Читать книгу Phantomschmerzen - Susan Hill - Страница 8
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ОглавлениеSie trug ein Kopftuch, und nur sehr wenige Frauen trugen heutzutage Kopftücher, bis auf die Queen – das ging dem diensthabenden Polizisten durch den Kopf, als die Frau aufs Revier kam.
»Guten Morgen. Sie sind Mrs …«
»Still. Marion Still.«
Ja.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs Still?«
»Das wissen Sie ganz genau, Sergeant. Nichts hat sich geändert. Ich will den Detective Chief Superintendent sprechen.«
»Tut mir leid, aber da haben Sie kein Glück, Mrs Still – der Super ist längere Zeit im Urlaub.«
»Das haben Sie mir beim letzten Mal auch schon gesagt. Sie oder Ihr Kollege.«
»Na ja, es hat auch gestimmt, und es stimmt nach wie vor.«
»Er ist immer noch im Urlaub?«
»Er ist krankgeschrieben. Und ich habe keine Ahnung, wann er wiederkommt, aber morgen mit Sicherheit nicht. Ich kann nur nachsehen, ob jemand von der Kriminalpolizei gerade Zeit hat und runterkommen kann …«
Die Frau brach in Tränen aus. Angesichts ihres leicht nach vorn gebeugten Körpers, als trüge sie eine schwere Last, und ihres grauen Gesichts mit den tiefen Sorgenfalten verspürte der Sergeant echtes Mitleid. Er wusste, warum sie hier war. Sie hatte schon seit geraumer Zeit versucht, den Super persönlich zu sprechen.
»Mrs Still … Sie können von mir aus eine Woche hier sitzen, das stört mich nicht, aber Sie vergeuden Ihre Zeit, weil wir nicht wissen, wann der Super wieder hier ist. Wenn Sie mit niemand anderem sprechen wollen …«
»Es muss ein Ranghöherer sein, und Mr Serrailler ist der Beste, oder nicht?«
Das Telefon klingelte, und zwei Uniformierte kamen durch die Türen, zwischen sich einen jungen Mann in Handschellen. Mrs Still trat einen Schritt vom Schalter zurück, machte aber keine Anstalten zu gehen.
Dann fuhr der Wagen des Chief Constable draußen vor.
Es gab drei Möglichkeiten, mit Menschen wie Mrs Still umzugehen, dachte Kieron. Er könnte den Rest seiner Tage damit verbringen, ihr aus dem Weg zu gehen. Er könnte sie abwimmeln und zu jemand anderem schicken, mit der Anweisung, nicht allzu viel Zeit mit ihr zu verschwenden.
Oder er könnte sie selbst empfangen.
Am darauffolgenden Mittwochnachmittag führte seine Sekretärin Marion Still in sein Büro im Polizeipräsidium Bevham, zu dem sie in einem bequemen, aber unauffälligen Dienstwagen gebracht worden war. Kieron wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass man ihr die größtmögliche Aufmerksamkeit widmete und eine ordentliche Anhörung gewährte. Er hatte die Akten mit nach Hause genommen und sorgfältig gelesen. Außerdem hatte er jede Menge Presseberichte über den Fall aufgerufen, von dem Tag an, als Kimberley verschwunden war, bis zum letzten Mal, als die Presse sich auf sie bezog. Wie üblich waren die Artikel in den Medien schon ein paar Monate nach dem Ereignis immer weniger geworden. Offiziell galt Kimberley Still als vermisst, aber das waren Hunderte andere auch, und die Presse konnte nicht eine von ihnen auf der Titelseite halten. Allerdings wurde über die Fälle vermisster Kinder normalerweise auch weiterhin berichtet.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie. Es gab Tee. Es gab Kaffee. Und Schokoladenkekse.
Kieron saß nicht hinter seinem Schreibtisch, sondern auf einem Stuhl neben ihr.
Arme Frau. Etwas anderes fiel einem zu ihr nicht ein, wie immer bei Menschen, die jahrelanges Elend hinter sich hatten, Verlust, der nicht einmal ein Verlust war, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die jeden Morgen mit Magenschmerzen aufgewacht waren. Er hatte den Ausdruck in den Augen von Menschen wie Marion Still oft genug gesehen. Jeder Polizist, der länger als zwei Jahre dabei war, kannte diese eigenartige Leblosigkeit und Trauer, die jeden Funken von Leben und Energie überschatteten.
