Читать книгу Ein Wagnis aus Liebe - Susan Anne Mason - Страница 6
Prolog MAI 1919
ОглавлениеGrace Abernathy stand an der Reling der SS Olympic und ließ ihren Blick über das ruhige, weite Meer schweifen, während der letzte Sonnenstrahl sich langsam hinter dem Horizont verbarg. Dunkelheit breitete sich über dem Wasser aus, das einzige Licht der Schein der Dampferlaterne. Mit der Sonne war auch jede Spur von Wärme verschwunden und Grace fröstelte trotz ihres neuen Wollmantels, auf dessen Kauf ihre Mutter unbedingt bestanden hatte.
Nach dem zweiten Tag auf See zwang sich Grace, nicht mehr sehnsüchtig nach England, ihrem geliebten Heimatland, zurückzublicken, sondern sich auf das vor ihr liegende Ziel zu konzentrieren: Toronto, Kanada. Dorthin war ihre Schwester vor fünf Jahren ausgewandert. Beim Gedanken daran verspürte Grace eine Mischung aus Aufregung und Angst. In den letzten Jahren war so viel geschehen – in ihrer beider Leben.
Hätte Rose ihr Zuhause im Frühjahr 1914 auch verlassen, wenn sie gewusst hätte, dass die Welt schon bald im Krieg versinken und sich ihr Leben dadurch völlig verändern würde? Als eine große Welle gegen den Schiffsrumpf schlug und einige kalte Wassertropfen aufspritzten, griff Grace noch fester um die Reling. Das aufgewühlte Meer spiegelte die Gefühle wider, die unter der Oberfläche ihres ruhigen Äußeren tobten. Rose brauchte Hilfe und Grace würde sie nicht im Stich lassen.
Sie fingerte in der Manteltasche nach dem kleinen goldenen Kreuz, das Rose ihr vor ihrer Abreise gegeben hatte.
„Trag es ganz nah an deinem Herzen und denk dabei an mich. Irgendwann werden wir uns wiedersehen, das weiß ich.“
Nun, als Kriegswitwe mit einem Baby, flehte sie Grace in ihren Briefen an, nach Kanada zu kommen. Aber Verantwortung für ihre kränkliche Mutter und die Unsicherheit solch einer langen Überfahrt während des Kriegs hatten Grace lange Zeit davon abgehalten, Sussex zu verlassen. Als jedoch die Reisewarnungen aufgehoben wurden, bestand ihre Mutter darauf, dass Grace nach Kanada fuhr und Rose wieder nach Hause holte. Die Hoffnung, ihren ersten Enkelsohn zu sehen, war das Einzige, das sie noch am Leben hielt. Tante Violet hatte dankbarerweise zugestimmt, Mutter für diese Zeit bei sich aufzunehmen. Und so hatte Grace sich schließlich auf den weiten Weg zu ihrer Schwester gemacht.
Der Schrei einer Möwe brachte sie zurück in die Gegenwart. Der Wind in ihrem Gesicht und das Rauschen des Wassers gaben ihr ein Gefühl der Freiheit, das sie nie zuvor gespürt hatte. Freiheit von den Fesseln ihrer Heimatstadt, frei für die Abenteuer, nach denen sie sich schon lange sehnte, und frei – zumindest beinahe – von den Schuldgefühlen, die ihre Seele gefangen hielten. Grace betete, dass sich diese Ketten ein für alle Mal lösen würden, wenn sie ihrer Mutter ihren Enkelsohn nach Hause brächte. Dann könnte sie endlich ihren eigenen Träumen nachgehen. Dann wäre sie frei, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.
Aber zuerst ging es um Rose.
„Na, wie wär’s mit einem Kuss für einen Soldaten, Schätzchen?“, durchschnitt eine raue Stimme die kühle Luft.
