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Kapitel 4

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Auf der Abendgesellschaft der Carmichaels nippte Andrew an einem Cocktail, den Celia ihm gerade in die Hand gedrückt hatte. Beinahe hätte er sein Gesicht verzogen, doch Celia zuliebe nahm er sich zusammen. Alkohol hatte ihm noch nie zugesagt, zum großen Unmut Cecilias und seines Vaters. Das machte Andrew die zahlreichen Abendveranstaltungen und sozialen Verpflichtungen, bei denen sie regelmäßig aufwarteten, nur noch unerträglicher.

„Ach, komm schon, Andrew“, neckte Cecilia ihn, während sie mit einer ihrer blonden Locken spielte. „Heute ist mein Geburtstag! Kannst du dich nicht wenigstens ein bisschen entspannen?“ Sie seufzte. „Und um Gottes willen steck die hier endlich weg.“

Noch bevor Andrew ihre Anspielung verstand, nahm sie ihm die Brille von der Nase. Cecilia hasste es, wenn er sie trug. Sie ließ ihn wie einen Langweiler aussehen. Und Langweiler konnte Cecilia nun wirklich nicht ausstehen.

Andrew straffte die Schultern, entschuldigte sich und ließ seine Sehhilfe in der Jackettasche verschwinden. Ein weiterer Makel an ihm.

Dann bemühte er sich, möglichst unauffällig durch den Raum zu blicken. Auf der anderen Seite des Raumes entdeckte er seinen Vater, der sich mit Harrison Carmichael unterhielt.

„Und, was ist dein Geburtstagsgeschenk?“, unterbrach Cecilia seine Gedanken.

„So eine Frage gehört sich aber nicht“, erwiderte Andrew und schaffte es, dabei verschmitzt zu lächeln. „Du findest es natürlich bei all den anderen Geschenken“, erklärte er und zeigte auf den großen Tisch am anderen Ende des Raumes.

„Und du willst es mir nicht irgendwo geben, wo wir unter uns sind?“, hakte sie nach und ließ dabei verführerisch einen Finger über seinen Arm gleiten.

Andrew war überrascht. „Das würden deine Eltern und auch die anderen Gäste aber nicht so gern sehen, oder?“

Sofort spiegelte sich Enttäuschung in Cecilias Gesicht wider und Andrew bereute seine Antwort. Er wusste genau, wie sehr Celia und auch ihre und seine Eltern sich wünschten, dass die beiden endlich ihre Verlobung bekannt gaben. Aber die ganze Geschichte mit Christian hatte Andrews Leben völlig auf den Kopf gestellt – ihm blieb einfach kaum noch Raum für Cecilia.

„Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie bezaubernd du heute aussiehst?“, versuchte Andrew sich mit Komplimenten aus der Affäre zu ziehen. „Dein Kleid passt perfekt zu deinen Augen.“

Ein zurückhaltendes Lächeln erschien auf Cecilias Lippen. „Bezaubernd genug, dass du mich zum Tanz aufforderst? Ich glaube, das Orchester beginnt jeden Moment zu spielen.“ Andrew verdrängte sein Unbehagen, stellte den Cocktail auf einem der Tischchen ab und nahm mit einer kleinen Verbeugung Cecilias Hand. „Es wäre mir eine Ehre.“

Lachend schob sie ihn auf die Tanzfläche. Musik lag in der Luft und Andrew zog Cecilias schlanke Taille näher zu sich heran. So nah, dass er den Duft ihres neuen, vermutlich sehr teuren Parfums wahrnahm und ihre Locken sein Kinn kitzelten. Und doch spürte Andrew nichts: kein Begehren, keine Leidenschaft. Nicht einmal sein Puls beschleunigte sich. Wie sehr hatte er gehofft, dass sie seine Gefühle wieder entfachen würde, doch mehr als Zuneigung empfand er nicht. Konnte sich dieses bisschen wirklich in Liebe verwandeln? Oder eine Ehe am Leben halten?