»Mrs Still, ich habe mich in diesem Fall auf den neuesten Stand gebracht. Wie Sie ja wissen, war ich nicht bei der hiesigen Polizei, als Kimberley verschwand, daher habe ich erst mal alles im Detail durchlesen müssen – was auch gut so ist. Ich habe einen unvoreingenommenen Blick darauf werfen und intensiv darüber nachdenken können. Vielleicht kann ich Ihnen jetzt ein paar neue Fragen stellen. Das hoffe ich jedenfalls.«
»Soll das heißen, Sie fangen von vorn an, versuchen herauszufinden, was passiert ist, wohin er sie gebracht hat, wo er … wo sie ist? Ich weiß, wer ›er‹ ist, Mr Bright, das wissen wir alle. Nur scheint das niemanden zu interessieren.«
»Natürlich interessiert uns das. Ich werde nicht so tun, als könnte ich das hier lösen, Mrs Still. Das müssen Sie bitte verstehen. Jede Menge Leute waren mit der Suche nach Kimberley beschäftigt, haben versucht herauszufinden, was ihr zugestoßen ist. Über einen beachtlichen Zeitraum hinweg wurden sehr viele Arbeitsstunden investiert. Niemand hat leichtfertig aufgegeben, das kann ich Ihnen versichern.«
»Das weiß ich. Und ob. Ich muss nicht noch einmal sagen, wie dankbar ich bin, oder?«
»Natürlich nicht. Es war, es ist Ihr Recht. Es war Kimberley und Ihnen geschuldet, dass wir alle getan haben, was in unserer Macht stand, und noch mehr. Damit will ich nur sagen, selbst wenn es eine neue Ermittlung gäbe, kann ich kein Ergebnis versprechen. Wie auch? Neue Beweise gibt es nicht – jedenfalls, soweit ich weiß.«
Sie stellte ihre Tasse ab und schaute ihn direkt an, und einen Moment lang sah er etwas in ihren Augen aufblitzen. Verzweiflung und – Entschlossenheit? Nein. Überzeugung. Eine schreckliche, felsenfeste Überzeugung. Er hatte so etwas gelegentlich schon zuvor gesehen, bei Wahnsinnigen und Besessenen.
»Hören Sie zu, er war es. Lee Russon. Ich kann es kaum ertragen, seinen Namen in den Mund zu nehmen, das ist wie ein fauliger Geschmack, den ich am liebsten ausspucken möchte. Er war es. Ich glaube, er hat sie irgendwie in sein Auto geholt und ist mit ihr weggefahren, und dann … hat er was auch immer getan. Und ich weiß, dass er lebenslang im Gefängnis sitzt, nur nicht für meine Kimberley. Für die anderen. Diese armen Mädchen. Sie sagen, es gibt keine neuen Beweise, aber es gibt Beweise … die gab es schon immer.«
»Ja. Doch als diese Beweise – und die waren wirklich nicht sehr stichhaltig – der Staatsanwaltschaft vorgelegt wurden, die letztendlich entscheidet, fand man sie zu dünn. Sie rieten davon ab, Russon dafür ebenso wie für die anderen Morde vor Gericht zu stellen, weil der Fall so schwach war, dass man ihn abweisen würde. Und an diesem Punkt hätte Russon beantragen können, gegen die anderen Urteile Berufung einzulegen, weil sie nicht gesichert seien, und das hätte – unwahrscheinlich, aber möglich – dazu führen können, dass die Verfahren noch einmal neu aufgerollt und Russon auf freien Fuß gesetzt worden wäre.«
»Er hat es getan.«
»Ich will Ihnen gern zustimmen, nachdem ich alles gelesen habe. Und der leitende Ermittler damals …«
»Inspector Wilkins.«
»Ja … er sagte, die Polizei habe nach keinem anderen Verdächtigen gesucht. Man ging davon aus, dass Kimberley ermordet wurde, womöglich von Lee Russon. Aber ohne Kimberleys Leiche oder auch nur die leiseste Spur von ihr war Russon …«
»Der gelogen und gelogen und gelogen hat.«
»Der geleugnet hat, überhaupt etwas damit zu tun zu haben – dass er jemals in Lafferton selbst oder in der Umgebung war, schon gar nicht an dem besagten Tag – und somit kein Hauptverfahren zu erwarten hatte.«
»Ich glaube nicht, dass sie ihn richtig mürbe gemacht haben. Wenn jemand schuldig ist, kann man ihn auch kleinkriegen – man kann ihn am Ende zu einem Geständnis zwingen.«
Das stimmte nicht immer, dachte der Chief. Aber es hatte keinen Sinn, Mrs Still das zu sagen, für die feststand, dass Russon schuldig war und jemand ihn letztendlich würde brechen können.