Als Grace die gelallten Worte vernahm, bekam sie Gänsehaut. So spät allein auf dem Deck zu sein, verschlimmerte die Situation nur. Denn neben den einfachen Passagieren waren auf dieser Überfahrt auch einige Soldaten an Bord, die nach Kanada zurückkehrten. Obwohl sich die Matrosen sehr darum bemühten, dass sich die zwei Gruppen nicht begegneten, ließen sich manche der Soldaten nicht so einfach einpferchen. Die meisten von ihnen waren respektvolle Männer, doch der Kapitän hatte den Frauen dazu geraten, nach Einbruch der Dunkelheit besser unter Deck zu bleiben.
Grace aber konnte in den muffigen, kleinen Kabinen nicht schlafen und sehnte sich nach der frischen Meeresluft, also war sie entgegen aller Ermahnungen allein an Deck gegangen. Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen und drehte sich zu dem uniformierten Soldaten um. „Meinem Mann würde es gar nicht gefallen, wie Sie mit mir reden, Sir. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“ Dann wandte sie sich wieder dem Wasser zu und hoffte, dass ihre zitternden Knie sie nicht verraten würden.
„Dein Mann, hm? Was für ein Mann würde seiner hübschen Frau erlauben, nachts auf einem Schiff voller Soldaten herumzulaufen? Allein?“
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Grace zuckte zusammen und versuchte, sich wegzudrehen, doch der Uniformierte zog sie näher an sich heran. Sein Atem stank nach Alkohol und Tabak. Das Kinn war von mehrtägigen Bartstoppeln bedeckt, die eine dicke rote Narbe auf der Wange jedoch nicht verdecken konnten.
Graces Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Warum hatte sie ihre Haare nur mit einem Tuch zusammengebunden, statt einen Hut aufzusetzen? So hätte sie wenigstens eine Hutnadel zur Verteidigung gehabt.
„Wenn Ihnen Ihre Hand noch etwas wert ist, nehmen Sie sie jetzt besser von der Dame. Sofort“, hörte Grace plötzlich von einer anderen männlichen Stimme hinter ihr.
Mürrisch drehte sich der Soldat um. „Kümmere dich um deinen eignen Kram, Kumpel. Die junge Dame und ich suchen hier ein wenig Privatsphäre, wenn du verstehst, was ich meine.“
Auch Grace drehte sich nun um und entdeckte einen großen Mann mit Filzhut und Trenchcoat. Völlig ungerührt von dieser Antwort stand er da, seine dunklen Augenbrauen finster zusammengezogen. Unter dem sauber rasierten Kinn war sein ruhiger Pulsschlag zu erkennen.
„Das wage ich stark zu bezweifeln, denn diese junge Dame ist meine Frau“, erwiderte er, ohne zu zögern.
Grace hingegen musste sich bei diesen Worten sehr zusammennehmen, damit ihr die Kinnlade nicht herunterfiel.
Der Soldat kniff die Augen zusammen. „Wenn du ihr Mann bist, wie kommt es, dass ich euch noch nie zusammen gesehen habe? Schon seit wir gestern an Bord gegangen sind, habe ich sie beobachtet. Und bisher war sie immer allein.“
Graces Herz schlug schneller. Seit wir an Bord gegangen sind? Verunsichert zog sie ihren Mantel enger um sich.
Doch der Fremde reagierte sofort. „Ich war in unserer Kabine. Der Wellengang hat mir zu schaffen gemacht. Aber jetzt geht es mir wieder besser“, sagte er, während er näher kam. „Ich schlage vor, Sie gehen besser zu den anderen Soldaten zurück. Und denken Sie gar nicht erst daran, irgendeine andere Frau hier an Bord zu belästigen“, drohte er und machte einen weiteren Schritt, wodurch er nun unmittelbar neben ihnen stand. Er überragte den Soldaten um einiges. „Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Der Soldat betrachtete ihn einen Augenblick lang, als überlegte er, ob er eine Rauferei anfangen sollte. Verärgert spuckte er auf den Boden. „Den Versuch kannst du aber niemandem verbieten“, gab er dann mit einem humorlosen Lachen zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte davon.
