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Kapitel 7
ОглавлениеLiebe Grace, | 9. Juni 1914 |
habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Frank der Sohn des Hotelbesitzers ist, für den ich arbeite? Deshalb halten wir unsere Beziehung vorerst noch geheim. Erst kürzlich hat Frank seine Verlobung zu einer Frau gelöst, mit der sein Vater ihn verheiraten wollte. Deshalb warten wir noch eine Weile, bis wir ihm von uns erzählen. Frank fürchtet, dass es Auswirkungen auf meine Anstellung haben könnte. Er ist ja so mitdenkend!
Einen Moment blieb Andrew vor dem Büro seines Vaters stehen und wartete, bis er nicht mehr so genervt war. Paul Edison hatte ihn zu einem ungeplanten Treffen gerufen, was seinen Terminplan für den heutigen Tag ganz schön durcheinanderbrachte. Eigentlich hatte Andrew gehofft, schnell mit seinen Aufgaben fertig zu werden und dann etwas früher nach Hause gehen zu können. Beim Gespräch mit einem potenziellen Kindermädchen heute Nachmittag wollte er gern dabei sein, aber diese unerwartete Unterredung bedeutete wahrscheinlich das Aus für seinen Plan.
Was hatte Edison sich wohl dieses Mal ausgedacht? Aller Wahrscheinlichkeit nach etwas, das Andrew vor seinem Vater bloßstellte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, rückte seine Brille zurecht und trat ins Büro.
Sein Vater und Edison waren bereits da und Edison saß so selbstsicher auf dem Stuhl, als gehörte das Hotel bereits ihm. Mit seinen nach hinten gegelten blonden Haaren und den hellblauen Augen war er ein gefährlicher Gegner: hübsch genug, um den Frauen den Kopf zu verdrehen, und clever genug, um auch die Männer auf seine Seite zu ziehen.
„Andrew, komm doch herein. Paul und ich haben gerade über einen Vorschlag gesprochen und hätten gerne deine Meinung dazu.“
Pauls arroganter Blick holte schlechte Erinnerungen an Frank hoch. Er war immer Vaters Goldjunge gewesen, sein ganzer Stolz. Der, der nie einen Fehler gemacht hatte.
„Warum hast du nur so wenig von deinem Bruder?“, hatte ihm sein Vater früher häufig vorgeworfen. „Wenn du dich mit Kunden unterhältst, musst du ihnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein. Beobachte Frank und tu es ihm gleich.“
Sein Vater hatte nie verstanden, dass Andrew einfach nicht so gesellig war wie Frank. Während Frank sich stets danach sehnte, im Mittelpunkt zu stehen, bevorzugte es Andrew, im Hintergrund zu bleiben; am liebsten arbeitete er diskret und unauffällig. Und sosehr Franks Abkehr von der Familie ihn auch verletzt hatte, etwas Gutes hatte sie auch: Wenigstens wurde Andrew so nicht länger mit ihm verglichen und für weniger gut befunden. Naiverweise hatte Andrew gedacht, die Aufmerksamkeit seines Vaters galt nun ihm. Endlich sah er die Chance, seine Anerkennung zu gewinnen – doch diese Illusion zerbarst in dem Moment, als Paul zum Juniormanager ernannt wurde.
Mit diesem Gedanken im Kopf setzte sich Andrew. „Worum geht’s?“, fragte er knapp und hoffte nur, dass es sich nicht als eine kostspielige Investition herausstellte.
„Das lasse ich besser Paul erklären“, entgegnete ihm sein Vater, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und faltete erwartungsvoll die Hände vor dem Bauch.
