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Beim letzten Mal, als Serrailler auf die Insel kam, war er in einem kleinen Flugzeug vom Himmel gefallen. Diesmal näherte er sich über das Meer mit der regulären Fähre, die außer ihm noch zwei Wanderer und einige Transportkisten übersetzte.

Taransay war dunkelbraun und lag gold gestreift in der Sonne. Er hatte vergessen, wie klein das einzige Dorf war, ein Haufen niedriger Häuser aus grauem Stein mit Blick auf das Wasser. Die Straße, die dahinter aus dem Ort führte, zog sich als blasse Linie eine Meile lang hin, bevor sie in einen Feldweg mündete, der sich auf und ab und rundherum durch die Hügel schlängelte, wo es vereinzelte Cottages und zwei Farmen gab. Ansonsten war es leeres, wildes Land. Ein paar Gebäude im Schutz der Sandbuchten waren in Ferienhäuser umgewandelt worden, doch sobald der September ins Land gezogen war, standen sie leer, und die Insulaner igelten sich für einen weiteren Winter ein.

Simon saß an Deck. Der Himmel war leicht bewölkt, und ausnahmsweise wehte nur eine Brise, kein Wind. Wenn man den Rausch stürmischer Winde spüren und sich von ihrer Kraft wegfegen lassen wollte, war Taransay mit den benachbarten Inseln genau das Richtige.

Während sie auf der leichten Dünung in den Hafen glitten, hatte er das eigenartige Gefühl, sein früheres Leben wieder zu betreten, als wäre er damals ein anderer Mensch gewesen. Fast sechs Jahre war es her, es hätten auch sechshundert sein können. Er war jung gewesen. Fit, gesund, unversehrt, aber jetzt war er nicht unversehrt, obwohl die physischen Auswirkungen nach dem Verlust eines Arms aus Fleisch und Knochen und dem Ersatz durch eine Prothese viel leichter zu verkraften gewesen waren als die psychischen. Der Verlust seines Arms verfolgte ihn. Fast jede Nacht träumte Simon, der Arm wäre noch ein fester Bestandteil seines Körpers. Er fühlte sich unvollständig, wenn sich auch Kraft und Geschicklichkeit verbesserten und er sich daran gewöhnte, neue Wege für Gewohntes zu suchen.

Möwen rauften sich zu einem lauten, gefräßigen Pack hinter der Fähre zusammen, als sie einbog und gemächlich zum Liegeplatz am Kai tuckerte. Simon stand auf, streckte sich und schaute sich um.

Ein großer Mann. Eine nur etwas kleinere Frau. Und ein kleiner Junge. Sie standen zusammen. Die Männer aus den Lagerhäusern und dem Pub waren wohl schon unten, um mit dem Entladen anzufangen, sobald die Bright Lass vertäut war, die Gangway herabgelassen wurde und die Passagiere an Land gehen konnten. Simon wollte auf den Kai springen. Er wollte auch umkehren und sich unter Deck verkriechen, bis die Fähre bereit zur Rückfahrt war.

Douglas hatte ihn entdeckt. Kirsty winkte. Der kleine Junge stand da, beide Hände in den Taschen seiner kurzen Hose. Beobachtete.

Douglas rührte sich zuerst, griff nach Simons Reisetasche und klopfte ihm auf den Rücken. Was immer in der Vergangenheit zwischen ihnen geschehen war, gehörte tatsächlich der Vergangenheit an, und als Kirsty ihn fest umarmte, war es natürlich, kam von Herzen, vor allem aber war es freundschaftlich und deutete nicht auf das hin, was vor einigen Jahren zwischen ihnen gewesen war. Und Douglas störte es offenbar kein bisschen.

»Das ist Robbie.«

Der kleine Junge hatte schlickbraunes Haar, graue Augen wie ein Seehund und viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er streckte die Hand aus, und Simon schüttelte sie feierlich, wobei ihm der prüfende Blick des Jungen nicht entging.

»Kann ich deinen bionischen Arm mal sehen?«, fragte er.

»Robbie! Was habe ich dir gesagt, bevor wir aus dem Haus gegangen sind?«

»Ihn nicht nach seinem bionischen Arm zu fragen, ich weiß, aber es ist doch so spannend.«

»Ich werde ihn dir zeigen. Nur jetzt nicht.«

»Warum nicht jetzt?«

»Weil mein Arm und ich nach einer sehr langen Reise im Auto, zwei Zügen und einer Fähre müde sind.«

»Okay.« Robbie stieg auf den Rücksitz des Land Rovers. »Aber du zeigst ihn mir morgen, ja, wenn dein bionischer Arm ein bisschen ausgeruht ist? Versprochen?«

»Versprochen.«

Leise lächelnd schnallte Robbie sich an.

