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Kapitel 8
ОглавлениеO Grace, | 14. August 1914 |
ist die Welt denn verrückt geworden? Ich kann es nicht fassen, dass wir uns im Krieg befinden! Mutter hat mir geschrieben, sie ist am Boden zerstört, weil Owen sich vielleicht freiwillig melden will. Ich kann sie verstehen – Frank will ebenso in den Kampf ziehen. Noch nie habe ich ihn so entschlossen gesehen, aber ich habe Angst. Was soll ich nur tun, Grace, wenn er wirklich geht?
Vor einigen Wochen haben seine Eltern von unserer Beziehung erfahren und es kam zu einem riesigen Streit. Er meinte, es sei ihm egal, was seine Eltern denken, und ich sei ihm wichtiger. Aber wenn das so ist, wieso will er mich dann allein lassen und in den Krieg gehen?
„Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das tun wollen?“, fragte Mrs Chamberlain, die im Türrahmen von Graces Zimmer stand.
Als Grace kurz von ihrem Koffer aufblickte, sah sie die Sorgenfalten in Mrs C.s liebevollem Gesicht. Sofort verspürte Grace etwas wie Reue. Grace hatte ihr nicht erzählt, für wen sie arbeiten würde – das würde Mrs C. bestimmt nicht gutheißen.
„Ja, ich bin mir sicher, Mrs C.“, antwortete sie dennoch, ging auf ihre Gastgeberin zu und legte ihr liebevoll eine Hand auf den Arm. „Das Einzige, was meine Freude über die neue Arbeitsstelle ein klein wenig trübt, ist, dass ich die guten Teezeiten mit Ihnen vermissen werde. Ich habe mich bei Ihnen wirklich wohlgefühlt.“
Am nächsten Tag würde Grace ihre Stelle als Kindermädchen bei den Eastons antreten. Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass sie sich für sie entschieden hatten, obwohl sie kaum Erfahrungen vorweisen konnte. Es kam überraschend, gab ihr aber zugleich das Gefühl, auf dem Weg zu sein, den Gott für sie bestimmt hatte.
Solange die Eastons nie davon erfuhren, auf welche Weise Grace mit dem kleinen Christian verbunden war, konnte ihre Arbeit als Kindermädchen für alle zum Segen werden. Und es war die Chance, am Leben ihres Neffen teilzuhaben. Sie war zwar nicht sein Vormund, aber dennoch in gewisser Weise für sein Wohl verantwortlich. So machte sie wenigstens ihr Versprechen Rose gegenüber wahr und Graces Schwester konnte in Frieden ruhen.
Der einzige Nachteil dieser Entwicklung war, dass es Mutter nicht allzu glücklich machen würde. Schließlich bedeutete es, dass Grace für unbestimmte Zeit in Kanada bleiben und Christian nicht nach England bringen würde. Doch das war zweitrangig, Christian hatte Priorität. Sie hoffte, dass ihre Mutter das verstehen würde.
Mrs Chamberlain war derweil ins Zimmer getreten und nahm ein Bild von Graces Kommode. Es zeigte Rose am Tag ihrer Abreise aus England. „Oh, meine Liebe. Dass Sie jetzt gehen, fühlt sich so an, als würde ich Rose zum zweiten Mal verlieren. Sie war wie eine Tochter für mich. Und der kleine Christian ist sogar in diesem Haus geboren worden“, schluchzte sie und kramte nach einem Taschentuch.
„Aber Sie verlieren mich ja nicht“, versuchte Grace sie aufzumuntern und nahm ihr vorsichtig das Bild aus den Händen. „Ich bin nur eine Straßenbahnfahrt entfernt und komme Sie gern besuchen, wann immer ich kann.“ Zärtlich strich Grace mit einem Finger über den Bilderrahmen, bevor sie diesen Schatz in ihrem Gepäck verstaute. Dort musste er wohl vorerst versteckt bleiben.
„Was ist mit den Sonntagen?“, fragte Mrs C. „Werden Sie unsere Gottesdienste besuchen? Ich weiß, dass Sie auch Pastor Burke fehlen werden.“
„Wenn ich einen Gottesdienst besuchen kann, komme ich natürlich zu Ihnen“, erwiderte sie. Die kleine Kirche würde sie sicherlich vermissen, inzwischen fühlte sie sich wie ihr Zuhause an.