Paul stand auf und strich sein Jackett glatt, als bereite er sich auf eine große Rede vor. „Folgendes ist unsere Idee: Jetzt, wo der Krieg seit über sechs Monaten beendet ist, wird es Zeit für eine Feier. Ich denke da an eine Gala – eine Siegesfeier, wenn man so will. Dem erfolgreichen Kriegsausgang zu Ehren.“ Je länger er redete, desto enthusiastischer wurde er. „Wir könnten einige der wichtigsten Veteranen des Landes einladen und ihnen im Rahmen einer großen Verleihung irgendeine Auszeichnung zukommen lassen. Und für diese Veranstaltung nehmen wir natürlich teuren Eintritt, den aber jeder gern zahlen wird, da es schließlich um eine gute Sache geht“, erklärte er selbstsicher und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. „Das ist die perfekte Möglichkeit, Menschen zusammenzubringen und ihnen wieder einen Grund zum Feiern zu geben. Das wird sie aufbauen. Und uns bringt es jede Menge Geld ein.“
Andrews Magen zog sich zusammen. „Du willst tatsächlich die armen Soldaten für deinen unternehmerischen Ehrgeiz ausnutzen? Sie haben die Schrecken des Kriegs überlebt – Dinge, die wir uns nicht einmal vorstellen können.“
Augenblicklich verfinsterte sich Pauls Miene. „Dass du dir nichts dergleichen vorstellen kannst, verstehe ich. Schließlich hast du die Zeit ja auch hier auf eurem schönen Familienanwesen verbracht, in Sicherheit. Aber ich habe den Krieg selbst schmecken gelernt. Und eines versichere ich dir, von Ausnutzen kann hier nicht die Rede sein.“
Erneut biss sich Andrew auf die Zähne. Natürlich musste Paul Salz in die Wunde streuen und es Andrew vorhalten, dass er wegen einer körperlichen Einschränkung ausgemustert worden war, während er und die meisten anderen Männer seines Alters dem Vaterland gedient haben.
„Die Einnahmen würden gleichermaßen geteilt werden“, setzte Paul unbeirrt fort. „Eine Hälfte geht an die Kriegsveteranen, die andere Hälfte ans Hotel. Somit profitiert jeder davon. Und wie bereits erwähnt, würde es die Gesellschaft auf eine ganz neue Weise zusammenschweißen.“
„Ich finde den Vorschlag hervorragend“, schaltete sich nun Andrews Vater ein und lehnte sich über den Schreibtisch. „Und von dir erwarte ich absolute Kooperationsbereitschaft, Andrew. Wir müssen einen Termin festlegen, einige der anderen Angestellten mit an Bord holen, vor allem aber müssen wir ein Budget erarbeiten. Und hier kommst du ins Spiel. Ich möchte, dass du mit Paul zusammenarbeitest und ihr euch überlegt, wie viel Geld wir brauchen. Gib ihm so viel wie nötig, um diese Veranstaltung auf die Beine zu stellen.“
Das war es also, wofür man ihn hierherzitiert hatte. Offensichtlich ging es seinem Vater in dieser Sache überhaupt nicht um Andrews Meinung. Die Veranstaltung war anscheinend beschlossene Sache, nur noch die Finanzen mussten geklärt werden. Verärgert stand Andrew auf und brummte nur ein kurzes „Gut“, bevor er sich zur Tür wandte.
Aber Paul hob die Hand: „Halt – bevor du wieder gehst, ich habe da noch eine Idee.“ Widerwillig drehte Andrew sich noch einmal um. „Ich denke, Cecilia Carmichael wäre die perfekte Partnerin für dieses Projekt. Sie hat ein Händchen für Dekoration und kennt sich gut damit aus, derart Abendgesellschaften zu organisieren. Die unsrige wäre nur noch ein bisschen größer.“
In Andrew brodelte die Wut. „Also bitte“, sagte er und stemmte seine Hände in die Hüften. „Wir haben durchaus kompetentes Personal für Veranstaltungsorganisation. Ich sehe absolut keinen Grund, warum Celia …“
„Eine wunderbare Idee, Paul“, unterbrach ihn sein Vater. „Und ich bin sicher, wir werden es alle genießen, Cecilia mit dabeizuhaben.“
Bevor Andrew ein weiteres Wort des Protests äußern konnte, klopfte es an der Tür und eine Sekretärin kam herein. „Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen, Sir, aber da ist ein Anruf für Sie, Andrew.“
„Danke, Martha. Ich bin sofort da“, erwiderte er und verabschiedete sich wortlos von den anderen beiden.
Wenige Sekunden später schritt er über den Flur in sein Büro und atmete einmal tief durch, bevor er den Hörer abnahm. „Andrew Easton hier.“
„Drew, ich bin’s, Ginny. Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“
Während Grace die lange Auffahrt der Eastons entlanglief, spürte sie, wie sich ihr vor Aufregung der Magen verkrampfte. Erneut kam ihr der Gedanke, dass diese Idee auf so viele Weisen ein katastrophaler Einfall gewesen war, und doch war es ihre einzige Möglichkeit. Sie musste es wenigstens versuchen, das schuldete sie Rose. Und ihrer Mutter. Und selbst wenn sie die Stelle als Kindermädchen nicht bekommen würde, hätte sie immerhin einen Eindruck von Christians Zuhause gewonnen. Das wäre all die Aufregung wert, hoffte sie.