Nachdenklich betrachtete Andrew seine Tanzpartnerin. Cecilia sah umwerfend aus. Sie konnte zweifelsohne jeden Mann in dieser Stadt haben, doch aus unerklärlichen Gründen schien sie ausschließlich ihn zu wollen. Andrew musste ein Seufzen unterdrücken. Er war es ihr und seiner Familie schuldig, dieser Beziehung mit mehr Enthusiasmus zu begegnen.

Sobald das Lied zu Ende war, nahm Cecilia ihn zur Seite. „Dort drüben sind Rosalyn und Danica. Komm, wir gehen Hallo sagen.“

Erneut musste Andrew ein Stöhnen zurückhalten. Cecilias beste Freundinnen waren die schlimmsten Tratschtanten, die er je kennengelernt hatte. Sie kannten sich schon seit der Schulzeit, hatten damals gemeinsam die private Mädchenschule besucht. Aber ihr bedeuteten sie die Welt, also musste Andrew sich zusammenreißen.

Nachdem die jungen Damen sich mit Küsschen und Umarmungen begrüßt hatten, setzte er – wie von ihm erwartet – sein freundlichstes Lächeln auf. „Guten Abend, die Damen.“

„Guten Abend, Andrew. Gut siehst du heute aus.“

„Danke. Und ihr beiden seht ganz wundervoll aus.“

Rosalyn hakte sich bei Andrew ein und lächelte ihn kokett an. „Ach Celia, wenn du dich doch gegen ihn entscheiden solltest, trete ich gerne an deine Stelle und kümmere mich um sein gebrochenes Herz.“

„Oh, das würde ich auch tun“, entgegnete Danica. „Du wärst sicherlich nicht lange allein, Andrew.“

Andrew bemühte sich, sein Lächeln aufrechtzuhalten, obwohl sich alles in ihm zusammenzog. Nicht in tausend Jahren würde er sich auf Frauenzimmer wie diese einlassen. Und doch fragte er sich, worin Cecilia sich von ihnen unterschied.

„Keine Sorge, aber so weit wird es nicht kommen“, erwiderte Cecilia, schlang ihren Arm besitzergreifend um den seinen und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

„Heißt das etwa, dass wir heute Abend eine gewisse Bekanntmachung hören werden?“, fragte Rosalyn mit aufgerissenen Augen.

Cecilia lachte. „Also das musst du Andrew fragen. Tatsächlich macht er ein großes Rätsel aus meinem Geburtstagsgeschenk.“

Die jungen Frauen kicherten und Andrew musste sich wirklich zusammennehmen, seine aufkochende Wut unter Kontrolle zu behalten.

Glaubte denn jeder in diesem Raum, dass ihre Verlobung bevorstand? Wenn ja, erwartete sie eine große Enttäuschung. Andrew ließ seinen Blick über die Menge wandern und landete schließlich bei seinem Vater. Dieser erwiderte seinen Blick, hob sein Glas auf ihn und sagte etwas zu Mr Carmichael. Andrews Magen zog sich weiter zusammen. Hoffentlich hatte er Cecilias Eltern gegenüber keinerlei Andeutungen gemacht. Falls und wenn Andrew um Cecilias Hand anhalten würde, dann zu seiner Zeit und auf seine Art, ganz bestimmt nicht vor den Augen Hunderter Fremder. Besser beseitigte er jeden Zweifel darüber, bevor ihm die Situation aus den Händen glitt.

„Entschuldigt mich, meine Damen. Ich muss kurz zu meinem Vater.“

„Aber beeil dich. Gleich gibt es Kuchen. Und Geschenke.“

Mit einem Kuss auf die Wange versicherte er ihr: „Ich bin gleich wieder zurück.“

Andrew gesellte sich zu seinem Vater und wartete, bis er das Gespräch mit einem Kollegen beendet hatte.