Grace umarmte ihre Vermieterin. „Was hätte ich nur ohne Sie getan, Mrs C.? Ich danke Gott immer wieder dafür, dass er mich zu Ihnen geführt hat.“
„Auch die schwierigen Situationen kann Gott in etwas Gutes verwandeln“, erwiderte Mrs C. Mut machend. Grace seufzte und packte weiterhin ihre Sachen zusammen, während Mrs C. wie ein aufgescheuchtes Reh durch den Raum sprang. „Ist es nicht besser, wenn Sie sich morgen früh auf den Weg machen?“
„Ich würde lieber heute Abend schon dort ankommen, damit ich morgen ausgeruht bin. Außerdem erwartet die Familie mich“, erklärte Grace und verstaute ihre gefaltete Bluse in der Tasche.
„Das leuchtet ein. Würden Sie sich denn wenigstens von Pastor Burke bringen lassen? Ich halte es für keine gute Idee, wenn Sie zu so später Stunde allein mit der Straßenbahn fahren.“
Grace lachte. „Aber Mrs C., es ist nicht einmal sieben Uhr. Es gibt absolut keinen Grund zur Sorge.“
„Und was ist mit Ihrer schweren Tasche?“, stellte Mrs C. mit hochgezogenen Augenbrauen fest. „Wo war das Haus noch gleich?“
„Auf der Spadina Road“, antwortete Grace beiläufig und gab sich weiterhin mit dem Leerräumen des Kleiderschranks beschäftigt. So versuchte sie Mrs C.s Blick zu entkommen.
„Oh, Grace. Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie für die Eastons arbeiten werden.“
Bei diesen Worten hielt Grace inne. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Gastgeberin eins und eins zusammenzählen würde. Nun musste sie es ihr doch sagen. „So ist es. Ich bin Christians neues Kindermädchen“, erwiderte sie mit fester Stimme.
Schwerfällig ließ Mrs Chamberlain sich auf das Bett fallen, sodass die alten Federn der Matratze unter ihrem Gewicht quietschten. „Um Gottes willen. Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.“
„Warum nicht? Ich glaube, sie ist perfekt. Ich werde meinen Neffen kennenlernen und mich selbst um ihn kümmern. So kann ich sicherstellen, dass es ihm gut geht.“
„Aber Sie hintergehen die Eastons. Oder haben Sie ihnen gesagt, wer Sie sind?“, fragte Mrs C. mit einem so durchdringenden Blick, der Grace an Ort und Stelle festnagelte.
„Wie sollte ich? Sie würden mich nicht einmal hereinlassen, wenn sie wüssten, dass ich eine Abernathy bin.“
„Eines versichere ich Ihnen: Das wird nichts als Herzschmerz mit sich bringen“, erwiderte Mrs Chamberlain mit einem Kopfschütteln.
Dieser Kommentar tat weh. Sie klang wie Graces Mutter, die ihre Tochter wieder einmal für eine überstürzte Entscheidung schalt. Verzweifelt suchte Grace nach einem Weg, wie sie Mrs C. von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugen konnte und ihr Schuldgefühl über den Betrug verringern würde. Aber sie fand kein stichfestes Argument.
„Was erhoffen Sie sich dadurch, Grace? Wahrscheinlich werden Sie den Kleinen ganz bald schon sehr lieb gewinnen und dann wird es Ihnen das Herz brechen, ihn eines Tages verlassen zu müssen“, sprach Mrs C. weiter.
„Vermutlich haben Sie recht“, gab Grace sich geschlagen, lief im Raum auf und ab und blieb dann am Fenster stehen, wo sie auf die Straße starrte. „Und doch glaube ich, dass diese Möglichkeit von Gott kommt. Das ist, was er und auch was Rose sich von mir wünschen würden. Ich konnte diese Chance nicht einfach ziehen lassen, das hätte ich mein Leben lang bereut.“ Dann drehte sie sich zu ihrer Vermieterin und sagte entschieden: „In meinem letzten Brief an Rose habe ich ihr versprochen, mich um Christian zu kümmern, sollte ihr irgendetwas zustoßen. So kann ich wenigstens mein Wort halten.“
Mrs Chamberlain seufzte besorgt. „Nun gut, soeben haben sich meine abendlichen Gebete um zehn Minuten verlängert“, erklärte sie mit einem kleinen Lächeln. „Auch wenn ich nicht Ihrer Meinung sein sollte, weiß ich, dass Sie nur das Beste im Sinn haben. Also können Sie mit meiner Unterstützung rechnen.“
„Oh, vielen, vielen Dank, Mrs C., das bedeutet mir wirklich viel“, sagte Grace erleichtert und spürte, wie in ihr Tränen aufstiegen. Schnell schluckte sie sie herunter, umarmte die liebe Frau und nahm entschlossen ihren Koffer vom Bett. „Also gut. Ich gehe jetzt besser los, bevor es dunkel wird.“
„Viel Erfolg, Liebes. Und lassen Sie sich nicht unterkriegen.“
„Miss Virginia, da ist Besuch für Sie“, gab Mrs Green von der offenen Tür in den Salon bekannt.