Je näher sie dem Anwesen kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Nachmittägliche Schatten lagen über Haus und Grundstück und verliehen ihnen etwas Unheimliches. Aus der Nähe sah alles noch imposanter aus – zwischen ihrem kleinen Cottage zu Hause in Sussex und diesem herrschaftlichen Anwesen lagen Welten. Drei Stockwerke hohe Wände aus weißem Stein und ein opulenter Eingangsbereich, eingerahmt von zwei stattlichen Säulen. Einen Moment lang bewunderte Grace die aufwendigen Holzverzierungen an der Tür. Natürlich wollte sie keineswegs zu spät zu dem Gespräch mit Mrs Easton erscheinen, das Virginia freundlicherweise für sie verabredet hatte, doch noch hatte sie Zeit. Ein letztes Mal strich sie sich den Mantel glatt und hoffte, dass ihr marineblaues Kostüm sie vertrauenswürdig aussehen ließ. Dann atmete sie tief durch und läutete.
Nur wenige Sekunden später öffnete eine uniformierte Hausdame. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“
„Guten Tag. Mein Name ist Grace … Foley. Ich komme zu einem Termin mit Mrs Easton.“
Die Frau wies Grace mit der Hand herein. „Kommen Sie. Ich werde Mrs Easton Bescheid geben, dass Sie hier sind.“
„Danke.“
Die Frau verschwand in einem langen Gang und Grace bestaunte das eindrucksvolle Foyer. Burgunderfarbene Wandteppiche schmückten die hölzernen Wände und ein opulentes Eichengeländer führte die breite Treppe hoch. Überall hingen große Gemälde: Landschaftsbilder, Stillleben und Familienportraits. Noch nie hatte sie so ein schlossähnliches Haus von innen gesehen. Nervös umklammerte Grace den Griff ihrer Handtasche und bat Gott in einem Stoßgebet um Ruhe und Kraft für dieses Gespräch.
In diesem Moment kam die Hausdame zurück. „Bitte hier entlang, Miss Foley. Mr Easton wird sofort bei Ihnen sein.“
„Mr Easton?“, fragte Grace verdutzt. „Ich … Eigentlich habe ich einen Termin mit Mrs Easton.“
„Ich fürchte, sie fühlt sich nicht wohl. Mr Easton wird Sie stattdessen empfangen.“
Als sie an einer halb offenen Tür ankamen, meldete sie Grace an: „Miss Foley, Sir“, und winkte sie herein.
Es blieb Grace nur ein winziger Augenblick, um die aufkommende Panik hinunterzuschlucken. Nun würde sie dem gefürchteten Mr Easton begegnen. Demjenigen, der Rose so viele Sorgen bereitet hatte. Sie straffte die Schultern und betrat den Raum.
Zunächst flog Graces Blick vom deckenhohen Bücherregal zum massiven Schreibtisch aus Eichenholz und landete schließlich bei dem Mann, der dahintersaß. Er trug einen hellgrauen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Sein hellbraunes Haar fiel ihm in die Stirn und die dunkel gerahmte Brille betonte seine unvergleichlich blauen Augen.
Grace sah ihn unverwandt an. Das war der Mann, der sie neulich nach ihrem Spaziergang gerettet hatte! Auch er schaute sie überrascht an, legte die Brille auf den Schreibtisch und kam auf Grace zu.
„Sie sind Miss Foley? Die Frau, die sich hier als Kindermädchen bewirbt?“
„Ich … ähm, ja. Genau.“ Grace schwirrte der Kopf, als sie krampfhaft versuchte, die Situation zu verstehen.
Andrew schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Was für ein schöner Zufall. Dann setzen Sie sich doch, bitte.“
„D-danke“, stotterte Grace verunsichert.