»Wenn es dir recht ist, noch zum Tee zu bleiben, bringe ich dich nachher zu deiner Unterkunft«, sagte Douglas, bog mit dem Rover in den Weg, der steil bergauf führte. »Oder würdest du dort lieber erst deine Sachen abstellen?«

»Das würde er lieber nicht, er würde viel lieber jetzt mit zu uns kommen.«

»Robbie, benimm dich!«

»Er hat doch recht. Ich würde gern zuerst zu euch kommen.«

Der Junge hatte den Blick nicht von ihm abgewandt. Er schaute auf Simons linken Arm und die Hand, die auf dem Sitz zwischen ihnen lag.

»Sieht das für dich irgendwie anders aus?«, fragte Douglas und deutete auf die Landschaft.

»Hat sich hier in tausend Jahren jemals etwas verändert?«

»Oh ja – vor tausend Jahren gab es mehr Menschen als Schafe und dementsprechend viele Farmen.«

»Alles noch genauso wie beim letzten Mal, als ich hier war.«

»Du hast unser Haus noch nicht gesehen.«

Auch das Haus sah unverändert aus – von vorn ein niedriger, cremefarbener Bungalow mit einem Feld ringsum und den Hügeln dahinter. Douglas hatte damals allein hier gewohnt. Doch als sie aus dem Wagen stiegen und um das Haus gingen, erblickte Simon dahinter einen Anbau mit einer Dachgaube und Blick über das Meer.

»Im letzten Monat sind wir endlich damit fertig geworden. Du weißt ja, wie es hier zugeht.«

»Siehst du, da? Kuck mal, Mr Simon, da oben – das ist mein Fenster. Von meinem eigenen Zimmer.«

»Wow, Robbie, was für eine Aussicht! Du könntest Schmuggler und Spione ebenso entdecken wie Vögel und Seehunde.«

Robbie riss seine grauen Augen auf. »Schmuggler?«

»Dafür brauchst du natürlich ein gutes Fernglas.«

»Och, das hab ich.«

»Und ein Teleskop wäre nützlich.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Das müsste ich mir wünschen. Jedenfalls ist es ein guter Plan. Wenn du willst, kannst du mein Assistent sein.«

»Ach, Robbie, das wäre schön – aber du brauchst jemanden, der ständig zur Stelle ist, und ich muss in ein paar Wochen wieder zurück. Ich wäre dir keine große Hilfe.«

»Trotzdem, solange du hier bist. Wir könnten …«

»Du könntest die Schuhe ausziehen und Hände waschen vor dem Abendessen, das könntest du tun, Robbie Boyd. Los … ab mit dir.« Douglas schob einen Sack Kies beiseite, der vor der Tür abgestellt worden war.

»Du hast einen tollen Jungen, Kirsty.«

Sie lächelte. »Ja. Und im Frühling kommt das Nächste, aber wir haben es ihm noch nicht gesagt. Wir werden ihn gut vorbereiten müssen – er hat hier gern das Zepter in der Hand, unser Robbie.«

Simon ging hinter ihr ins Haus. Kirsty. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war noch immer die große, freundliche, sorglose junge Frau, die er vor sechs Jahren kennengelernt hatte, ein kurzes Techtelmechtel, woraufhin er Douglas’ Kinnhaken hatte einstecken müssen für den Schmerz, den er erlitten hatte. Doch sie war es nicht. Sie war Ehefrau, Mutter, ein tatkräftiges Mitglied der kleinen Gemeinschaft, die zusammenhielt, besonders in den langen, harten Wintermonaten. Kirsty war nicht mehr so frei, ungebunden und sorglos, obwohl sie noch immer freundlich war, noch immer ungezähmtes Haar hatte.

Er wünschte sich nicht, sie Douglas endgültig weggenommen zu haben. Das ganze Jahr über auf Taransay zu leben war nichts für ihn, die Enge und die Weltabgewandtheit der Insel würden ihn verrückt machen. Er wünschte ihnen alles Gute und war froh, dass sie ihre Kinder hier großzogen, die Gegend brauchte all das junge Blut, das sie bekommen konnte. Aber er beneidete sie auch. Ein Zuhause. Miteinander. Der kleine Robbie. Bald ein zweites Kind. Ein beständiges, ruhiges Leben.

