Читать книгу Todesacker - Stephen Booth - Страница 7

Оглавление

1

Donnerstag

Die Pity Wood Farm glich einem Meer aus Schlamm, der in tiefen Pfützen am Fuß der Hausmauern stand und überall dort, wo das Vieh den Boden zu Brei getrampelt hatte. Und er hing an Jamie Wards Stiefeln, klebrig und rot wie Pflaumenmarmelade. Seine Stahlkappen waren bedeckt damit, und seine Jeans waren bis übers Knie vollgespritzt – mit langen dicken Klecksen, als sei er durch Blut gewatet.

Jamie kauerte in einer Ecke des Hofes, starrte auf seine besudelte Kleidung und fragte sich, wann er die Gelegenheit bekommen würde, den Dreck abzuwischen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob er im Haus seiner Eltern in Edendale noch saubere Jeans hatte, ob seine Mutter diese Woche für ihn gewaschen hatte oder ob er seine Schmutzwäsche wieder hinters Bett geworfen hatte, wo sie sie nicht finden würde. Sie beklagte sich seit einem Monat darüber, dass er so viel Schmutz ins Haus trug und sie so häufig das Sieb der Waschmaschine reinigen musste. Er fragte sich, was sie wohl zu diesem neuesten Desaster sagen würde, wenn er nach Hause kam.

Und als Jamie das Heulen der ersten Polizeisirenen hörte, die sich aus dem Tal näherten, kam es ihm plötzlich in den Sinn, sich zu fragen, ob er heute Abend überhaupt nach Hause kommen würde.

»Verdammt, Kleiner, warum hast du sie nicht einfach wieder verbuddelt? Das wäre für alle das Beste gewesen.«

Jamie schüttelte den Kopf. Das konnte man doch nicht einfach machen, oder? Was auch immer die anderen sagten, es wäre nicht in Ordnung gewesen, fertig aus. In Anbetracht der Umstände hatte er das einzig Mögliche getan. Er hatte das Richtige getan, also gab es nichts zu bereuen.

»Schaufle ein bisschen Dreck drauf und vergiss es. Das alles ist doch nicht nötig.«

Trotzdem hatte er ein schlechtes Gefühl dabei. Die Sache war nicht gut für Nikolai und die anderen. Sie war ein Albtraum, den sie nicht wollten und den sich einige von ihnen nicht leisten konnten. Und das auch noch kurz vor Weihnachten, wo sie das Geld vermutlich mehr denn je brauchten. Er hatte sich damit sicher keine Freunde gemacht.

Jamie spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. Je länger er an einer Stelle stehen blieb, desto mehr fühlte es sich an, als würden seine Stiefel im Erdboden versinken. Wenn er lange genug verharrte, würde ihn die blutfarbene Erde vielleicht langsam in sich aufsaugen und verschlucken. Sein eigenes Gewicht würde ihn begraben.

Natürlich wusste er, dass der Schlamm nur deshalb rot aussah, weil der Boden hier aus Lehm bestand, wenn man ein paar Zentimeter tief grub. Das war für diesen Teil von Derbyshire so ungewöhnlich, dass es ihm sofort aufgefallen war, als er zu graben begonnen hatte. Lehm und Schlamm, Tonnen von zerbröckelten Ziegelsteinen und verrostetem Eisen. Dieser Job war ein Albtraum gewesen und hatte sich mit dem Spaten kaum bewältigen lassen. Sein gesunder Menschenverstand sagte Jamie, dass die Farbe ausschließlich auf den Lehm zurückzuführen war. Und wenn das Zeug auf seinen Stiefeln zu rot aussah, zu dunkel, zu feucht … tja, dann bildete er sich das eben ein, oder etwa nicht?

Jamie Ward glaubte von sich, eine Menge Menschenverstand zu besitzen. Schließlich war er gebildet – im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen. Er würde nie Opfer von Aberglaube und Unwissenheit werden. Er war nicht einmal besonders religiös: Er bekreuzigte sich nicht, wenn sie an einer Kirche vorbeifuhren, und hängte auch keine Statue der Jungfrau Maria an den Rückspiegel des Lieferwagens, so wie Nikolai es tat.

Doch dieser Schlamm war so klebrig und roch so widerlich. Er stank, als faulte er seit Jahrhunderten vor sich hin. Als Jamie sich schließlich wieder aufrichtete, sah er einen dicken Klumpen von seinem Stiefel auf den Boden gleiten. Er bildete einen triefenden Kringel, der aussah wie die Exkremente irgendeiner schleimigen Kreatur, die auf der alten Farm gelebt hatte und sich selbst überlassen gewesen war, nachdem die Eigentümer ausgezogen waren und das Vieh verschwunden war. Jamie stellte sich ein Wesen vor, das nur nachts zum Vorschein kam, um zwischen den Ruinen der Schweineställe nach Nahrung zu suchen und Aas zu fressen, ehe es wieder in einer dunklen feuchten Ecke zwischen den vergessenen Silageballen verschwand.