„Wie ich gehört habe, haben Sie meine Schwester im Park getroffen. Meine Mutter meinte, dass Sie so als Kandidatin vorgeschlagen wurden“, sagte er mit hochgezogener Augenbraue. „Eine etwas ungewöhnliche Art, sich zu bewerben, muss ich gestehen.“
Grace hielt seinem durchdringenden Blick stand und schaffte es trotz ihrer Nervosität zu lächeln. „Oh, ja. Das stimmt. Es kam alles sehr unerwartet. Als ich sie dort sah, konnte ich nicht anders, als den Kleinen zu bewundern. Und so kamen wir ins Gespräch. Nebenbei sagte sie dann, dass Sie ein Kindermädchen suchen. Und diese Möglichkeit kam mir wie ein Geschenk vor.“
„Ja, ich erinnere mich noch, dass Sie mir erzählt haben, Sie würden eine Arbeit suchen“, entgegnete er. Dann runzelte er plötzlich die Stirn und fragte: „Ach, wie geht es eigentlich Ihrem Fuß? Sie sind aber nicht den ganzen Weg bis hierher gelaufen, oder?“
„Nein, den größten Teil der Strecke bin ich mit der Straßenbahn gekommen. Aber mein Fuß ist auch wieder verheilt, vielen Dank.“
„Das freut mich“, erwiderte er mit einem ehrlichen Lächeln. „Nun, dann lassen Sie uns das Vorstellungsgespräch beginnen, wenn es Ihnen recht ist. Haben Sie ein Empfehlungsschreiben?“
„Ja, hier“, sagte Grace und holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche. Pastor Burke war so freundlich gewesen, trotz der Kurzfristigkeit ihrer Bitte noch ein Schreiben zu verfassen. Gott sei Dank hatte er Verständnis für Graces kleines Geheimnis gezeigt und sich darauf eingelassen, von ihr als Grace Foley zu sprechen. Sie wusste nicht, was sie sonst getan hätte.
Andrew nahm den Brief entgegen und las.
Grace versuchte derweil, wieder ruhig und stetig zu atmen, während sie die Tatsache verarbeitete, dass der hübsche Unbekannte von neulich Christians Onkel und Vormund war. Kein Wunder, dass er sein Auto so schnell hatte holen können, sie waren ja nur ein oder zwei Straßen von seinem Zuhause entfernt gewesen.
„Pastor Burke spricht in den höchsten Tönen von Ihnen“, sagte Andrew im nächsten Moment und legte das Schreiben wieder weg.
„Das ist sehr freundlich von ihm.“
„Er lobt Ihre Arbeitsmoral und Ihren makellosen Charakter, aber … haben Sie denn Erfahrung mit Kindern?“
Auf diese Antwort hatte Grace sich vorbereitet. „Nicht auf dem Papier. Aber in meiner Heimatgemeinde habe ich mehrere Jahre den Kindergottesdienst gestaltet. Und zudem habe ich mich häufig um die Nachbarskinder gekümmert.“
„Und was ist mit Babys?“
Grace zögerte. Die Stelle als Kindermädchen war eine einmalige Chance. Sie wollte ihrem kleinen Neffen endlich nahe sein, doch gleichzeitig konnte sie den Mann nicht noch mehr belügen und derlei Erfahrungen vorspielen. „Ich liebe Babys“, begann sie ihre Erklärung, „und manche der Nachbarskinder waren noch sehr klein. Auch wenn ich keine Expertin in diesem Bereich bin, kann ich sicher alles lernen. Dazu bin ich selbstverständlich bereit.“
„Also gut“, entgegnete Andrew, nahm einen Stift in die Hand und balancierte ihn zwischen den Fingern. „Dann erzählen Sie mir doch etwas aus Ihrem bisherigen Leben.“
„In Ordnung“, sagte Grace und begann: „Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort in der Nähe von Southampton. Mein Vater arbeitete bei der Werft, aber er starb schon, als ich vierzehn war. Ich hatte eigentlich vor, aufs College zu gehen, doch dann ist meine Mutter krank geworden und ich blieb zu Hause, um sie zu pflegen.“
Grace hielt kurz inne und überlegte. Sie wollte Andrew ein wahrheitsgetreues Bild ihres Lebens in England geben, musste aber doch einige Dinge für sich behalten, insbesondere die Verbindung zu Rose.
