Читать книгу Phantomschmerzen - Susan Hill - Страница 9
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ОглавлениеIm Garten zu sitzen war ihm zu warm gewesen, selbst im Schatten der Bäume, aber als er in die Straße einbog, sah Richard Serrailler auf der Anzeige am Armaturenbrett, dass die Außentemperatur 26 Grad betrug. Um zwei Uhr nachmittags waren es noch 30 Grad gewesen. Mit etwas Glück hatte es sich weiter abgekühlt, bis er zum Café kam. Im Westen zogen sich ein paar Wolken zusammen, die auf ein Gewitter und einen Wetterumschwung hindeuteten.
Er würde sich seine Times abholen, wie üblich ein kaltes Bier trinken, danach ein zweites und dann entscheiden, ob er die plat du jour essen oder nach Hause fahren und auf Delphine warten sollte, bevor er mit ihr ein spätes Abendessen auf der Terrasse einnehmen würde.
Sie schickte ein Lächeln in seine Richtung, als er ankam, doch es war gerammelt voll, und sie trug Tabletts mit Getränken und Gerichten rein und raus, wobei sie den Leuten an den Tischen zu beiden Seiten einen kurzen Gruß und schnell ein paar Sätze zuwarf. Sie würde jetzt nur wenig Zeit für ihn haben. Ganz hinten war ein Platz, direkt außerhalb der Markise. Er nickte ein paar Leuten zu, schüttelte einem Mann die Hand, beugte sich dann aber über seine Zeitung. Er war gerne freundlich. Verbindlich. Er mochte die ortsansässigen Franzosen, die alten Männer, die abends unter den Rosskastanien Boule spielten und donnerstags und freitags am Nachmittag Domino an alten Steintischen. Sein Französisch war ganz gut. Als junger Mann hatte er ein Jahr in dem Land verbracht und seitdem fast jedes Jahr hier Urlaub gemacht. Dann war er hierhergezogen, hatte ein kleines Bauernhaus gemietet. Er pflegte nachbarschaftlichen Kontakt mit den anderen, die in seinem Dörfchen wohnten, ausnahmslos Franzosen. Sie halfen ihm, wenn er es brauchte, er revanchierte sich, für gewöhnlich mit medizinischem Rat – es hatte nicht lange gedauert, bis sie seinen Beruf herausgefunden hatten.
Den Zugezogenen ging er aus dem Weg. Er mochte ihr exklusives Clubverhalten nicht, ihre Entschiedenheit, noch lauter englisch zu sprechen als zu Hause, ihre übertriebene Vertrautheit mit dem Inhaber des Cafés und den Ladenbesitzern, die Art, wie sie lauthals riefen »Delphine! Dasselbe noch einmal, s’il vous plait«.
Sie hatten versucht, ihn einzubeziehen, als er für ein paar Wochen hier gewesen war, hatten zur Kaffeezeit einen Stuhl herausgezogen, damit er sich an ihren langen Tisch zu ihnen gesellen konnte. Er lächelte immer und setzte sich dann allein an einen anderen Tisch. Sie fragten nicht mehr, schauten nur manchmal zu ihm hinüber und redeten über ihn, sobald er gegangen war, das wusste er.
Delphine war fünfundzwanzig. Er war vierundsiebzig. An manchen Tagen schmeichelte er sich damit, dass er zehn Jahre jünger aussah.
Das eiskalte Bier wurde vor ihn hingestellt, nicht von Delphine, sondern von dem neuen jungen Kellner Olivier. Auf Andeutungen, dass sie Richard bevorzuge und ihn außer der Reihe bediene, reagierte sie sensibel und gab seine Bestellung deshalb sehr oft an ihren Assistenten weiter.
Nachdem er sich bei seinen Besuchen im Café mit ihr unterhalten hatte, wenn es ruhiger zuging, hatte er erfahren, dass sie drei Jahre in London verbracht hatte, fließend Englisch sprach, obwohl sie so tat, als könnte sie es nicht, und ebenso intelligent und humorvoll wie gut aussehend war.
Gelegentlich fragte er sich, ob sie eines Morgens beim Aufwachen in ihm den alten Mann sehen würde, der er tatsächlich war, und verschwinden würde, um später an der Seite eines hübschen jungen Franzosen wieder aufzutauchen. Er war nicht in sie verliebt, aber er genoss es, mit ihr zusammen zu sein, ihre Unterhaltung und ihre ungezwungene Zuneigung. Ihre Jugend. Ein angenehmes Arrangement, das schon sechs Monate anhielt. Sie verdiente relativ wenig, bekam aber gutes Trinkgeld und erwartete nichts von ihm. Sie war mit Sicherheit eine bessere Gesellschaft als seine Familie. Cat war mit ihrem neuen Mann beschäftigt, ihren Kindern und ihrer Arbeit, Simon hatte lange keinen Kontakt zu ihm aufgenommen. Simon. Ob er sich erholt hatte? War er aus dem Polizeidienst ausgeschieden? Wo war er und mit wem? Richard hätte abgestritten, sich jemals diese Fragen zu stellen. Aber wenn er allein war und zu viel Zeit zur Verfügung hatte, dachte er an seinen Sohn, so wie an seine Enkelkinder. Und an Judith, seine Ex-Frau. An Judith mehr als an alle anderen.
