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Kapitel 6
ОглавлениеLiebe Grace, | 31. Mai 1914 |
heute Abend war es so weit: Frank hat mich zum ersten Mal geküsst. Ich fühle mich, als würde ich schweben! So etwas habe ich noch nie empfunden – ich glaube, ich bin dabei, mich in ihn zu verlieben.
Mrs Chamberlain bestand darauf, dass Grace die ersten zwei Tage nach der Verletzung auf dem Sofa im großen Salon verbrachte, den Fuß hochgelegt. Wie ein krankes Kind wurde sie umsorgt. Zum Glück hatte die Schwellung am dritten Tag bereits etwas nachgelassen und Grace tat wieder erste Schritte. So konnte sie sich wenigstens in der Küche nützlich machen und für Mrs Chamberlain Kartoffeln schälen und Gemüse schneiden. Mrs C. – wie sie unbedingt genannt werden wollte – erlaubte Grace außerdem, für einen günstigeren Preis bei ihr zu wohnen, bis sie eine Arbeit fand.
Am fünften Tag des ihr auferlegten „Hausarrestes“ half Grace ihrer Vermieterin nach dem Abendessen mit dem Abwasch. Ihr Knöchel, wenn auch noch empfindlich, fühlte sich von Tag zu Tag besser an und Grace freute sich schon darauf, am Sonntag wieder zum Gottesdienst gehen zu können.
„Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie zurzeit arbeiten. Das wissen Sie hoffentlich?“, fragte Mrs C., als sie ihr einen Teller zum Abtrocknen reichte.
„Es macht mir aber nichts aus, ich helfe Ihnen gerne. Und wenn ich noch länger sitzen und meinen Fuß hochlegen muss, werde ich noch verrückt.“
„Ihr Knöchel sieht schon deutlich besser aus.“
„Das stimmt. Ihre Pflege hat mir sehr gutgetan“, entgegnete Grace lächelnd und räumte die sauberen Teller in den Schrank.
„Das freut mich.“ Als sich Mrs C. nach dem letzten Teller die Hände abtrocknete, fragte sie: „Hätten Sie denn Lust, beim Einwanderertreffen heute Abend dabei zu sein?“
Für einen Moment dachte Grace nach. „Wie nett, dass Sie fragen. Aber nein, danke, ich glaube, ich komme nicht mit.“
„Ich weiß, dass Sie immer noch trauern. Aber ein wenig Abwechslung würde Ihnen wirklich guttun. Und wer weiß? Vielleicht finden Sie ja eine Freundin. Man kann nie genug Freunde haben, Grace“, ermutigte sie Mrs C.
Grace hatte zwar ihre Zweifel, dass sie irgendetwas mit den anderen Neuankömmlingen gemein haben konnte, aber sie wollte Mrs C. nicht enttäuschen. Nicht, nachdem sie sich so rührend um sie gekümmert hatte.
„Also gut. Ich werde Sie begleiten“, gab sie schließlich nach und bemühte sich um ein Lächeln.
Etwa eine Stunde später saß Grace im Kirchenkeller auf einem harten Klappstuhl, schwenkte eine Tasse Tee über dem Schoß und schaute in die Runde. Pastor Burke hatte das Treffen mit einer gemeinsamen Gebetszeit eingeleitet und anschließend ein paar Arbeitsmöglichkeiten in einer lokalen Fabrik vorgestellt. Dann gab es eine Austauschrunde, bei der einige der Anwesenden über ihre guten und schlechten Erfahrungen der letzten zwei Wochen berichteten. Mit der Zeit entspannte sich Grace mehr und mehr und fühlte sich in der Gegenwart anderer Einwanderer tatsächlich wohl. Aber nicht alle von ihnen kamen aus England, manche waren aus Italien, Polen oder der Ukraine. Wie alte Freunde unterhielten sie sich und lachten miteinander.
