickens’ Weihnachtsmärchen den Spitznamen »Scrooge« eingehandelt hätte.
Auf den Aktenschränken war eine unsystematische Ansammlung von Weihnachtskarten aufgestellt. Die meisten Karten stammten von anderen Dienststellen, eine von ihrem örtlichen Abgeordneten. Cooper hatte ein paar persönliche Botschaften aus der Bevölkerung bekommen – »Danke für alles, was Sie für uns getan haben«, solche Sachen. Geschmacklose Karten mit Teddybären und glitzernden Krippen, unterzeichnet mit kleinen Herzen. Er hatte sie zur allgemeinen Sammlung gestellt, doch das machte alles nur noch schlimmer.
Fry musste plötzlich niesen.
»Gesundheit«, sagte Cooper. Sie fragte sich, weshalb er dabei – wie auch alle anderen – nicht auf den überraschten Tonfall verzichten konnte.
»Verdammt«, schimpfte Fry. »Hoffentlich bekomme ich keine Erkältung.«
»Bist du zu dieser Jahreszeit oft erkältet?«
»Früher war ich es nie, als ich noch in der Zivilisation gelebt habe.«
»Ach, tatsächlich? Dann wird in Birmingham dem Leitungswasser also Erkältungssaft beigemischt?«
Fry sah zum Fenster hinaus. Na ja, nicht wirklich hinaus. Sie konnte die Welt draußen überhaupt nicht sehen, nur das Wasser, das außen an der Scheibe herunterlief. Nicht dass das einen großen Unterschied gemacht hätte, da selbst an guten Tagen nur die Rückseite der Osttribüne des Edendale-Football-Club-Stadions zu sehen war.
Sie versuchte immer, früher im Büro zu sein als alle ihre Kollegen bei der Kriminalpolizei, was im Winter bedeutete, dass es draußen noch dunkel war. Auf diese Weise hatte sie Zeit, all die Aufgaben zu erledigen, für die sie Ruhe brauchte. An diesem Morgen hatte sie sich als Erstes an ihren Computer gesetzt und sich mit Methoden der Mitarbeiterbeurteilung befasst, da sie im Frühjahr erstmals eine schriftliche Beurteilung ihrer Detective Constables einreichen musste. Diese Gutachten gingen an den Leiter der Personalabteilung, der dafür bekannt war, sie mit dem Hinweis zurückzuschicken, dass sie nochmals überarbeitet werden müssten.
»Das liegt an diesem verdammten Wetter«, sagte sie. »Dem ist man hilflos ausgeliefert. Ich bin diese Woche schon dreimal pitschnass geworden. Kein Wunder, dass ich eine Erkältung bekomme. Am Montag liege ich wahrscheinlich mit Grippe im Bett.«
»Wenn du mich fragst, liegt das an einer Schwäche des Immunsystems«, erwiderte Cooper. »Die bringt das Leben in der Stadt mit sich, weil man dort als Kind nicht oft genug den Elementen ausgesetzt ist.«
Fry fand ein Taschentuch und putzte sich die Nase. Heuschnupfen im Sommer und eine Dauererkältung im Winter. Willkommen in der ländlichen Idylle.
Bislang gab es noch keinen eindeutigen Hinweis dafür, dass es sich um einen Mord handelte, doch der konnte jeden Moment auftauchen. Ohne einen dringend Tatverdächtigen würde eine Untersuchung der Kategorie B mit anfangs maximal sechzehn Ermittlern eingeleitet werden, deren Koordination vermutlich der Detective Inspector übernehmen würde, während Kessen als nomineller Ermittlungsleiter fungierte. Fry war bewusst, dass sie nur Mutmaßungen anstellte, doch es interessierte sie, ob ihre Einschätzung zutraf und ob sie sich bereits ein ähnliches Gespür für Prioritäten angeeignet hatte wie ihre Vorgesetzten.
Selbstverständlich mussten auch noch andere Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählten natürlich Personalressourcen. Ein großes Ermittlungsverfahren erzeugte Berge von Papierkram: Aussagen, Meldungen, Fernschreiben, Formulare, Fragebogen, Berichte, Vernehmungsprotokolle.
Sie musste abermals niesen. »Verdammt.«
»Das Problem ist, dass die Winter zu mild sind«, sagte Cooper. »Im Gegensatz zu früher werden Bazillen nicht mehr abgetötet. Das ist wie mit den Schädlingen auf dem Getreide. Früher musste vor dem Frühjahr niemand Insektizide versprühen. Mittlerweile ist das ein ganzjähriges Problem.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Von der globalen Erwärmung. Ich will damit sagen, dass vom Frost nichts mehr abgetötet wird, weil es keinen Frost mehr gibt. Wir haben warme, feuchte Sommer und milde, feuchte Winter. Langfristig ist das gar nicht gut.«
»Ich glaube nicht an die globale Erwärmung.«
»Was?«
»Für mich ist das alles nur Panikmache, die uns von wichtigeren Dingen ablenkt.«
»Was ist wichtiger als die Rettung unseres Planeten?«, fragte Cooper.
»Siehst du? Du übertreibst. Die Leute übertreiben ständig bei diesem Thema.«
»Kann es jetzt endlich losgehen?«, wollte Murfin wissen. »Die Fleischtöpfe von Rakedale warten, Jungs und Mädels.«
Fry stand auf und wischte sich silberfarbenen Glitzerstaub von der Schulter.
»Verdammtes Lametta. Wahrscheinlich bin ich dagegen allergisch.«