Delphine brachte ihm sein zweites Bier, nachdem nun viele Gäste bedient waren.
»Es gibt Magret, Salat und Pommes frites. Tut mir leid, chéri.«
Richard mochte keine Ente, das wichtigste Standbein eines jeden Restaurants in diesem Teil Frankreichs.
Er verzog das Gesicht.
»Das Steak mit Pommes frites ist gut, die Langusten sehen sehr gut aus.«
»Danke, aber ich trinke das hier, fahre nach Hause und warte auf dich. Das würde mir gefallen … ein spätes Abendessen an einem warmen Abend.« Er berührte ihre Hand.
»Ich bin nicht vor halb elf, elf hier fertig, okay?«
»Klar. Ich möchte mir eine Sendung über Pathologie ansehen.«
Jetzt war es an Delphine, das Gesicht zu verziehen, bevor sie zu einem Tisch mit Neuankömmlingen eilte. Ihr dunkles Haar war ordentlich zurückgekämmt und mit einer Spange hochgesteckt, sodass ihr langer Hals zu sehen war. Sie trug schwarze Leggins und ein lockeres Oberteil, mit dem sie den Rest ihrer Figur zur Geltung brachte. Sie war schlank. Sie war wundervoll. Er trank noch ein wenig Bier und wandte sich wieder den englischen Nachrichten zu. Alles schien sehr weit weg und hatte immer weniger mit seinem Leben hier zu tun. Mit seinem überraschend sesshaften und zufriedenstellenden Leben.
Er saß im Garten, trank noch ein kaltes Bier, beobachtete die Motten, die gegen die Lampe flatterten, und kurz darauf schlief er im Liegestuhl ein. Als er aufwachte, war es kurz vor Mitternacht, und Delphine war nicht zu Hause. Er ging hinein, warf einen Blick auf das Handy, schaute nach, ob ihr Moped im Unterstand war. Nichts. Er rief im Café an, bekam aber nur den Anrufbeantworter.
Sie saß neben ihrem Moped am Straßenrand, als er sie fand, eine Meile vom Haus entfernt. Seine Scheinwerfer holten sie aus der Finsternis. Sie beugte sich vor, den Kopf auf den Knien.
Das Vorderrad des Mopeds war verbogen, ein Schutzblech fehlte, und es lag auf der Seite. Er konnte es bis an die Hecke ziehen, bevor er Delphine beim Einsteigen in seinen Wagen half. Ihr Gesicht und ihre Hände waren blutüberströmt, aber sie war bei Bewusstsein, und soweit er es im Halbdunkel erkennen konnte, hatte sie weder Knochenbrüche davongetragen noch das Bewusstsein verloren. Das Blut kam aus ihrer Nase, und eine Hand hatte tiefe Schnitte.
»Ein Auto ist mir mit hoher Geschwindigkeit auf der falschen Straßenseite entgegengekommen.«
»Idiot.«
»Ein gelbes Auto.«
»Hast du es erkannt?«
»Nicht so richtig. Es war wie der Blitz vorbei, und ich war am Straßenrand, und weg war er.«
»Idiot und Schweinehund. Aber erst mal werde ich dich gründlich untersuchen. Kann sein, dass du ins Krankenhaus musst.«
»Nein, nein, mir geht’s gut.«
Ihre Nase war geschwollen und sehr weich, jedoch nicht gebrochen. Im Haus wusch Richard ihr das Gesicht und die Arme und verband die Wunde, die so tief war, dass er glaubte, sie müsste wohl am nächsten Tag genäht werden, doch er sagte vorerst nichts, verabreichte ihr nur Schmerztabletten und brachte sie in dem Zimmer zu Bett, das zur Seite des Hauses hinausging und von Bäumen überschattet wurde.
»Oh, was ist mit dem Moped?«
»Darum kümmere ich mich morgen früh. Jetzt leg dich hin und versuch zu schlafen, sag mir Bescheid, wenn die Schmerzen schlimmer werden oder starke Kopfschmerzen auftreten. So ein blöder Fahrer. Wenn man von England aus in ein Land mit Rechtsverkehr fährt, lässt man nicht sein Hirn zu Hause. Man muss es sich die ganze Zeit ins Gedächtnis rufen – rechts fahren, rechts fahren. Er muss die Kurve an den Wertstofftonnen viel zu schnell genommen haben.«
»Ja.« Delphine hatte ihr Gesicht abgewandt. »Danke«, sagte sie.