»Verdammter Idiot. Kretyn.«

Er erinnerte sich, wie Nikolais Hand seine Jacke gepackt und wie es sich angefühlt hatte, als der ältere Mann, auf dessen buschigen Augenbrauen und auf dessen Schnurrbart Regentropfen glitzerten, die Stirn gegen die seine gepresst hatte. Jamie konnte nicht fassen, wie wütend Nikolai wegen dieser Sache gewesen war. Bislang hatte der Polier seine Stümperei und seine Unkenntnis der Baubranche mit lautstarkem Humor hingenommen. Doch an diesem Morgen war er plötzlich ein anderer Mensch gewesen, eine wilde Bestie, die gefährlich knapp davor war, gewalttätig zu werden. Und das alles wegen eines schlammigen Loches.

Jamie schluckte die Gallenflüssigkeit hinunter, die ihm im Rachen aufstieg. Er schuftete nunmehr seit Tagen an ein und demselben Flecken Erde, schichtete Stapel von Ytongsteinen für die Maurer um, lud Sandsäcke vom Lastwagen und legte hin und wieder eine kurze Zigarettenpause hinter der Mauer ein. Verdammt, die Abdrücke seiner Stiefel waren überall. Jeder, der sich die Mühe machte, einen Blick auf den Boden zu werfen, würde das Profil seiner Gummisohlen sehen, das sich tief in den Schlamm gedrückt hatte. Sein Blick folgte den Spuren, die er hinterlassen hatte und die kreuz und quer in langen Bögen von zwanzig Metern oder mehr verliefen. Seine Fußstapfen waren so zahlreich und tief, dass sie aus dem Weltall vermutlich ebenso gut zu erkennen waren wie die Chinesische Mauer und für jedermann bei Google Earth gespeichert waren. Sie waren so markant, dass es sich ebenso gut um das Rillenmuster seiner Fingerabdrücke hätte handeln können. Jamie Wards Unterschrift bei der Arbeit, absolut deutlich und vollständig.

Bald würden die Leute über ihn reden und mit dem Finger auf ihn zeigen. In Kürze würde er Fragen beantworten, endlose Fragen, und immer wieder aufs Neue den Moment durchleben, den er zu vergessen versuchte. Er hatte Polizeiserien im Fernsehen gesehen und wusste, dass sie einen nicht mehr in Ruhe ließen, wenn sie einen erst einmal in einem ihrer kleinen Vernehmungsräume hatten.

Inzwischen konnte er zwei Sirenen hören, die verspielt im Duett heulten und jaulten, lauter wurden und dann wieder leiser, wenn die Fahrzeuge eine der Kurven im Rakedale-Tal nahmen oder hinter Steinmauern und Bäumen verschwanden, bis sie schließlich oben auf dem Hügel ankamen und in die Farm einbogen.

Jamie dachte an jenen Morgen zurück, als er aus dem Kleinbus ausgestiegen war, die Beine gestreckt und die Pity Wood Farm zum ersten Mal betreten hatte. Man konnte sich kaum vorstellen, dass hier tatsächlich Gras gewachsen war, als die Truppe mit der Arbeit begonnen hatte. Jetzt war die gesamte Einfahrt aufgegraben, und der Boden auf beiden Seiten war kahl und brach. In einer Ecke durchschnitt die Radspur eines zurückstoßenden Lastwagens seine Stiefelabdrücke.

Er konnte sich nicht erinnern, dass ihm bei diesem ersten Mal irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Na ja, vielleicht war an dieser Stelle eine leichte Unebenheit des Bodens zu erkennen gewesen, eine minimale Erhöhung, die einem nur dann aufgefallen war, wenn man zufällig eine mit Sand beladene Schubkarre darübergeschoben hatte. Und womöglich war auch das Gras ein wenig grüner gewesen – nur eine Nuance grüner, wenn man ganz genau hinsah. Vielleicht hatten die Halme im winterlichen Sonnenschein unnatürlich gesund geleuchtet. Er hatte damals kein zweites Mal hingesehen und sich nie etwas dabei gedacht. Niemand hätte das getan.

Doch dann hatte Nikolai ihm aufgetragen, einen Graben für das Fundament einer neuen Mauer auszuheben. Jamie hatte kaum mehr als ein paar Zentimeter tief gegraben, als sich die Farbe des Erdreichs verändert hatte. Allerdings hatte er eine Weile gebraucht, um überhaupt so weit zu kommen. Er hatte so viele Steine mit dem Spaten lockern und herausheben müssen, von Betonbrocken und verrosteten Metallstücken ganz zu schweigen. Ohne Handschuhe hätte er inzwischen wunde Finger gehabt.

Nach einer halben Stunde war ihm der Gedanke gekommen, dass Nik ihm die Aufgabe als Strafe für irgendetwas gegeben hatte oder einfach deshalb, weil er der Jüngste der Truppe war und obendrein Student, weshalb die anderen ihn »Professor« nannten. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er nicht verstand, worum es ging, wenn die Männer auf der Baustelle Scherze machten, und dass sie ihn ausnutzten. Wahrscheinlich sollte hier überhaupt keine Mauer errichtet werden. Da er die Pläne für den Neubau nie zu Gesicht bekommen hatte, konnte er sich nicht sicher sein. Hätte er selbst die Farm gekauft, hätte er die alte Bruchsteinmauer vermutlich stehen lassen und diesen Teil des Grundstücks in eine hübsche Terrasse verwandelt. Dazu wären nur ein paar Quadratmeter Pflastersteine nötig gewesen und keine aufwändige Grenzmauer, für deren dreißig Zentimeter tiefes Fundament irgendein Idiot einen Graben ausheben musste.