Der Fremde stellte sich neben Grace, wandte den Blick aber erst zu ihr, als der Soldat nicht mehr zu sehen war. „Alles in Ordnung, Miss?“, erkundigte er sich freundlich.
„Ja, vielen Dank“, antwortete sie erleichtert. Erst jetzt spürte Grace, wie angespannt sie war. „Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.“
Der junge Mann stand ganz nah bei ihr und seine Augen strahlten Mitgefühl aus.
Danke, Herr, dass du mir einen Beschützer geschickt hast.
„Das war das Geringste, das ich tun konnte … für meine Frau“, sagte er mit einem Zwinkern und Grace hoffte nur, dass er die Hitze in ihren Wangen nicht bemerkte.
„Ich heiße Quinten Aspinall. Und wie es aussieht, sind wir nun Reisegefährten.“
„Grace Abernathy“, stellte auch sie sich vor und klappte ihren Mantelkragen hoch. „Ich hätte hier vermutlich nicht allein hochkommen sollen, aber ich musste einfach aus der Kabine raus. Nicht mehr lange und mir wäre die Decke auf den Kopf gefallen, ganz zu schweigen davon, dass meine Zimmergenossin außerordentlich laut schnarcht.“
„Aus demselben Grund bin auch ich hier oben.“
„Quinten?“, rief nun eine weibliche Stimme hinter ihnen. „Stimmt etwas nicht?“
Jetzt erst erblickte Grace eine junge Frau im Schatten. Stirnrunzelnd kam sie auf die beiden zu. Sie hatte makellose Haut, tiefschwarzes Haar und auffallend blaue Augen. Ganz im Gegenteil zu Grace, die in ihrem schlichten grauen Mantel dastand, trug sie die neueste Mode: ein rotes Cape zu einem passenden rot gefederten Hut.
„Nein, alles in Ordnung, Emmaline.“
Grace blickte Quinten finster an. „Sie haben Ihre Frau zurückgelassen, um mir zu helfen?“
„Oh, das ist nicht mein Mann“, lachte Emmaline herzlich und trat einen Schritt auf ihn zu. „Wir haben uns gestern auf dem Schiff kennengelernt. Meine Begleitung hat sich noch nicht an den wackeligen Untergrund gewöhnt. Und als Quinten mich allein hier oben sah, hat er sich ganz galant als Beschützer angeboten, bis Jonathan sich wieder blicken lässt.“
Grace gab ihr Bestes, um ihr Erstaunen zu verbergen. Die junge Frau reiste in männlicher Begleitung? Wie ungewöhnlich.
„Wie es scheint, werden meine Dienste auch hier benötigt“, erklärte er und zwinkerte Grace zu. „Was halten Sie davon, für diese Fahrt eine Art Reisegemeinschaft zu bilden?“
„Wie meinen Sie das?“, scheute sich Grace nicht, ihre Skepsis zu äußern. Eine allein reisende Frau musste vorsichtig sein.
„In Gemeinschaft ist man immer sicherer als allein. Außerdem hätte ich auch nichts gegen ein paar Freunde an Bord.“
Emmaline lachte erneut. „Sagen Sie besser gleich zu. Er wird Sie sonst so lange bearbeiten, bis Sie nachgeben. Glauben Sie mir, ich spreche da aus Erfahrung.“ Dann streckte sie ihre Hand aus, die in einem feinen Handschuh steckte. „Ich bin Emmaline Moore. Und auch ich bin froh darüber, einen Freund an Bord zu haben.“
„Grace Abernathy“, erwiderte Grace lächelnd und schüttelte die Hand. Emmalines ansteckend gute Laune war wohltuend wie ein Heilmittel. Einen Augenblick lang zögerte Grace, dann bot sie ihre Hand auch Quinten an. „Also gut, Mr Aspinall. Wie es scheint, haben Sie soeben eine neue Freundin gefunden.“
„Freunde also. Und bitte nennen Sie mich doch Quinn.“
Hochspritzendes Wasser nässte das Deck und Quinn führte Grace und Emmaline an eine geschütztere Stelle. Er zeigte zu den Stühlen und fragte: „Warum setzen wir uns nicht und lernen uns ein wenig kennen? Es würde mich sehr interessieren, aus welchem Grund Sie nach Kanada reisen. Und warum Emmaline mit einem rätselhaften männlichen Begleiter unterwegs ist, mit dem sie weder verwandt noch verheiratet ist.“
„Das würde mich auch interessieren“, gestand Grace, die es sich gerade auf einem der Stühle bequem machte.