„Kaum zu glauben, dass Sie auch aus Sussex kommen und ich erst bis nach Kanada reisen musste, um Sie kennenzulernen“, sagte ein Mann links von Grace, der ihr von Mrs C. als Ian Miller vorgestellt worden war. Er trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern, durch die seine Augen erbsenklein wirkten.
„Das ist wirklich ein Zufall“, entgegnete Grace und drehte sich nur leicht zu ihm. Sie hatte ein wenig damit zu kämpfen, sich bei so viel Aufmerksamkeit nicht unwohl zu fühlen.
„Ich komme nun schon seit fünf Jahren zu diesen Treffen. Aber nie hätte ich gedacht, hier jemanden so Liebenswertes kennenzulernen wie Sie“, gestand Mr Miller mit einem nervösen Lachen.
Grace lächelte verlegen und hielt sofort nach Mrs C. Ausschau. Sie entdeckte sie am anderen Ende des Raumes, und als sich ihre Blicke kreuzten, winkte sie Grace zu. Zusammen mit einer anderen Frau verteilte sie Getränke und ein paar Snacks. Graces Fuß war noch zu erschöpft, um viel zu stehen – sonst wäre sie zu ihnen gegangen und hätte mitgeholfen.
„Sind Sie auch auf der Suche nach Arbeit, Miss Abernathy?“, holte Mr Miller Grace aus ihren Gedanken zurück.
„Ja, das tue ich. Auch wenn mein Knöchel mich gerade etwas außer Gefecht setzt.“
„Ich bin im KPB-Gebäude beschäftigt, auf der Yonge Street. Wenn Sie möchten, höre ich mich dort gerne nach freien Stellen um.“
Grace runzelte die Stirn. „Wofür steht denn KPB?“
„Kanadische Pazifikbahn“, entgegnete er und kramte in seiner Jackentasche nach einem kleinen Kärtchen. „Ich aber arbeite im Telegrafenamt im zweiten Stock. Wenn Sie mal ein Telegramm verschicken wollen, sind Sie bei mir in besten Händen. Vielleicht kann ich Ihnen sogar einen Rabatt anbieten“, sagte er mit einem Zwinkern und steckte ihr das Kärtchen zu.
„Vielen Dank, Mr Miller. Das ist wirklich nett von Ihnen“, bedankte sich Grace mit einem schüchternen Lächeln und steckte die Karte ein. Dabei beobachtete Mr Miller sie sehr genau, als wollte er sich auf jeden Fall vergewissern, dass sie das Kärtchen auch sicher verstaute.
„Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu direkt, aber … ich weiß, wie es sich anfühlt, allein in einer neuen Stadt sein. Wenn Sie mal jemanden zum Reden brauchen oder ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann, bitte, sprechen Sie mich gern an.“
Der ehrliche Klang seiner Worte berührte Grace und erinnerte sie an ihren Bruder Peter. Auch er war immer sehr hilfsbereit und aufmerksam gewesen. Sogleich schalt sie sich dafür, schlecht von diesem Mann gedacht zu haben. Nur weil er etwas merkwürdig aussah. „Vielen Dank. Vielleicht komme ich eines Tages auf Sie zurück.“
„Sehr gut, ich nehme Sie beim Wort“, erwiderte er mit einem solchen Strahlen, als hätte Grace ihm gerade das Jawort gegeben.
Als das Treffen zu seinem Ende kam, half Mr Miller ihr beim Aufstehen. „Es war wirklich sehr schön, Sie kennengelernt zu haben, Miss Abernathy. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
Grace war ganz überrascht, wie wohltuend diese Treffen und auch das Gespräch mit Ian Miller waren. Mrs C. hatte recht behalten: Freunde konnte man nie zu viele haben.