Verdammter Graben. Schon allein beim Gedanken an dessen feuchte, rutschige Seitenwände hätte Jamie sich am liebsten übergeben. Wenn nicht all die anderen herumgestanden und auf Polnisch miteinander geplaudert hätten, hätte er sein Frühstück schon längst wieder von sich gegeben.

Obwohl Jamie in Gedanken versunken war, fiel ihm auf, dass ein oder zwei Arbeiter ein wenig nervös wirkten, als die Polizeisirenen näher kamen. Keine Papiere, nahm er an. Keine Arbeitserlaubnis. Doch das ging ihn nichts an, und er hätte wetten wollen, dass es den Polizisten auch egal war, zumindest heute.

Trotzdem zählte Jamie die Männer automatisch durch. Neun. Alle waren da, doch sie standen Schutz suchend hinter Nikolai.

Und alle Arbeiter blickten jetzt in dieselbe Richtung – auf die Ansammlung von Gegenständen, die Jamie versehentlich mit seinem Spaten freigelegt hatte. Eigentlich gab es nicht viel zu sehen: einen Streifen Plastikfolie und einen Fetzen vermodertes Leder sowie eine Aufwölbung aus zerrissenem und ausgeblichenem Stoff, die überraschend eierschalenblau aus dem Erdreich hervorlugte. Und man hatte das schwache Schimmern eines von der Feuchtigkeit des Lehms glitschigen Metallstücks erkennen können, das das Licht reflektiert hatte.

Doch er wusste, dass sie vor allem das einzig Sehenswerte anstarrten, dieses unverwechselbare Ding, das im Schlamm eingebettet war wie ein in Zement gefangener Vogel oder ein uraltes im Lehm erhaltenes Fossil und einem fünfgliedrigen, knöchernen und weißen Meereswesen glich.

Es hatte die Form einer menschlichen Hand.

Detective Sergeant Fry stieg aus ihrem Wagen auf den schlammigen Boden, zog ihre Jacke enger um die Schultern und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Das Geschehen schien sich ausschließlich auf der anderen Seite der Zufahrt abzuspielen. Uniformierte Polizisten brachten Absperrungen an, Mitarbeiter der Spurensicherung zogen sich Schutzanzüge über, und eine Schar von Schaulustigen gaffte wie Idioten. Sie sah sich mit einem erschöpften Seufzer um. Noch eine Woche bis Weihnachten, und dann so etwas. Wenn sie nicht alles täuschte, stand ein größeres Ermittlungsverfahren bevor.

Frys Hände waren bereits nass und rutschten vom Griff ab, als sie die Tür ihres Peugeots zuschlug. Es gab nur einen einzigen Hoffnungsschimmer: Nach den ersten Berichten zu schließen, die in der Zentrale eingegangen waren, war diese Atmosphäre der Betriebsamkeit womöglich irreführend. Hier ging etwas völlig anderes vor sich.

Genau genommen warteten alle mit kaum verhohlener Besorgnis auf ein Urteil über das Alter des Leichnams, der ausgegraben worden war. Wenn er frisch war, konnte sich die gesamte Division auf ruinierte Feiertage gefasst machen. Mit etwas Glück würde sich jedoch herausstellen, dass es sich um eine historische Bestattung handelte, um die Überreste eines mittelalterlichen Friedhofs, die bei den Bauarbeiten freigelegt worden waren. In diesem Fall konnten sie die Angelegenheit den Archäologen übergeben und mit einem fröhlichen Winken und einem »Frohe Weihnachten« nach Hause fahren.

Nun ja, Letzteres war vermutlich zu viel verlangt. Doch selbst wenn die Gebeine ein oder zwei Jahrzehnte alt waren, wäre das schon eine gute Nachricht. Dann konnten sie sich bei den Ermittlungen zumindest Zeit lassen. Opfer von Gewaltverbrechen, die seit zehn oder zwanzig Jahren vermisst wurden, konnten auch noch ein wenig länger warten, bis ihre Identität geklärt war.

Außerdem, welche Angehörigen wollten schon, dass es an Weihnachten klopfte und ein Polizist vor der Tür stand, um ihnen mitzuteilen, dass ihr geliebtes vermisstes Familienmitglied an irgendeinem gottverlassenen Ort am Ende der Welt in einem seichten Grab gefunden worden war? So etwas konnte Weihnachten gründlich ruinieren.