„Ach, das ist kein großes Geheimnis. Jonathan und ich sind zusammen aufgewachsen, wir sind wie Geschwister“, begann sie, als sie sich anmutig auf einen der anderen Liegestühle niederließ. „Als ich ihm von meinem Plan erzählte, nach Kanada zu fahren und nach meinem Vater zu suchen, bestand er darauf, mich zu begleiten. In getrennten Kabinen, versteht sich.“
„Welch ein Glück“, entgegnete Grace. „Ich wünschte, ich hätte auch jemanden, der mich begleitet.“
„Warum sind Sie denn auf der Reise, Grace?“, erkundigte sich Quinn, dessen eine Gesichtshälfte im Schatten lag.
„Ich besuche meine Schwester. Ihr Mann ist im Krieg gefallen, jetzt ist sie ganz allein mit dem Baby.“ Wieder fingerte Grace an dem goldenen Kreuz herum, das ihr um den Hals hing. „Ich hoffe, dass ich sie überzeugen kann, mit mir zurück nach Hause zu kommen.“
„Das tut mir sehr leid für Ihre Schwester“, bekundete Emmaline ihr Beileid und sah ehrlich betrübt aus. „Dieser Krieg hat unzählige Menschenleben gekostet.“
„Das ist wahr.“
Grace atmete die salzige Luft ein und wandte sich dann an Emmaline. „Sie haben gesagt, dass Sie nach Ihrem Vater suchen?“
„Ja. Das ist eine lange Geschichte …“, erwiderte sie und zog ihr Cape hoch bis ans Kinn. „Ich dachte all die Jahre, dass mein Vater tot sei. Als ich dann hörte, dass er lebt, und zwar in Kanada, musste ich mich einfach auf die Suche nach ihm begeben.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Grace und dachte an die vielen Jahre ohne ihren eigenen Vater. Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, ihn lebend zu finden, wäre sie dafür sogar bis nach China gereist.
„Und was ist mit Ihnen, Quinn?“
Ein plötzlicher Windstoß drohte, seinen Hut wegzufegen. Schnell nahm er ihn ab und behielt ihn fortan auf seinem Schoß. „Meine Geschichte ist ähnlich, auch ich bin auf der Suche nach Familienmitgliedern. Nach Geschwistern, genauer gesagt.“ In seinen Augen lag ein stürmischer Blick und er biss die Zähne zusammen. „Aber mehr möchte ich darüber nicht erzählen.“
Grace befürchtete, dass es sich um eine leidvolle Geschichte handelte. Es schien, als hätte jeder auf dieser Reise seine eigenen Kümmernisse zu tragen. Trotz allem fühlte sie sich in diesem Moment zum ersten Mal nicht mehr allein, seit sie ihr Zuhause verlassen hatte. „Nun, ich bin jedenfalls dankbar, Sie als meine Reisegefährten zu haben. Und ich bete, dass wir in Kanada die Antworten finden, nach denen wir suchen.“
Quinn nickte, auch wenn sein Gesicht düster wirkte. „So Gott will. Ich hoffe nur, dass wir mit dem, was wir herausfinden, auch leben können.“
Grace zitterte und verbarg sich noch tiefer in ihrem Mantel, während sie sich fragte, was hinter dem seltsamen Tonfall seiner Worte steckte. Nur Gott wusste, was ihnen bevorstand. Im Angesicht einer solch unsicheren Zukunft blieb Grace nichts anderes übrig, als auf ihren Glauben zu bauen und zu vertrauen.