„Haben Sie in England gearbeitet?“
„Ich habe ein paar Stunden die Woche im Einzelwarenladen bei uns am Ort ausgeholfen. Es kam immer darauf an, wie es meiner Mutter ging. Aber die Inhaber hatten großes Verständnis für unsere Situation.“
„Wie zuvorkommend“, entgegnete er freundlich und spielte weiterhin mit dem Stift herum. Doch dann formte sich ein Fragezeichen in seinem Gesicht. „Und was hat Sie dazu gebracht, nach Kanada zu kommen?“
Grace befeuchtete sich kurz die trockenen Lippen und hoffte, dass ihre einstudierte Antwort auf diese Frage überzeugend wirkte. „Größtenteils meine Mutter, sie bestand auf dieser Reise. Ich glaube, sie wollte damit all die Zeit, die ich für sie aufgebracht habe, gutmachen.“
Und da war die Antwort auch schon ausgesprochen und nicht einmal gelogen.
„Also geht es Ihrer Mutter inzwischen besser?“
„Ein wenig. Sie lebt jetzt bei ihrer Schwester, das war die einzige Lösung, mit der ich einverstanden war und England verlassen konnte.“
„Und was war Ihr eigentlicher Plan, als Sie hier angekommen sind?“
Nun wurde Grace wieder nervös. „Ich hatte von Pastor Burke und dem Einwandererprogramm gehört, also habe ich ihn direkt aufgesucht. Man sagt, er gibt sich größte Mühe, Neuankömmlinge zu unterstützen.“
„Das klingt nach einem guten Verbündeten“, gab Andrew zurück, legte seinen Kopf schief und spitzte die Lippen. „Wenn ich so direkt sein darf, was ist mit einem Partner? Es gibt keinen Ehemann oder einen Anwärter, den sie zurückgelassen haben?“, fragte er, während sein Blick zu Graces ringloser Hand wanderte.
Diese Frage überraschte Grace sehr und ein wenig entrüstet antwortete sie: „Ich denke nicht, dass das hier irgendeine Rolle spielt.“
Beschwichtigend hob Andrew die Hände. „Bitte verzeihen Sie. Ich wollte damit nicht in Ihre Privatsphäre eindringen, ich möchte nur sicherstellen, dass es keinen Grund für Sie gibt, Kanada bald wieder zu verlassen. Dass nicht irgendein Mann hier auftaucht und Sie zurück nach Hause zitiert.“
Graces Puls raste und ihr war durchaus bewusst, wie aufgeregt sie wirken musste, also atmete sie einmal tief durch, bevor sie weitersprach. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich völlig ungebunden bin. Es gibt auch niemanden, der einfach hierherkäme, um mich zurückzuholen.“
Nun stieg auch Andrew Hitze ins Gesicht und er entschuldigte sich. „Ich bitte nochmals um Verzeihung, ich wollte Sie nicht in eine unangenehme Situation bringen, aber ich musste fragen.“
Grace nickte kurz und Andrew räusperte sich.
„Ich kann also davon ausgehen, dass Sie vorhaben, in Kanada zu bleiben?“
Erneut zögerte sie. Was hatte sie vor? Bisher hatte Grace nicht weiter in die Zukunft gedacht als bis zu diesem Gespräch. Sollte sie die Stelle jedoch bekommen und eine Bindung zu ihrem Neffen aufbauen können, würde sie auch so lange wie nötig bleiben. „Ich hoffe es, ja.“
„Sehr gut. Ich würde nicht zulassen, dass der Kleine sich an eine Vertrauensperson gewöhnt, nur um erneut von ihr verlassen zu werden. Nicht, nachdem er schon seine Mutter verloren hat.“
Bei diesen Worten spiegelte sich Trauer in Andrews Gesicht wider.
„So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen, Mr Easton“, sagte Grace mit fester Stimme. Gleichzeitig kämpfte sie gegen die in ihr aufkommenden Gefühle an und ergänzte: „Kinder sind ein wertvolles Geschenk, um das wir uns kümmern dürfen.“ Schließlich war das alles, was sie wollte: für ihren kleinen Neffen da sein und ihn lieben – so wie es auch Rose getan hätte.
„Das sind sie“, erwiderte Andrew und ein Lächeln löste seine Sorgenfalten ab. „Und bitte nennen Sie mich doch Andrew. Immer, wenn mich jemand mit Mr Easton anspricht, suche ich im Raum nach meinem Vater.“
„In Ordnung, Andrew“, gab Grace mit einem Lächeln zurück.