Sie wandte sich an einen uniformierten Polizisten mit gelber Warnweste. »Können Sie mir sagen, ob Detective Constable Murfin hier irgendwo ist?«

»Ja, Sergeant. Soll ich ihn holen?«

»Bitte.«

Ja, Weihnachten. Nach Frys Erfahrung gab es bereits viel zu viele Familien, für die Weihnachten kein Anlass zur Besinnlichkeit und Freude war. Die Weihnachtszeit hatte die unangenehme Angewohnheit, in den Menschen Erinnerungen wachzurufen. Gedanken an glücklichere Zeiten, an verpasste Gelegenheiten, an Freunde und Verwandte, die von ihnen gegangen waren, um Weihnachten an einem besseren Ort zu feiern.

Nein, in der festlichen Zeit ging es nicht nur um Frieden und Wohlwollen, zumindest heutzutage nicht mehr. Das konnte einem jeder bestätigen, der bei einem der Notdienste arbeitete. Für das Leben all jener armen, bemitleidenswerten und gescheiterten Menschen, die von Monat zu Monat die Polizeireviere und Gerichte füllten, bedeutete Weihnachten keinen großen Unterschied.

Ein paar Tage zuvor hatten zwei Männer im Weihnachtsmannkostüm eine Bausparkasse in Chesterfield überfallen. Sie hatten in ihren pelzbesetzten Ärmeln Baseballschläger versteckt gehabt, und ein Kunde war mit einem Schädelbruch im Krankenhaus gelandet, nachdem er ihnen in die Quere gekommen war. Die Rate der Selbstmorde und der häuslichen Gewalttaten schnellte zu dieser Jahreszeit in die Höhe, die Zahl der Verkehrsopfer vervielfachte sich, und auf den Straßen von Edendale wimmelte es von grölenden Betrunkenen. Die Zellen in der West Street waren voller denn je, die Krankenhäuser platzten aus allen Nähten, und die Reinigung der Polizei-Kleinbusse mit dem Dampfstrahler war ein Vollzeitjob. Jede Menge ho, ho, ho.

Vielleicht war sie aber auch ein wenig voreingenommen. Sie selbst hatte Weihnachten seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gefeiert. Zumindest nicht auf traditionelle Weise mit Papierhut und Knallbonbons, Truthahn und Mistelzweig. In der Ecke ihrer kleinen, feuchten Wohnung in der Grosvenor Avenue hatte nie ein geschmückter Weihnachtsbaum gestanden, hatte nie Lametta über dem Kaminsims gehangen und waren am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags nie Nine Lessons and Carols aus dem Radio ertönt. Sie konnte von Glück reden, wenn sie ein Geschenk zum Auspacken hatte – zumindest dann, wenn es sich nicht um eines handelte, das sie sich selbst geschickt hatte, um den Schein zu wahren. Was gab es schon zu feiern?

Detective Constable Murfin tauchte neben ihr auf und schwankte bedenklich am Rand des Morasts. Die untersten zehn Zentimeter seiner Hosenbeine waren hochgekrempelt und entblößten Socken mit grünem Paisleymuster sowie einen Streifen leichenblasser Haut. Fry wandte den Blick ab, da sie plötzlich ein flaues Gefühl überkam. Alles in allem war der Anblick einer teilweise verwesten Leiche vermutlich angenehmer.

»Meinst du, dieser Fall wird uns Überstunden bescheren, Chefin?«, erkundigte sich Murfin, als sie sich einem Leichenzelt aus PVC näherten, das über dem behelfsmäßigen Grab errichtet worden war.

»Du bist doch sowieso über Weihnachten zum Dienst eingeteilt, oder nicht, Gavin?«

Murfin wirkte geknickt.

»Verdammt, du hast recht. Das hatte ich ganz vergessen.«

Fry hörte die Betroffenheit in seiner Stimme, empfand jedoch kein Mitleid. »Wenn es sich hier um ein historisches Begräbnis handelt, könntest du für eine Weile die Einsatzleitung übernehmen.«

»Toll. Das ist wirklich … toll.«

»Die meisten Detective Constables würden eine solche Gelegenheit zu schätzen wissen«, sagte Fry.

»Ich nehme an, das wäre zumindest mal was anderes, als immer nur die Nominellen abzufertigen.«

Fry lächelte zögerlich. Ja, die Nominellen. Die offizielle Bezeichnung für die aktivsten Kriminellen aus der Gegend – für die Wiederholungstäter, für all jene Individuen, die von der Gesetzgebung als »Rückfällige« bezeichnet wurden. Sie wurden in regelmäßigen Abständen verhaftet und bekamen manchmal auch kurze Gefängnisstrafen, wenn sie Pech hatten. Aber binnen kurzem waren sie wieder draußen auf den mit Abfällen übersäten Straßen der Cavendish-Wohnsiedlung – oder der »Gemeinde«, wie es im Strafjustizjargon hieß. Die Nominellen von Edendale würden sehr wohl Weihnachten feiern. Niemand wollte, dass der Verwahrungstrakt mit ihnen überfüllt war.

Murfin schwieg einen Augenblick, als sie beobachteten, wie der Gerichtsmediziner einem Mitarbeiter der Spurensicherung Anweisungen beim Freilegen wichtiger Teile des Leichnams gab. Das entblößte Ende eines Knochens hier, ein Stück verwestes Fleisch dort.