„Da bist du ja, Andrew. Amüsierst du dich?“

„Nicht besonders. Aber du weißt ja, dass mir diese Abendgesellschaften nicht liegen.“

„Betrachte es als Teil der Arbeit. Gute Beziehungen sind das A und O eines erfolgreichen Unternehmers.“ Dann rückte er näher und sagte: „Apropos Beziehungen. Es freut mich zu sehen, dass du und Cecilia den Abend Seite an Seite verbringt. Auch Harrison wartet schon auf eure Verlobung.“

Wütend ballte Andrew seine Hände. „Vater, darüber haben wir bereits gesprochen. Und wenn es so weit ist, wirst du der Erste sein, der davon erfährt. Abgesehen von Cecilia natürlich.“

Etwas nervös drehte sich sein Vater zu Harrison Carmichael um und schüttelte leicht den Kopf.

In Andrew brodelte es. „Ich weiß nicht, was ihr euch für einen Plan zurechtgelegt habt, aber das ist mein Leben. Und das heißt, ich allein bestimme, ob oder wann ich heirate.“ Das Orchester setzte erneut ein und der gedrungene Klang der Trompete spiegelte Andrews Anspannung wider. „Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und werde mich nur noch kurz von Cecilia verabschieden.“

„Du kannst noch nicht gehen. Es gab noch nicht einmal Kuchen.“

„Hier wird mich keiner vermissen, keine Sorge. Und du brauchst auch nicht das Auto holen zu lassen, ich gehe lieber zu Fuß.“

Andrew blickte starr nach vorne, und während er sich durch die Menge zu Cecilia vorkämpfte, bereitete er sich innerlich auf ihre Reaktion vor. Doch das nahm er in Kauf, um dieser Feier zu entkommen. Er würde ihr morgen einen Strauß Blumen nach Hause kommen lassen, als Entschuldigung.

Ein paar Minuten und eine eisige Verabschiedung später schritt Andrew durch die große Tür ins Freie und schlenderte die lange Einfahrt der Carmichaels entlang. Als er die Straße erreichte, lockerte er seine Krawatte, öffnete die obersten drei Hemdknöpfe und konnte endlich wieder durchatmen. Er holte tief Luft und genoss den Hauch von Kaminfeuer in der kühlen Nachtluft. Der Frühling war Andrews Lieblingszeit im Jahr; alles erwachte aus dem Winterschlaf und begann von Neuem.

Genau darauf hoffte auch Andrew, auf einen Neustart.

Doch welche Richtung sollte er einschlagen?

Noch vor ein paar Wochen war alles so klar erschienen. Er würde mit seinem Vater im Hotel arbeiten und eines fernen Tages, sobald sein Vater sich zur Ruhe setzte, selbst die Verantwortung übernehmen. Zurzeit erfreute sich sein Vater aber bester Gesundheit. Außerdem würde er sich ohnehin erst aus dem Unternehmen zurückziehen, wenn Andrew geordnete Verhältnisse geschaffen hätte, das heißt seine eigene Familie.

Doch dann kam die Nachricht von Roses Ableben und hatte alles aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie kämpften noch mit der Trauer um Franks Schicksal, und schon erfuhren sie vom nächsten tragischen Tod. Was blieb ihnen denn anderes übrig, als das verwaiste Kind bei sich aufzunehmen?

Außerdem hatte Andrew nicht damit gerechnet, dass seine Vormundschaft über Christian irgendwelche Auswirkungen auf ihn und Celia haben würde. Sie aber machte bald klar, wie sehr ihr das plötzliche Auftauchen des kleinen Jungen missfiel. Ein weiterer Grund, weshalb ihre Beziehung gerade etwas abgekühlt war. Auf der anderen Seite hatte der kleine Christian Andrews Herz in Windeseile erobert, sodass er es sich nicht mehr vorstellen konnte, dass sich jemand anderes um den Kleinen kümmerte. Außer vielleicht seine Schwester Virginia, sollte sich diese Möglichkeit doch noch ergeben. Wenn Celia weiterhin an einer Familie mit Andrew festhielt, musste sie sich daran gewöhnen, dass Christian nun ein Teil davon war. Insgeheim hoffte Andrew, dass sie nur ein wenig Zeit bräuchte.