Langsam entspannte sie sich, doch zugleich schämte sie sich auch ein wenig. Andrew schien ein guter Mensch zu sein. Bestimmt hätte er Verständnis für ihre Situation. Das Ehrlichste wäre, ihm die Wahrheit zu erzählen. Sie sollte dieses Lügenspiel beenden und klarstellen, dass sie Christian in guten Händen wissen wollte.
Während sie darüber nachdachte, biss sie sich auf die Lippe und spielte mit dem Griff ihrer Handtasche.
Aber was, wenn Andrew doch nicht so freundlich war, wie er schien? Was, wenn er in Zorn ausbräche, sobald sie ihre falschen Vorwände preisgab? Was, wenn plötzlich Mr Easton auftauchte und sie aus dem Haus schickte, bevor sie alles aufklären konnte?
Das würde bedeuten, ihren kleinen Neffen ein für alle Mal hierzulassen und allein nach England zurückzukehren. So würde sie nie ein Teil seines Lebens werden.
Es war einfach zu riskant. Zu viel stand auf dem Spiel. Ihr Plan war nicht sonderlich ehrlich, aber doch ihre einzige Möglichkeit, redete sie sich ein.
Dann hob sie wieder ihren Blick und bemerkte, dass Andrew sie beobachtete.
Schnell schaute er wieder auf die Papiere vor ihm und räusperte sich, bevor er weitersprach: „Ich bin ehrlich mit Ihnen, Grace. Ich werde Ihnen nicht verheimlichen, dass meine Mutter und ich schon Dutzende Gespräche mit Bewerberinnen geführt haben. Viele davon waren hoch qualifiziert, doch immer gab es den einen oder anderen Charakterzug an ihnen, der mir nicht gefallen hat. Ich suche eine junge, kraftvolle Frau, die genug Energie hat, um mit Christian zu spielen, aber auch, um sich durchzusetzen, wenn nötig. Eine Frau, die ihm ein guter Mutterersatz wäre“, sagte er und wirkte, als müsste er seine Gedanken ordnen.
Das war Graces Gelegenheit. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
„Natürlich.“
„Sie sind nicht verheiratet, oder?“
„Richtig.“
„Und was ist, wenn Sie eines Tages heiraten?“ Wenn er ihr Fragen über die fernere Zukunft stellen konnte, dann auch sie.
„Machen Sie sich Sorgen darüber, wie sicher diese Stelle ist?“
„Ja, sozusagen.“
„Wenn es so weit ist, hoffe ich natürlich, dass meine künftige Frau Christian genauso lieben wird wie ich und dass sie ihm eine gute Mutter sein möchte. Doch eine Heirat wäre nicht unbedingt auch das Aus für ein Kindermädchen. In unseren Kreisen sind Kindermädchen oder Gouvernanten keine Seltenheit.“ Dann hielt Andrew inne. „Wie dem auch sei, sollte es tatsächlich dazu kommen, dass wir Ihre Dienste nicht länger benötigen, würden wir Sie das natürlich rechtzeitig wissen lassen und Sie angemessen entschädigen.“
„Das klingt gerecht.“
Nach diesem letzten Kommentar stand Andrew auf und kam um den Tisch zu ihr herum. „Also gut, Grace. Ich werde mich noch mit meiner Familie besprechen müssen und Ihnen dann Bescheid geben, wie wir uns entschieden haben. Wie kann ich Sie am besten erreichen?“
„Am besten hinterlassen Sie wieder eine Nachricht bei Pastor Burke.“
„Sehr gut. Dann wäre es das erst einmal“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. „Vielen Dank, Grace. Wir melden uns baldmöglichst.“
Andrew schien nett und vertrauensvoll zu sein. Und auch als sie ihm die Hand gab, hatte sie ein gutes Gefühl dabei. Sie bedankte sich und wurde hinausgeführt.
Auch wenn Andrews Identität Grace zunächst überrumpelt hatte, hatte sie das Gespräch doch ganz gut bewältigt, dachte sie beim Hinausgehen. Nun lag alles in Gottes Hand und sie musste die Entscheidung der Eastons abwarten und akzeptieren. Immerhin schien ihnen der kleine Christian viel zu bedeuten. Das war gut. Und doch wäre es vorteilhaft, im selben Haus zu wohnen, um die Situation wirklich einschätzen zu können. Ob sie ihn wohl einfach an ein Kindermädchen abgeben und sich dann nicht weiter um ihn kümmern würden? Oder sahen sie ihn als echtes Familienmitglied an?