Während der gesamten letzten Woche, die lediglich ihrer Genesung gewidmet war, hatte Grace nicht einen einzigen neuen Einfall, wie sie ihren kleinen Neffen zu Gesicht bekommen konnte. Als sie wieder ohne zu humpeln gehen konnte, hatte sie erneut nach dem Anwesen der Eastons gesucht, um zu beobachten, wer dort ein- und aus ging. Definitiv kein genialer Plan, das wusste Grace auch, aber mangels Alternativen – Einbruch war keine Option – kam sie auf diese Idee zurück. Wenn sie nur lange genug dort warten würde, könnte sie sicherlich einen Blick auf Christian erhaschen. Auch wenn das noch keine endgültige Lösung darstellte.
Heute war bereits der dritte Tag, an dem Grace sich mehrere Stunden auf der gegenüberliegenden Straße des Easton-Anwesens aufhielt. An den zwei vorherigen Tagen war sie am Vormittag gekommen – vergebens. Heute versuchte sie es deshalb am Nachmittag. Nach zweieinhalb Stunden wollte sie sich gerade geschlagen geben und zur Pension zurückkehren, da öffneten sich die schweren Eisentore. Eine junge Frau erschien. Sie trug eine sehr modische pflaumenfarbene Jacke und einen passenden Hut. Vor sich schob sie einen Kinderwagen. Augenblicklich beschleunigte sich Graces Herzschlag: Das war gewiss Christian.
So unauffällig wie möglich versuchte sie den beiden auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig zu folgen. Grace war erleichtert, dass ihr Knöchel schon wieder so weit verheilt war, dass sie Schritt halten konnte. Einige Häuserblocks später bog die junge Frau in eine Nebenstraße ein, und bevor Grace sie aus den Augen verlor, überquerte auch sie die Straße. Nun war sie nur wenige Meter hinter ihnen. Schließlich kamen sie zu einem Park.
Jetzt ging Grace langsamer, um es so aussehen zu lassen, als würde sie ziellos durch die Grünanlage schlendern. Dankbarerweise waren sie nicht die einzigen Besucher dort – manche joggten, andere hielten Picknicks ab und wieder andere spielten Ball mit ihren Kindern. Genug Menschen, um nicht besonders aufzufallen.
Grace ließ den Kinderwagen nicht aus den Augen. Nach zwei Runden durch den Park machte die junge Frau auf einer Bank Pause. Daraufhin ging Grace noch langsamer und zwang sich, die Frau mit dem Kinderwagen nicht anzustarren, als sie an ihr vorbeikam. Als sie sich auf eine nahe gelegene Bank setzte, rief ihr ein Stechen im Fuß ins Gedächtnis, dass sie so einen langen Spaziergang später bereuen würde.
Während sie immer wieder zu dem Baby und der jungen Frau schielte, bemühte sich Grace, möglichst unauffällig zu wirken, und tat so, als beobachte sie die spielenden Kinder. Die Frau hatte ein Buch dabei und begann nun, darin zu lesen. War das wohl Christians Kindermädchen? Oder gar Roses Schwägerin? Verzweifelt versuchte Grace, sich an Details aus Roses Briefen zu erinnern. Aber da war nichts, Rose hatte nur einen Bruder und eine Schwester von Frank erwähnt und sich sonst lediglich über den unausstehlichen Mr Easton ausgelassen.
Einige Minuten später fing das Baby an zu weinen. Unweigerlich richtete Grace ihren Blick wieder zum Kinderwagen. Die junge Frau legte das Buch zur Seite, beugte sich über den Wagen und holte das kleine Kind heraus. Sie küsste den Jungen und schmiegte ihn an ihre Brust, dann wickelte sie eine Decke um ihn und kurz darauf hatte er sich wieder beruhigt. Ihr Umgang war so vertraut miteinander, dass Grace zu zweifeln begann: Diese Verbundenheit sah nicht nach nur ein paar wenigen gemeinsamen Wochen aus. Vielleicht war das Baby auch gar nicht ihr Neffe, vielleicht war es das Kind dieser jungen Frau?