Er zog die Stiefel aus, bevor er Kirstys behagliche neue Küche betrat, mit dem Meer vor dem Fenster und dem Herd, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. Selbst wenn auf Taransay die Sonne schien, brauchte man noch Öfen und Holzfeuer.

»Ich sitze neben dir, Mr Simon.«

»Ja, Master Robbie, und du achtest auf deine Tischmanieren, und keine frechen Fragen, sonst wanderst du ab ins Bett.«

»Kannst du mit deiner bionischen Hand die Gabel halten?«

»Robbie …«

»Lass mal, Kirsty, schon gut. Ja, kann ich – ich kann viele erstaunliche Sachen damit machen, aber in ein paar Monaten bekomme ich eine noch tollere, und dann werde ich in der Lage sein, Knöpfe anzunähen und mich hinter dem Ohr zu kratzen.«

Die Prothese war vorerst einigermaßen bequem. Simon hatte monatelange Physiotherapie hinter sich, und es würden weitere Sitzungen folgen, sowie Unterweisungen, wie die hochmoderne neue zu benutzen war. Mit der Zeit würde er sich vollständig daran gewöhnt haben, hatte man ihm gesagt. Sie würde fast so vertraut, ihr Gebrauch so instinktiv sein wie der rechte Arm. Fast. Man hatte ihm noch etwas gesagt. »Dabei geht es nicht nur um die Mechanik Ihres Arms«, hatte Alex, der Physiotherapeut gesagt. »Oder um Ihr eigentliches Hirntraining, um mit all den kleinen Unterschieden zwischen Ihrem eigenen Arm und dem hier zurechtzukommen – was am Ende der Fall sein wird. Es geht um mentale Haltung. Akzeptanz.«

»Positives Denken?«

»Eher darum, nicht negativ zu denken. Das wird kommen, Simon.«

Und er wusste, dass der Prozess begonnen hatte. Physisch hatte er gut angefangen. Die psychologische Herausforderung war härter, wie Alex vorausgesehen hatte. Er hatte mit genügend Veteranen, Armlosen, Beinlosen und allen möglichen Kombinationen gearbeitet.

»Der Körper ist willig. Mit dem kann man viel leichter arbeiten als mit dem Verstand, der sich oft verweigert. Und das ist nicht mein Fachgebiet.«

Nur zu gern war Simon bereit gewesen, möglichst viele Stunden mit Alex zu arbeiten. Er hatte trainiert, sich angestrengt, war verwundert über seine Fortschritte. Doch wenn es um seine mentale Einstellung ging, hatte er sich Terminen mit polizeiinternen Beratern und solchen aus dem Reha-Team widersetzt, wohl wissend, dass er damit falschlag.

Sie aßen gegrillten Fisch aus dem Tagesfang, Pommes frites und Bohnen aus Kirstys reichhaltigem Gemüsegarten. Auf den Inseln war nur schwer an frisches Obst und Gemüse heranzukommen, wenn man es nicht selbst anbaute – und das war nicht einfach bei einem kurzen Sommer, schwierigen Bodenverhältnissen und einem fast ständig vom Meer her blasenden Wind.

Robbie wurde sehr still, sobald der Apfelkuchen gegessen und der Orkney-Käse und die Haferplätzchen in Angriff genommen waren. Er rutschte ein Stück auf seinem Stuhl nach unten und regte sich nicht.

»Na schön, junger Mann, ich kenne deine Tricks. Wenn du dich ruhig verhältst, wirst du unsichtbar. Noch zehn Minuten. Simon, möchtest du eine Tasse Kaffee und einen Dram?«

Die zehn Minuten verstrichen, und Kirsty zeigte auf ihren Sohn. Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und kam um den Tisch, um einen letzten faszinierten Blick auf Simons Arm zu werfen.

»Hör zu, Robbie. Komm doch einfach morgen nach der Schule zu mir rüber, dann zeige ich ihn dir richtig, und wie er funktioniert – das ganze Drum und Dran? Wär gut, wenn du es verstehst.«

Der Junge zögerte, dann umarmte er Simon, statt ihm die Hand zu schütteln, seine Berührung kurz und sanft wie die einer Katze, und sauste hinauf ins Bett.

Phantomschmerzen

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