»Diane, glaubst du, dass es Leute gibt, die lieber einer Obduktion beiwohnen würden, als zu Hause den Truthahn zu tranchieren?«, fragte Murfin.

»Da besteht doch kein großer Unterschied, oder?«

»Jetzt, wo du es sagst … So, wie ich es mache, zumindest nicht. Und die Gesellschaft in der Leichenhalle ist womöglich auch besser, wenn ich daran denke, dass wir am zweiten Weihnachtsfeiertag meine Schwiegereltern besuchen.«

Fry spähte über das Absperrband in das Grab. Das Loch wurde immer größer, während sie zusah. Die Hand, auf die der Bauarbeiter gestoßen war, wirkte verhältnismäßig frisch. Doch der Torso, der jetzt mit größter Sorgfalt freigelegt wurde, schien stark verwest zu sein.

Handelte es sich um einen alten, ungeklärten Fall oder um einen neuen? Fry war unverhohlen ehrgeizig – sie wollte unbedingt die nächste Stufe auf der Karriereleiter erklimmen, und dazu musste sie Fälle vorzuweisen haben. Erfolgreich gelöste Fälle, hieb- und stichfeste Anklagen, die zu einer Verurteilung führten. Aufklärungen, keine Schlamassel. Im April stand die nächste gefürchtete alljährliche Mitarbeiterbeurteilung an. Sie musste irgendetwas für sich verbuchen, das sie als aktuellen Triumph präsentieren konnte, als Bestätigung für ihre herausragende Fähigkeit und Fachkenntnis, als Beweis dafür, dass sie in der Lage war, ein Ermittlungsverfahren zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, bla, bla, bla. Die Führungsriege glaubte es, wenn sie es schwarz auf weiß vor sich hatte, auf ein offizielles Formular getippt. Würde die Pity Wood Farm ihr einen solchen Fall bescheren?

»Okay, sorgen wir dafür, dass diese Leute hinter die Absperrung gehen. Was haben die hier eigentlich zu suchen?«

»Das sind Zeugen, Diane.«

»Alle?«

»Anscheinend schon.«

»Tja, dann lass dir ihre Namen und Adressen geben und schaff sie aus dem Weg, Herrgott noch mal.«

»Offenbar sprechen sie kein Englisch.«

»Oh, meine Güte.«

Der Regen hatte erneut eingesetzt und fiel in großen, dicken Tropfen, die auf das Dach ihres Wagens prasselten und kleine Krater in dem ohnehin schon heimtückisch aufgeweichten Boden hinterließen. Um sie herum steigerten die Leute in Uniform oder Schutzanzügen aus Papier ihr Arbeitstempo, als überkäme sie plötzlich ein neu entdecktes Gefühl von Dringlichkeit. Binnen weniger Minuten suchten sie alle Schutz an den Wänden des Farmhauses oder setzten sich in ihre Fahrzeuge.

Und erst dann nahm Fry die Pity Wood Farm erstmals richtig zur Kenntnis. Bislang hatte sie sich auf den Boden konzentriert und sich bemüht, nicht in dem glitschigen Schlamm auszurutschen, der ihre Schuhe bedeckte und an den Zehen eindrang. Doch jetzt blickte sie auf und sah die Farm in ihrem ganzen verwahrlosten Zustand.

Sie war mit einer Ansammlung von Nebengebäuden konfrontiert, die sich in unterschiedlichen Winkeln neigten. Ihre Dächer waren eingeknickt, und die Türen hingen lose in den Angeln. Letztere schienen sich aufgrund irgendeines seltsamen physikalischen Gesetzes in die entgegengesetzte Richtung zu neigen wie die Wände, als wollten sie deren Schräglage ausgleichen. Einige Türöffnungen waren verbarrikadiert, Fenster waren zugemauert, und Stufen führten ins Nirgendwo. Der Schlamm reichte bis an die Mauern der Nebengebäude und bis zur Eingangstür des Farmhauses selbst. Fry vermutete, dass er sich sogar bis ins Haus erstreckte. Die Außenwände waren verschmutzt und fleckig, und an einer kaputten Regenrinne hing ein Vogelnest. Dort, wo sich einst der Garten befunden haben mochte, war das abgestorbene Gras mit Bergen von Abfall übersät. Handelte es sich hier tatsächlich um eine Farm?

»Wer ist denn sonst noch hier, Gavin?«, erkundigte sie sich verzweifelt.

»Der Detective Inspector ist unterwegs«, sagte Murfin. »Aber bis er da ist, sind wir beide allein.«

»Detective Constable Cooper?«

»Ben? Der hat heute frei. Wir wissen nicht, wo er ist.«

»Komisch«, sagte Fry. »Das hier wäre genau nach seinem Geschmack.«

Detective Constable Ben Cooper kauerte unbequem in der Hocke und nahm den verwitterten Gegenstand genau in Augenschein. In all den Jahren, seit er bei der Polizei von Derbyshire arbeitete, einschließlich der sieben Jahre bei der Kriminalpolizei, hatte er so etwas noch nie gesehen. Er hatte schon etliche Tote zu Gesicht bekommen: Einige davon waren seit langem tot gewesen, andere hatten erst kurz davor das Zeitliche gesegnet. Und manche waren doch nicht ganz tot gewesen. Aber das hier?