Grace musste es endlich herausfinden. Noch bevor sie sich über ihren verrückten Plan gewahr wurde, stand sie auf und ging zur anderen Bank hinüber.
„Guten Tag“, begrüßte Grace die beiden mit ihrem freundlichsten Lächeln. „Ich konnte einfach nicht anders, als diesen hübschen Jungen zu bewundern. Ein wahrer Goldspatz.“
Die Frau strahlte. „Oh, danke sehr. Das sehen wir genauso.“
„Ihr Mann ist sicher sehr stolz auf ihn“, sprach Grace weiter und merkte, wie sie vor Anspannung beinahe die Luft anhielt, während sie auf eine Reaktion wartete.
Die Frau schüttelte den Kopf. „Einen Ehemann habe ich nicht. Das ist mein kleiner Neffe.“
Plötzlich bekam Grace weiche Knie. Sie trat einen Schritt näher und setzte sich ein Stückchen entfernt neben die beiden. „Dann müssen Sie eine sehr hingebungsvolle Tante sein“, gab Grace zurück. Schon beim ersten Blick auf dieses kleine, perfekte Gesicht stockte ihr der Atem: Große blaue Augen, genau wie die ihrer Schwester, schauten sie ganz unverhohlen an.
Es gab keinen Zweifel, das war eindeutig Roses Sohn. Beinahe kamen Grace die Tränen, doch sie blinzelte sie schnell weg.
„Haben Sie auch Kinder?“, fragte die junge Frau nun.
„Nein. Eines Tages vielleicht, so Gott will.“
„Ja, so denke ich auch. Am liebsten hätte ich ein ganzes Haus voller Kinder. Aber bis dahin habe ich ja den kleinen Christian, nicht wahr, mein Schatz?“ In ihrem Blick lagen tiefe Liebe und Zuneigung und das versetzte Graces Herz einen kleinen Stich. Sie hatte die Eastons immer nur als Feinde betrachtet. Bisher war es ihr unvorstellbar, etwas mit ihnen gemein zu haben. Und doch war es so: Sowohl Grace als auch die junge Frau hatten einen lieben Menschen verloren – zu dem der kleine Christian die einzige noch verbliebene Verbindung war.
Grace straffte die Schultern und versuchte die sentimentalen Gedanken von sich zu schütteln. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. „Warten Sie hier auf seine Eltern?“, fragte sie, ohne den Blick von Christians engelsgleichem Gesicht zu lassen.
„Leider nein. Seine Eltern sind beide verstorben“, erklärte sie mit einem Seufzen und küsste den Kleinen wie zum Trost auf die Stirn. „Aber wir werden dafür sorgen, dass er trotz allem die Liebe und Fürsorge bekommt, die ihm zustehen“, setzte sie nach, während sie ihre Wange an die seine schmiegte.
Grace schluckte. Die aufkommenden Gefühle verschlugen ihr beinahe die Sprache. „Das tut mir sehr leid“, sagte sie und dachte dabei an ihren eigenen Verlust.
„Danke.“
„Ein Kind großzuziehen ist eine ganz schöne Verantwortung. Werden Sie sich um ihn kümmern?“, fragte Grace. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich Mrs Easton, eine wohlhabende Frau mittleren Alters, eine solch beachtliche Aufgabe auftrug. Wahrscheinlich überließ sie das ganz ihrer Tochter.
„Eigentlich ist mein älterer Bruder sein Vormund.“
„Oh“, rutschte es Grace heraus, die ihre Überraschung nicht verbergen konnte. Diese Möglichkeit hatte sie nie in Betracht gezogen. Vielleicht war er ja verheiratet und sie dachten, dass er und seine Frau dem kleinen Christian gute Eltern sein würden.
„Wenn es nach mir gehen würde, hätte ich Christian sofort adoptiert“, sprach die junge Frau weiter und auf ihrem hübschen Gesicht war nun ein Schatten von Besorgnis zu erkennen. „Wie dem auch sei. Die Umstände lassen es nicht zu. Ich werde also auf meine eigenen Kinder warten müssen.“ Traurig zuckte sie mit den Schultern.