„Wer ist es denn?“, fragte Virginia, als sie von ihrem Buch hochschaute.
„Mr Fleming, Miss“, erwiderte die Hausdame und ein Hauch von Missmut flog über ihr Gesicht, bevor sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte.
Virginia unterdrückte ein Seufzen. Gab es denn niemanden, der Basil mochte? Ja, es stimmte, manchmal war er ziemlich theatralisch. Andere Male wirkte er einfach plump, dann wieder erinnerte er an eine menschengroße Puppe. Und manchmal war er auch nervig, aber im Prinzip war Basil ein Guter.
„Lassen Sie ihn ruhig herein. Und bitten Sie Mrs Hopkins, einen Kaffee für ihn aufzusetzen.“ Basil schwor, dass niemand so guten Kaffee kochte wie Mrs Hopkins.
„Natürlich, Miss.“
Virginia schüttelte ihren Rock auf, setzte sich aufrecht hin und schlug die Beine anmutig übereinander. So, wie es sich für eine feine Dame gehörte.
„Guten Abend, meine Liebe. Wie geht es dir heute?“, verbeugte sich Basil über ihrer vorgestreckten Hand.
„Sehr gut, vielen Dank. Was führt dich her?“
„Das hier“, sagte er und holte mit einer überzogenen Handbewegung einen Umschlag aus seiner Brusttasche.
„Sind das die Tickets?“
„Ganz genau. Du bist nicht nur schön, sondern auch noch schlau, Liebling.“
Virginia musste ein Lachen unterdrücken. Vielleicht war es das, womit er ihr Herz gewonnen hatte: In seinen Augen war sie wahrhaftig schön, während all die anderen in ihr nur eine leicht verbrauchte, vierundzwanzigjährige Jungfer sahen. Nachdem sie ihren geliebten Emmet verloren hatte, hatte Virginia angenommen, für immer allein zu bleiben. Doch dann tauchte Basil Fleming in ihrem Leben auf und mit ihm der erste Hoffnungsschimmer auf eine Zukunft als Familie.
„Ich habe unsere Reise nach Europa gebucht. In genau acht Wochen geht es los“, erklärte er zufrieden.
„Wunderbar“, sagte Virginia und schaffte es, ein Lächeln hervorzubringen. Als Basil zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, dass Virginia ihn und seine Familie auf die Reise begleiten könnte, war sie hellauf begeistert gewesen. Andere Länder, Sehenswürdigkeiten wie der Louvre, der Eiffelturm, das Kolosseum in Rom: ein Traum, der endlich Realität wurde.
Doch das war vor Christian gewesen. In den letzten Wochen, die der Kleine in ihrer Familie verbracht hatte, war er ihr ganz unbemerkt immer mehr ans Herz gewachsen.
Vergeblich versuchte Virginia, Basil davon zu überzeugen, das Baby mitzunehmen, aber für ihn war das ausgeschlossen.
„Auf dieser Reise will ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit haben. Ich teile dich nicht gern, nicht mal mit einem Kind.“
Diese etwas besitzergreifende Art faszinierte Virginia auf gewisse Weise. Wer würde bei so viel Aufmerksamkeit nicht dahinschmelzen? Und doch störte sie seine Bevormundung manchmal. Wenn er sie wirklich liebte, würde er dann nicht wollen, dass sie glücklich war? Auch wenn das bedeutete, das Kind ihres Bruders großzuziehen?
Basil setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm ihre Hände. „Ich habe eine großartige Idee“, fing er an und wartete, bis sie ihm in die Augen schaute. „Wie wäre es, wenn wir noch vor unserer Abfahrt heiraten würden? Dann könnte unsere Reise auch gleich unsere Flitterwochen sein. Was sagst du?“
Virginias Herz begann auf unangenehme Weise schneller zu schlagen. Auch wenn sie wusste, dass ihre Beziehung letztlich in die Ehe führen würde, hatte sie diesen Schritt nicht so bald erwartet. „Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
Er zog eine Augenbraue hoch und betrachtete sie genauer. „Das scheint ja wahrlich ein Schreck für dich zu sein.“
„Das ist es, ja“, gab Virginia zurück und versuchte erneut zu lächeln, obwohl sie befürchtete, es könnte wie eine Grimasse aussehen.