Das Fleisch an den Fingern war zusammengeschrumpft, sodass diese zwar dünn, aber nicht vollständig skelettiert waren. Die Tatsache, dass noch eine Schicht lederartige Haut vorhanden war, die eng an den Fingerknochen anlag, machte das Ganze irgendwie noch schlimmer, als hätte er die blanken Knochen vor Augen gehabt. Das hatte zur Folge, dass die Hand aussah, als sei sie in eine verschrumpelte gelbe Plastikfolie eingeschweißt worden. Auch der Daumen war merkwürdig deformiert, als sei er gebrochen gewesen und nie wieder richtig zusammengewachsen. Das durchtrennte Handgelenk war ausgefranst, und die Hautfetzen sahen aus, als seien sie mit irgendeiner klebrigen Substanz versiegelt worden.

Cooper richtete sich auf und dehnte die schmerzenden Muskeln seines Rückens. Er hatte am Vormittag Squash gespielt, und dabei hatte ihm sein Gegner den Ball in die Nieren geschmettert, nachdem er einen Stoppball erlaufen und am falschen Platz gestanden hatte. Man konnte sich bei Polizisten nie darauf verlassen, dass sie einem nicht in den Rücken fielen.

»Eine Hand des Ruhms«, sagte er. »Die bekommt man heutzutage nur noch alle Jubeljahre zu Gesicht.«

»Hm.«

»Alle Jubeljahre. Obwohl sich meine Freude in Grenzen hält. Aber es gibt nicht mehr viele davon.«

Cooper hatte den Verdacht, dass er vor sich hin plapperte und Nonsens von sich gab. Das tat er, da eine Stille herrschte, die es zu füllen galt. Es war nicht das erste Mal, dass das vorkam. Nicht einmal das erste Mal am heutigen Tag.

Er sah seine Begleiterin an, da er sich aufgrund ihres Schweigens nicht sicher war, wie sie reagierte. »Und, was hältst du davon?«

»Ich finde sie eklig.«

»Eklig?«

»Ja, total igitt.«

Cooper nickte. »Ja, da hast du vermutlich recht.«

Das war zwar keine fachliche Beurteilung, aber sie war trotzdem zutreffend. Es gab viele Situationen, in denen man sie als Polizist der E-Division gerne verwendet hätte. An einem Samstagabend auf Betrunkenenstreife, zum Beispiel, wenn in der High Street wieder einmal jemand in der Gosse lag. Den fasse ich nicht an, Zentrale, das ist ja igitt. Ja, das würde passen.

Doch heute war sein freier Tag, und er hatte sich angeboten, etwas mit seiner ältesten Nichte zu unternehmen, da sie bereits Weihnachtsferien hatte. Deshalb fühlte er sich verpflichtet, interessant und informativ zu sein. Sich angeboten? War das wirklich die richtige Formulierung? Er erinnerte sich, dass er auf der Bridge End Farm vorbeigeschaut und mit seinem Bruder Matt geplaudert hatte, als Amy ihn entführt hatte. Doch das würde er vor Gericht niemals geltend machen können. Er hatte keine Beweise.

»Die ›Hand des Ruhms‹ stammt angeblich von einem hingerichteten Verbrecher und war diesem abgetrennt worden, als sein Leichnam noch am Galgen hing«, las Cooper aus dem Führer vor.

»Hier ist ein Rezept«, unterbrach ihn Amy. Sie war inzwischen elf Jahre alt und in mancher Hinsicht seltsam erwachsen. Cooper bekam langsam Mitleid mit den Lehrern an Amys neuer Schule. Sie konnte erbarmungslos sein, wenn man sie langweilte.

»Ein was, Amy?«

»Ein Rezept.«

»Wie in einem Kochbuch? So ein Rezept?«

»Ich glaube schon. ›Das Rezept für die Zubereitung einer Hand des Ruhms ist einfach‹, steht hier.«

Cooper sah zu seiner Nichte hinunter, überrascht von der plötzlichen Veränderung ihres Tonfalls. Jetzt war sie interessiert. Es war »igitt«, einfach nur dazustehen und eine konservierte Hand zu betrachten, aber zu lernen, wie man sie konservieren konnte, das war cool. Vermutlich hätte ihn das nicht überraschen sollen.

»›Man drücke das Blut aus der Hand, balsamiere sie in einem Leichentuch ein und tauche sie dann in eine Lösung aus Salpeter, Salz und Pfeffer. Anschließend trockne man sie in der Sonne.‹ Was ist Salpeter, Onkel Ben?«

»Ähm … ich bin mir nicht ganz sicher.«

Amy schnaubte leise. »›Die andere wichtige Zutat ist eine Kerze, die aus dem Fett eines Gehängten, Wachs und Lappland-Sesam hergestellt ist.‹ Was ist Lappland-Sesam?«

»Äh …«

»Sesamsamen aus Lappland offensichtlich.« Sie runzelte die Stirn. »Wachsen in Lappland Sesampflanzen?«