„Sind seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen?“, fragte Grace vorsichtig.
„Nein. Seine Mutter ist kürzlich an der Spanischen Grippe gestorben und mein Bruder …“ Ihre Stimme brach. „Er ist im Krieg gefallen“, ergänzte sie leise und drückte den Kleinen etwas fester an sich.
Zum ersten Mal verspürte Grace so etwas wie Bedauern für die Eastons. Was auch immer die Familie auseinandergerissen hatte, sie mussten ihren Sohn Frank geliebt haben und trauerten nun genauso um ihn wie Grace um Rose. „Das tut mir wirklich leid. Ich habe auch einen Bruder im Krieg verloren und kann ein wenig nachempfinden, was Sie gerade durchmachen.“
„O bitte, entschuldigen Sie. Ich sitze hier und erzähle Ihnen von meinem Verlust, wo Sie offenbar dasselbe durchgemacht haben“, sagte sie beschämt.
„Aber nicht doch. Wir sind schließlich nicht die Einzigen, Tausende haben im Krieg einen geliebten Menschen verloren. Ich bin froh, dass dieser hübsche Junge trotzdem eine Familie hat, die sich um ihn kümmert. Ein Waisenheim wäre wirklich keine schöne Alternative gewesen“, erwiderte Grace. Und ohne lange darüber nachzudenken, streckte sie einen Finger aus und berührte die seidig weiche Babyhaut. Für einen kurzen Moment streichelte sie Christian über die Bäckchen, doch dann nahm sie die Hand wieder zurück, bevor die Verführung zu groß wurde.
„Nun, ich sollte Sie nicht weiter stören“, wandte sich Grace wieder der Frau zu und stand auf. „Ich bin froh, diesen Park hier entdeckt zu haben. Bisher bin ich immer nur durch die Straßen spaziert, dabei ist es viel schöner, durch die Grünanlage zu schlendern und Kindern beim Spielen zuzusehen.“
„Wohnen Sie noch nicht lange in Toronto?“, fragte die junge Frau, die nun nicht mehr traurig, sondern neugierig dreinblickte.
„Ja, genau. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier. Bisher ist Toronto wirklich ein faszinierender Ort.“
„Da gebe ich Ihnen recht. Und dennoch bin ich schon sehr gespannt auf Europa.“
„Sie fahren nach Europa? Wie … wie schön.“ Grace musste gegen Panik ankämpfen. Würden die Eastons Toronto verlassen? Und würden sie Christian mitnehmen? „Geht Ihre Familie auf Reisen?“
„Nein. Nur ich, ich begleite eine befreundete Familie. Es wird mir ganz schön schwerfallen, den Kleinen zurückzulassen. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen“, erklärte sie und gab ihm noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn wieder zurück in den Kinderwagen legte. „Wir suchen gerade noch nach einer Kinderfrau, bevor ich dann weg bin“, sagte sie beiläufig und strich die Decke über den Kleinen. „Aber bisher hatten wir kein Glück. Alle Bewerberinnen waren auf die eine oder andere Weise unpassend. Meine Mutter hat sehr hohe Ansprüche, wie es scheint.“
Auf einmal flogen Grace Tausende Gedanken durch den Kopf und ihre Hände wurden leicht schwitzig. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe. Sollte sie etwas sagen? Aber vielleicht hielt die Frau sie dann für zu direkt. Und doch, wenn sie die Möglichkeit einfach so verstreichen ließ …
„Tatsächlich bin ich gerade auf der Suche nach einer Arbeit“, stolperten die Worte unkontrolliert aus ihrem Mund.