Da war etwas in ihrer Stimme. Er setzte sich auf das Bett und ergriff ihre Hand.
»Was ist los?«
»Nichts, nichts, keine Sorge. Ich steh nur ein bisschen unter Schock, glaub ich.«
»Natürlich – aber das ist es nicht, oder?«
»Doch, doch. Sonst nichts. Wenn ich geschlafen hab, geht es mir wieder gut.«
»Du wirst Wundschmerz haben, und deine Nase wird sehr wehtun, dein Arm ebenso. Geh nicht davon aus, dass du aufstehen und zur Arbeit gehen kannst, Delphine.«
»Mir wird es …«
»Nein. Dir wird es nicht gut gehen. Spürst du schon, dass der Schmerz nachlässt?«
»Ja, danke, es ist schon viel besser. Danke, mon chéri. Ich glaube, du warst ein sehr guter Arzt.«
Leise machte er die Tür zu und schenkte sich ein Glas Wein ein. Draußen war es noch sehr warm. Warm. Still. Die Dunkelheit voll flatternder, gespenstisch weißer Motten. Eine Schleiereule. Nachtschwalben zwitscherten.
Er war nicht müde, dachte darüber nach, was Delphine ihm über den Unfall gesagt hatte, und versuchte, sich ein Bild davon zu machen. Er fühlte sich unwohl.
Sein Handy summte, und das Display wurde hell.
Hi Dad.
Cat, in England war es eine Stunde früher.
Sind gerade mit dem Abendessen fertig. Hannah hat vor einer Stunde angerufen, um mitzuteilen, dass sie eine Rolle im neuen Musical hat und die Hauptrolle mit zwei anderen Mädchen teilt. Sie ist außer sich vor Aufregung. Sehe, dass bei euch eine Hitzewelle herrscht. Hier nicht. Hoffe, dir geht’s gut. C.
Er las die Nachricht zwei Mal durch. Cat, ihre Familie, das Bauernhaus. Lafferton. Auf einem anderen Planeten. Zurückzukehren kam nicht in Betracht. Ihm gefiel sein Leben hier. Er hatte Delphine. Aber irgendwie fühlte er sich nicht zugehörig, als wären sein wahres Selbst und sein wahres Dasein noch so wie früher, zu Hause in Hallam House, zuerst mit Meriel, dann mit Judith.
Er hatte oft versucht, sich vorzustellen, wieder zu Hause zu leben. Das Haus war noch da, vermietet, wäre aber innerhalb von zwei Monaten wieder sein Eigen, falls er zurückkehren wollte. Die Familie war dort. Nichts hatte sich verändert, bis auf die normale Tatsache, dass das Leben weiterging, Menschen aufwuchsen, älter wurden, heirateten, starben. Neue Häuser wurden errichtet und alte Gebäude abgerissen. Neue Straßen wurden gebaut und veränderten eingefahrene Reisestrecken. Nicht mehr. Oder weniger.
Er konnte nicht zurückkehren. Vielleicht in ein, zwei Jahren, nicht jetzt – obwohl … er verdrängte die Erinnerung, sobald sie aufzutauchen drohte –, nicht, nachdem er beinahe wegen Vergewaltigung unter Anklage gestellt worden wäre. Beinahe. Weil er Shelley natürlich nicht vergewaltigt hatte, sie hatte sich ihm aufgedrängt, als er schwach und dumm gewesen war, in ein paar vernebelten Momenten. Das war’s. Der Rest war eine aufgeblasene Anklage und Rachsucht gewesen. Das wusste er. Auch andere wussten es. Trotzdem wurde er noch immer als »Vergewaltiger« geteert und gefedert von allen, die es wussten, und die Erinnerung hielt lange an. Eine falsche zwar, aber sie blieb.
Er hatte keine Ahnung, ob Shelley und ihr Mann noch immer in Lafferton wohnten, fragte sich jedoch hin und wieder, ob er es herausfinden sollte. Wenn sie weggezogen waren, könnte er ab und zu nach Hause fahren, obwohl er bezweifelte, jemals wieder in Lafferton leben zu wollen.
Bevor er ins Bett ging, schaute er zu Delphine hinein. Sie schlief, ihr Gesicht war geschwollen und rot, sie atmete mühsam durch die verstopfte Nase. Ihr verletzter Arm lag auf der Bettdecke, und ein wenig Blut drang noch immer durch den Verband. Sanft berührte er ihre Hand und hatte das Gefühl, ein verletztes Kind zu beschützen. Sie regte sich, wurde aber nicht wach.
Er legte sich eine Weile hin, bestürzt über die Gefühle, die ihr Unfall und der Anblick gerade in ihm aufgewühlt hatten, große Zärtlichkeit und …
Und er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es etwas Ungewohntes war, neu und verstörend.