»Ich, äh …«

»Schon gut.«

»Ich weiß, wie die Hand des Ruhms verwendet wurde«, sagte Cooper verzweifelt. »Man hat Kerzen zwischen die Finger der Hand gesteckt und sie angezündet, wenn man in ein Haus eingebrochen ist.«

»Wenn man was getan hat?«

»Na ja, sie wurde von Einbrechern verwendet. Der Legende zufolge wurden sie dadurch unsichtbar. Außerdem hat die Hand angeblich verhindert, dass die Hausbesitzer aufwachen.«

Auf der kleinen Tafel stand noch eine letzte Erklärung, bei der er sich nicht die Mühe machte, sie vorzulesen. Die Dochte der Kerzen bestanden aus Haarlocken, die in Fett vom Körper des Mörders und von einem alten Kater getaucht und anschließend geweiht wurden, indem man das Vaterunser rückwärts aufsagte. Ja, das gute alte Vaterunser rückwärts – das funktionierte immer, nicht wahr?

Sie gingen weiter durchs Museum. Cooper warf einen Blick zum Fenster hinaus und stellte fest, dass es noch immer regnete. Er hatte nichts gegen Edendale bei Regen, doch Amy wollte nicht nass werden. Da es für sie der Beginn ihrer Weihnachtsferien war und für ihn nur ein freier Tag, sollte sie entscheiden dürfen, was sie unternahmen und wohin sie gingen. Und dazu gehörte nicht, nach draußen in den Regen zu gehen.

Der Victoria Park im Stadtzentrum war von einem viktorianischen Weihnachtsmarkt in Beschlag genommen. Nach den Menschenmengen zu urteilen, die in die Stadt strömten, erfreute er sich großer Beliebtheit. In der Luft hingen der Geruch von gerösteten Maroni und der Klang einer Jahrmarktsorgel. Und es gab dieses Jahr eine Neuerung in Edendale: einen sogenannten »kontinentalen« Markt, dessen Verkaufsbuden französisches Brot und deutsche Würstchen anboten. Einige der Budenbesitzer sprachen mit ausländischem Akzent und mochten tatsächlich Franzosen oder Deutsche gewesen sein, doch heutzutage konnte man sich nie sicher sein.

Abends mischten sich Pantomimekünstler, Stelzengeher und Clowns unter die Menge, und der Weihnachtsmann tauchte jeden Abend genau zur selben Zeit mit seinem Schlitten auf. Zwei Wochen zuvor war ein Moderator des Lokalfernsehens herangekarrt worden, um die Beleuchtung einzuschalten, doch die Hauptattraktion war der morgige Auftritt einer Abba-Revival-Band auf der großen Bühne.

Sie blieben bei einem Kostüm-Schaukasten stehen, in dem die robusten Hosen und die ledernen Knieschoner eines Bleiminenarbeiters sowie die Kleider und Hüte einer eleganten Dame zu sehen waren.

»Und, wie gefällt es dir in der Schule, Amy?«, erkundigte sich Cooper, als er bemerkte, dass eine ungewohnte Stille einkehrte.

»Da herrscht das totale Geklüngel. Alle sind Gruftis oder Emos. Oder Prolls.«

»Prolls?«

»Die sind alle so bescheuert. Es gibt überhaupt keine normalen Leute, Onkel Ben.«

»Bist du lieber zu Hause oder in der Schule?«

»Na ja, zu Hause ist es schon ganz okay. Ich bin gerne auf der Farm bei den Tieren. Aber Mum und Dad sind manchmal so was von kindisch.«

»Oh, sind sie das?«

»Die denken nur an Geld und Besitz – sie sind schreckliche Materialisten. Ich finde es echt unglaublich, dass sie nicht hin und wieder über wichtige Themen nachdenken.«

Cooper fiel auf, dass er hinter seiner Nichte herging, als sei er das Kind, das Aufmerksamkeit forderte. Eigentlich hätte es andersherum sein sollen, doch in der Realität funktionierte das offenbar nie.

»Na ja, die beiden sind eben sehr damit beschäftigt, sich um dich und um Josie zu kümmern«, sagte er. »Und sie müssen dafür sorgen, dass die Farm genug Geld einbringt, damit die ganze Familie davon leben kann. Das ist sehr harte Arbeit, weißt du?«

Amy schien ihn nicht zu hören. Er sah ihr an, dass sie wieder über irgendetwas nachgrübelte. Es war ziemlich beunruhigend, wie sie das tat – als habe sie auf Autopilot geschaltet, während sich ihr Gehirn auf ein völlig anderes Thema konzentrierte. Vielleicht trainierte sie bereits an ihrer Multitaskingfähigkeit, die angeblich alle Frauen besaßen.

»Das ist wie bei Draco Malfoy in dem Laden in der Nokturngasse«, sagte sie.

Cooper runzelte die Stirn, da ihn die Wendung des Gesprächs abermals verblüffte. »Tatsächlich?«

Seine Gedanken drehten sich im Kreis, als er versuchte, die Anspielung einzuordnen. Es war beschämend, feststellen zu müssen, dass sein Gehirn so viel langsamer arbeitete als Amys, doch er fand es neuerdings immer schwieriger, mit den Interessen seiner Nichten Schritt zu halten. Ihr Leben schien sich sehr schnell zu verändern, und die Popstars, die sie anhimmelten, wechselten von einer Woche auf die andere. Selbst der Wortschatz, den sie verwendeten, entwickelte sich so rasant weiter, dass er nicht mehr folgen konnte.