„Wirklich?“, hakte die Frau nach und schaute sie neugierig an. „Haben Sie denn Erfahrung mit Kindern?“
„Ein wenig. In meiner Heimat habe ich mich oft um die Nachbarskinder gekümmert und jeden Sonntag den Kindergottesdienst mitgestaltet“, erwiderte sie und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
„Kindergottesdienst? Also gehen Sie in die Kirche?“
„Ja, genau. Hier in Toronto helfe ich im Moment etwas in der Holy Trinity Church aus. Pastor Burke kann mir sicherlich ein Empfehlungsschreiben mitgeben, wenn das hilfreich wäre.“
„Ja, das wäre es in der Tat“, sagte die Frau und studierte noch für einen Moment lang Graces Gesicht. „Nun, offensichtlich lieben sie Babys, sonst wären Sie nicht herübergekommen. Könnten Sie sich auch vorstellen, als Kindermädchen mit ihm im Haus zu wohnen?“
Grace raste der Puls. Mit Christian im selben Haus wohnen? Das hätte sie sich nicht einmal träumen lassen! Doch dann dachte sie kurz an ihr gemütliches Zimmer in der Pension und die unerwartete Freundin, die sie in Mrs C. gefunden hatte. Den gemeinsamen Tee am Abend würde sie zweifelsohne vermissen. Aber um ihrem kleinen Neffen näher zu kommen, würde sie auch das in Kauf nehmen.
„Natürlich, das klingt geradezu perfekt“, gab sie mit ihrem schönsten Lächeln zurück und versuchte die Frau davon zu überzeugen, auch als völlige Fremde eine geeignete Kandidatin zu sein.
„Wissen Sie, vielleicht sind Sie ja genau die Frau, die wir gesucht haben. Wie ist denn Ihr Name?“
„Grace A…“ Grace biss sich auf die Lippe. Sie konnte unmöglich ihren Nachnamen nennen, sonst wäre ihre Verbindung zu Rose offensichtlich. Gleichzeitig aber fühlte sie sich schrecklich bei dem Gedanken, lügen zu müssen. Doch im Moment musste sie ihr Gewissen außen vor lassen. „Foley. Grace Foley.“ Das war der Ehename ihrer Tante und der erste, der ihr einfiel.
„Foley, ist das nicht ein irischer Name?“
„Das stimmt. In der Verwandtschaft meines Vaters gibt es Iren“, erklärte sie etwas nervös, aber anscheinend ohne aufzufallen.
„Nun, Grace. Ich werde versuchen, ein Treffen mit meiner Mutter für Sie auszumachen. Wie können wir Sie erreichen?“
„Am besten Sie hinterlassen eine Nachricht bei … bei Pastor Burke“, antwortete Grace. Dafür würde sie ihn wohl oder übel in ihre kleine „Namensänderung“ einweihen müssen.
„Wunderbar. Dann rufe ich heute Abend an und nenne ihm eine Zeit und die Adresse. Und denken Sie an das Schreiben.“ Dann griff sie mit einem Lächeln nach dem Kinderwagen und schob ihn zurück auf den Weg. „Oh, ich bin übrigens Virginia Easton“, sagte sie zum Abschied.
„Danke, Virginia“, verabschiedete sich Grace und winkte ihr noch einmal, als die junge Frau den Park verließ. Dann ließ sie sich zurück auf die Bank fallen. In der Zwischenzeit hatte sich ihr schlechtes Gewissen in den Vordergrund gekämpft und in ihrem Kopf schwirrten all die möglichen Auswirkungen dieser Lüge. Beinahe wurde ihr schlecht, so sehr graute es ihr davor, ertappt zu werden. Sie hasste es, unehrlich zu sein. Aber wenn sie Virginia ihren echten Namen verraten hätte, hätte sie niemals die Möglichkeit bekommen, die Eastons – und damit Christians Umgebung – besser kennenzulernen. Sicherlich rechtfertigten die Umstände dieses kleine Vergehen.
Herr, ich weiß nicht, ob das gerade ein Wunder oder der größte Fehler meines Lebens war. Aber ich werde mich darauf verlassen, dass du das Beste daraus machst.