Diese und weitere Fragen schwirrten Grace durch den Kopf. Erst die Antworten darauf würden ihr Frieden über Christians Zukunft in dieser Familie bringen.
Als Andrew die Tür hinter Grace schloss, atmete er laut hörbar aus. Er hätte nicht gedacht, dass er die junge Frau von neulich jemals wiedersehen würde, und nun überlegte er sogar, sie als Kindermädchen einzustellen – was für ein Zufall.
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und dachte daran, wie hübsch sie aussah in ihrem blauen Kostüm und dem farblich passenden Hut auf dem dunklen Haar. Wieder einmal hatte er sich fast in ihren warmen braunen Augen verloren, die Ehrlichkeit ausstrahlten, manchmal aber auch etwas zu verbergen schienen.
War es zu verrückt, sie einzustellen?
Er bemerkte Schritte auf den Treppen und kurz darauf stand Virginia im Foyer. „Und?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Was denkst du? Ist Grace nicht einfach perfekt für diese Stelle?“
„Nun ja, so weit würde ich nicht gehen. Sie hat kein Arbeitszeugnis und ihr fehlt auch die Erfahrung.“
„Papperlapapp. Ich kann es sofort sehen, wenn jemand ein gutes Herz hat. Und Sie würde Christian genauso sehr lieben wie wir.“ Dann verschränkte sie die Arme. „Außerdem: Bisher haben wir lauter gute Zeugnisse gesehen und was hat das gebracht? Gar nichts.“
„Wohl wahr“, gab Andrew mit einem Schulterzucken zurück. „Aber ich werde noch mit Mutter reden, bevor ich irgendetwas entscheide.“
Virginia lächelte und tätschelte ihm liebevoll den Arm. „Natürlich. Ich bin mir sicher, dass du alle Vor- und Nachteile genau abwägen wirst, bis du zu einer vernünftigen Entscheidung kommst“, neckte sie ihn.
„Wenn du das sagst, klingt es, als sei das etwas Schlechtes.“
„Nicht unbedingt. Aber ein bisschen mehr Spontaneität würde dir guttun, Drew. Manchmal muss man einfach auf seinen Instinkt hören.“
„Und was sagt dein Instinkt?“
„Dass Grace eine wirklich nette, mitfühlende Frau ist. Und ein großes Herz für Kinder hat.“
„Ich werde das im Hinterkopf behalten“, sagte er und gab seiner Schwester einen Kuss auf die Wange. „Christian schläft gerade?“
„Ja. Ich hole mir jetzt einen Tee, und wenn er wieder aufwacht, gehe ich mit ihm spazieren. Wie immer.“
„Wenn wir uns tatsächlich für Grace entscheiden sollten, müsste jemand sie anlernen und ihr alles zeigen. Wäre das in Ordnung für dich?“
„Natürlich. Ich bin doch sowieso bei Christian. Das wird sich auch nicht einfach ändern, nur weil er dann ein Kindermädchen hat. Vor allem nicht, wo ich ihn schon bald für länger nicht mehr sehen kann“, sagte Virginia und ein Wink von Traurigkeit stand in ihrem Gesicht.
„Ginny“, sagte Andrew ruhig, „niemand zwingt dich, nach Europa zu reisen, wenn du nicht willst.“
„Aber ich muss gehen. Basil erwartet es von mir, das hast du selbst gesagt.“ Tapfer fügte sie hinzu: „Mach dir keine Gedanken, Drew. Alles wird gut.“
Und doch konnte er nicht anders, als sich um seine kleine Schwester zu sorgen. Basil war nur ihre Zweitwahl und das missfiel Andrew. Der Mann, den sie wirklich geliebt hatte, war schon zu Beginn des Krieges gefallen. Wenigstens war sie inzwischen wieder offener für den Gedanken an eine Ehe. Beinahe drei Jahre hatte sie gebraucht, um über Emmets Tod hinwegzukommen. Andrew sollte froh sein, dass Virginia sich wieder auf jemanden einließ. Er wusste, wie sehr sie sich eine Familie, eigene Kinder wünschte – und das hatte sie auch verdient.
Dann schüttelte er den Kopf, um seine unnützen Gedanken beiseitezuschieben. Stattdessen sollte er sich besser auf das Jetzt konzentrieren und seine Mutter aufsuchen, um ihr vom Gespräch mit Miss Foley zu berichten.