»Moment mal – Draco Malfoy, sagtest du? Der ist doch aus Harry Potter.«

»Natürlich ist der aus Harry Potter.« Amy konnte die Verachtung in ihrer Stimme kaum verbergen. »Aus der Kammer des Schreckens. Draco Malfoy findet eine Hand des Ruhms, als er mit seinem Vater in den Laden geht. ›Der beste Freund der Diebe und Plünderer‹, sagt der Ladenbesitzer.«

»›Der beste Freund der Diebe und Plünderer.‹ Okay, das ergibt einen Sinn.«

»Also ist die Hand Zauberei«, sagte Amy.

»Ja, klar. Was dachtest du denn?«

»Ich dachte, sie wäre echt. Na ja, schließlich ist sie im Museum, oder etwa nicht? All die anderen Sachen sind ja auch echt – die Kostüme und das Werkzeug und die alten Möbel.«

»Ja.«

»Aber die Hand des Ruhms ist nicht echt – die ist Zauberei.«

»Die Hand ist schon echt«, verteidigte sich Cooper. »Sie hat einmal einem echten Menschen gehört.«

»Aber trotzdem ist sie Zauberei. Zauberei ist Vorspiegelung. Harry Potter ist erfunden. Er ist Fiktion, Onkel Ben.«

»Tatsache ist«, sagte Cooper vorsichtig, »dass die Menschen solche Dinge früher für echt hielten. Sie wussten nicht, dass Zauberei nur etwas aus Geschichten wie Harry Potter ist. Sie glaubten tatsächlich, dass sie auch im wirklichen Leben funktioniert. Die Hand des Ruhms und alle möglichen anderen Sachen.«

Sie kamen beim Ausgang des Museums an und blickten auf die Straße hinaus. Da inzwischen weniger Fußgänger einen Schirm trugen, musste der Regen nachgelassen haben.

»Die Leute sind manchmal schon komisch, oder?«, sagte Amy. »Die glauben an so blödes Zeug.«

Tagsüber waren die Träume des alten Mannes schlimmer. Er schlief immer wieder ein und wurde, ohne seine Umgebung wirklich zur Kenntnis zu nehmen, von einem schweren Gewicht in die Dunkelheit des Schlafs gepresst. Zeitweise war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt noch am Leben war, so unmöglich erschien es ihm aufzuwachen. Es überstieg seine Kräfte bei weitem.

Unsere Morgengrauen und Abenddämmerungen sind gezählt. Als Nächstes werden sie unser Land stehlen und unsere Hügel. Ich dachte immer, dieser Ort sei für die Ewigkeit bestimmt, aber jetzt ist mir alles egal. Ich möchte den Fluch nicht weitergeben. Er wird mit mir sterben, und zwar recht bald. Das wird er.

Dunkler Schmutz, grausame Bestien. Sie kommen zu mir nach Hause mit ihren bösen Absichten, rauben mir mein Leben. Sie sind mit ihren weißen Lieferwagen aufgetaucht und dann wieder verschwunden. Dunkel waren einige von ihnen. In fremden Sprachen unterhielten sie sich. Sie hätten ebenso gut Nummern auf der Stirn haben können. Sie und ihre Lakaien, die überall herumgelatscht sind. Ein Haufen Müll in den Schuppen, ich weiß nicht, was alles …

Wörter und Sätze wiederholten sich in seinem Kopf – bedeutungslos, aber dennoch von dringlicher Wichtigkeit, das Einzige, was zählte.

Denn wer gestorben ist. Denn wer gestorben ist.

Ja, es hat wieder geschüttet. An diesem Morgen hat er tief geschlafen, deshalb habe ich ihn nicht geweckt. Er wäre sonst nur im Haus herumgeschlichen, der alte Kauz. Hätte seine verrückten Ideen zum Besten gegeben. Frevel und Aberglaube, Verdammnis und Schändung.

Am Abend zuvor sind sie alle wieder aufgetaucht. Ich dachte, ich drehe durch, wenn sie nicht aufhören. Er ist nämlich gottlos, habe ich gesagt. Ich habe euch doch gesagt, dass er gottlos ist.

Der alte Mann öffnete einen Moment lang die Augen, da er eine Bewegung und Licht wahrnahm, doch dann überwältigte ihn wieder der Schlaf, ehe sein Verstand in Gang kam.

Aber er war kränklich, das war er schon immer. Schwach im Kopf und krank im Körper. Ich bin gesund. Gesund bin ich, das habe ich immer gesagt. Aber er, um ihn stand es schlecht. Ich habe nie kapiert, wie schlecht. Aber das macht jetzt auch nichts mehr, oder? Am Ende ist alles gut.

Denn wer gestorben ist.

Denn wer gestorben ist.

Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertigt und frei von der Sünde.

Todesacker

Подняться наверх