„Dann gebe ich dir besser noch etwas Bedenkzeit, bevor ich richtig um deine Hand anhalte“, erwiderte Basil locker, zog sie an sich und küsste sie. Es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Freiheit herausnahm, aber dieses Mal löste seine feste Umarmung Beklommenheit in Virginia aus.
„Jetzt muss ich aber auch wieder los, fürchte ich. Ein paar Kollegen warten im Klub auf mich. Pass gut auf unsere Tickets auf, Liebling. Bis bald! Und denk über meinen Vorschlag nach.“
„Aber was ist mit deinem Kaffee?“
„Sag Mrs Hopkins, dass ich es beim nächsten Mal wiedergutmache“, rief er ihr über seine Schulter zu, als er den Salon schon wieder verließ.
Überwältigt ließ sich Virginia auf das Sofa zurückfallen. Es fühlte sich an, als wäre gerade ein Tornado durch den Raum gewirbelt. Mit einem Seufzen nahm sie die Tickets vom Tisch: 1. Klasse, natürlich. Ob er wohl zwei Einzelkabinen gebucht hatte oder gleich eine Doppelkabine, zuversichtlich, dass sie seiner Idee gehorsam Folge leistete?
Vorsicht mit deinen Wünschen, Virginia. Das Ergebnis mag nicht immer nach deinem Sinn ausfallen.
Durch die Fenster des eastonschen Anwesens war Licht zu sehen, wodurch das große Gebäude einladend wirkte. Das beruhigte Grace in diesem Moment sehr. Sie nahm ihre Reisetasche in die andere Hand. Der Weg von der Straßenbahn zum Anwesen kam ihr länger vor als beim letzten Mal, aber das lag gewiss nur am Gewicht ihres Gepäcks.
Am Haus angekommen, stieg sie die Treppen hinauf, stellte ihre Tasche vor sich ab und läutete. Da sie die Familie nicht beim Abendessen stören wollte, war sie absichtlich erst zu einer Uhrzeit gekommen, wo sie das Dinner bereits für beendet hielt.
Die Hausdame, die sie schon von ihrem letzten Besuch kannte, öffnete die Tür. „Guten Abend, Miss Foley. Kommen Sie herein.“
„Danke sehr“, erwiderte Grace, nahm ihre Tasche und betrat das Haus.
Die große, kräftige Frau streckte einen Arm aus und fragte: „Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?“
„Natürlich. Vielen Dank“, sagte Grace und gab ihn ihr.
„Herzlich willkommen in Fairlawn Manor. Ich bin Mrs Green, die Hausdame. Wenn Sie irgendetwas benötigen sollten, zögern Sie nicht, mich darum zu bitten.“ Trotz ihrer netten Worte lächelte sie nicht und schien eher kühl.
Vielleicht war das aber auch Teil ihres Jobs.
„Sie können Ihre Tasche hier stehen lassen. Eines der Mädchen wird sie Ihnen ins Zimmer tragen. Und nun kommen Sie bitte mit, Miss Virginia erwartet Sie.“
Grace nickte und folgte Mrs Green durch das Foyer zu einer großen zweiflügeligen Tür.
„Miss Foley ist nun hier, Miss“, kündigte sie Grace an und ging selbst einen Schritt zur Seite.
Sofort stand Virginia aus ihrem Sessel auf und kam ihr mit einem sehr freundlichen Blick entgegen. „Grace, willkommen! Kommen Sie herein und trinken Sie einen Tee mit mir.“
Verstohlen suchte Grace mit ihren Augen den Raum nach anderen Familienmitgliedern ab. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sonst niemand da war. Es freute sie, noch eine Weile vom Aufeinandertreffen mit dem berüchtigten Mr Easton verschont zu bleiben. Bei jedem Schritt war sie von einem neuen Detail der Raumausstattung entzückt: die taubengrauen Wände, die blauen Sofas und die gemusterten Armsessel, alles passte perfekt zusammen. „Eine Tasse Tee klingt wunderbar, Miss Easton, vielen Dank.“
„O bitte, nennen Sie mich Virginia.“
„Ist das denn in Ordnung für eine Angestellte?“, fragte Grace, die sich auf das Sofa gegenüber von Virginia setzte. Sie musste gerade eine Zeitschrift gelesen haben.