Gedankenversunken bog Andrew in eine einsame Seitenstraße ein und betrachtete den Abendhimmel. Eine Vielzahl von Sternen strahlte ihn an. Er hielt kurz inne und staunte über Gottes herrliche Schöpfung – das hatte er schon lange nicht mehr getan. Lebhafte Erinnerungen aus seiner Kindheit kamen ihm nun in den Sinn: wie er im Garten auf der Wiese gelegen und versucht hatte, die einzelnen Sternkonstellationen auswendig zu lernen. In Momenten der Ruhe und des Friedens hatte Andrew sich Gott immer am nächsten gefühlt.

Jetzt aber schlichen sich Reue und Schuldgefühle bei ihm ein. Er musste es schaffen, zu diesen simplen Freuden des Alltags zurückzukehren. Und er musste sich wieder mehr um seine Beziehung zu Gott kümmern. Lange schon hatte er nicht mehr gebetet, nach Gottes Führung für sein Leben gefragt. Als Vater würde er diese Hilfe noch mehr brauchen als zuvor.

Tief in Gedanken versunken spazierte er weiter, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Beinahe hätte Andrew die junge Frau gar nicht bemerkt; erst ein lautes Schluchzen machte ihn auf sie aufmerksam. Als er stehen blieb, entdeckte er sie voller Erstaunen auf der anderen Straßenseite. In ihren Händen hielt sie eine Tasche und neben ihr lag ein einzelner Schuh im Gras. Ihre Hutkrempe verdeckte ihr Gesicht, nicht aber ihr Weinen. Auf der Stelle eilte Andrew zu ihr. „Entschuldigen Sie, Miss, kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

Mit ihrem Handschuh wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie zu ihm hochsah. „Oh, hallo. Ich fürchte, ich habe mir gerade den Fuß verstaucht.“

Ihren Worten war eindeutig ein britischer Akzent zu entnehmen.

Andrew beugte sich über ihren Fuß. „Darf ich?“

Die junge Frau sah ihn fragend an. „Sind Sie Arzt?“

„Nein, das nicht. Aber als Junge habe ich jede Menge Erfahrung mit Verstauchungen gesammelt. In der Schule war ich ein schrecklicher Sportler, habe mehr Zeit verletzt auf der Bank verbracht als auf dem Spielfeld“, sagte er scherzhaft, während er vorsichtig seine Finger über ihren Knöchel führte. Eine spürbare Schwellung. „Darf ich fragen, was Sie ganz allein hier draußen machen?“

„Ich war spazieren und habe mich verlaufen. Es kam mir vor, als liefe ich im Kreis, ich fand den Weg einfach nicht mehr. Dann wollte ich auf die andere Straßenseite und bin umgeknickt. Ich habe versucht weiterzugehen, aber ich kann nicht mehr auftreten.“ Dann zuckte sie zusammen, als er das Schmerzzentrum gefunden hatte. „Glauben Sie, er ist gebrochen?“

„Ich denke nicht. Aber das sollte besser ein Arzt beurteilen.“ Nachdenklich strich sich Andrew über den Bart. „Ich wohne nicht weit von hier. Ich könnte schnell mein Auto holen und Sie nach Hause fahren.“

„O nein, nicht doch. Das wäre viel zu viel Umstand. Wenn Sie mir ein Taxi rufen würden, wäre ich Ihnen schon sehr dankbar“, sagte sie und zitterte etwas, sodass sie ihre Arme enger um sich schlang.

„Ich glaube nicht, dass Sie um diese Uhrzeit ein Taxi bekommen. Die stehen meist alle an der Union Station. Bis hier eines vorbeikommt, können Jahre vergehen“, erklärte er. „Außerdem würde mein Gewissen das niemals zulassen.“ Dann stand er auf, zog sein Jackett aus und legte es ihr über die Schultern. „Sie rühren sich nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder da.“

Ein Wagnis aus Liebe

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