„Sie haben recht, vor den anderen sollten Sie mich mit Miss Easton ansprechen, aber wenn wir unter uns sind, bin ich Virginia“, erklärte Virginia und servierte beiden Tee.
„Ich dachte, bei meiner Ankunft würde ich sicherlich Ihre Eltern kennenlernen“, sagte Grace und nahm die Tasse entgegen.
„Ich wollte Sie nicht gleich an Ihrem ersten Abend überrollen. Nach unserem Tee zeige ich Ihnen das Haus und bringe Sie dann auf Ihr Zimmer. Den Rest der Familie sehen Sie morgen beim Frühstück.“
Etwa eine halbe Stunde später folgte Grace Virginia durchs Haus. Der Rundgang fühlte sich beinahe wie eine Schlossbesichtigung an. Ein Raum übertrumpfte den anderen. Staunend betrachtete Grace stattliche Möbel, atemberaubende Gemälde und Skulpturen und eine Vielzahl von Kristallen und Samtstoffen. Sie konnte es kaum fassen, dass sie wirklich in diesem Palast wohnen würde.
„Und das hier ist das Kinderzimmer“, flüsterte Virginia und hielt sich den gestreckten Zeigefinger vor den Mund. „Wir müssen ganz leise sein, damit wir Christian nicht wecken. Wenn er einmal wach wird, ist es fast unmöglich, ihn wieder zum Schlafen zu bringen.“
Nach diesen Worten öffnete sie leise die Tür. Es fiel gerade genug Licht ins Zimmer, um ein bisschen vom Inneren zu erkennen. An der Wand konnte Grace eine Wiege ausmachen und sonst standen dort noch ein Schaukelstuhl und eine Kommode. Dann schloss Virginia die Tür wieder.
„Ihr Zimmer ist gleich nebenan und mit diesem hier über eine Tür verbunden. Ich lasse sie immer geöffnet, damit ich Christian auch nachts hören kann.“ Wenige Schritte weiter öffnete Virginia eine andere Tür und schaltete das Licht an.
Trotz ihrer Aufregung stellte Grace erfreut fest, dass dieses Haus über elektrischen Strom verfügte.
„Seit Christian bei uns lebt, schlafe ich hier. Mein Zimmer ist zu weit weg, als dass ich ihn hören könnte. Wir werden die Zimmer tauschen, sobald ich das Gefühl habe, dass Christian sich an Sie gewöhnt hat. Es wäre sicher beängstigend für ihn, wenn nachts plötzlich jemand Fremdes nach ihm sieht.“
„Natürlich. Das verstehe ich.“
„Für Sie habe ich vorübergehend dieses Gästezimmer herrichten lassen“, erklärte Virginia und führte Grace zu einem Raum auf der anderen Seite. Auch hier gab es Licht. „Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier.“
Grace sah sich um und war begeistert. Die Wände waren mit einer blauen Velourstapete verkleidet und feminine weiße Möbel sowie ein flauschiger Teppich gaben dem Raum eine wohnliche Note.
„Es ist wirklich reizend, danke sehr.“
Virginia lächelte. „Dann lasse ich Sie jetzt erst einmal in Ruhe ankommen. Wenn Sie irgendetwas brauchen, klingeln Sie einfach und eines der Hausmädchen wird kommen“, erklärte sie und zeigte auf eine fransige Schnur in einer Ecke. „Frühstück gibt es um halb acht, ich komme Sie abholen. Es sollte eigentlich jeder da sein, es sei denn, Vater muss zu einem frühen Termin ins Büro.“
Bei dieser Anmerkung wurde Grace gleich etwas flau im Magen, aber sie schaffte es trotzdem zurückzulächeln. „Danke, Virginia. Ich weiß gar nicht, wie ich mich für Ihre Güte jemals erkenntlich zeigen kann. Nur Ihretwegen habe ich diese Anstellung, tausend Dank noch mal.“
„Gern geschehen. Wenn alles gut läuft, sind Sie diejenige, die mir einen Gefallen tut. Denn nur dank Ihnen kann ich dann beruhigt nach Europa reisen“, entgegnete sie und ging zur Tür. Ein letztes Mal noch drehte sie sich um. „Schön, dass Sie hier sind, Grace.“
Einen Moment später war sie hinter der Tür verschwunden und Grace stand ganz allein in ihrem Zimmer, in diesem riesigen Haus, das ihr neues Zuhause war.