Читать книгу Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak - Страница 21
Nur eine schlimme Erkältung
ОглавлениеEs schien nur eine schlimme Erkältung zu sein. »Mach dir nicht so viele Sorgen, Valerie,« schimpfte ihr Mann. »Kinder kriegen laufend Erkältungen. Du überreagierst ständig.« Dem vierjährigen Matthis ging es allerdings miserabel. Er war so verschleimt, dass ihm das Atmen schwerfiel, er konnte nicht schlafen, hatte Schmerzen und war reizbar. »Schick ihn einfach in den Kindergarten. Das ist keine große Sache – mach keine Memme aus ihm.« Matthis war ihr erstes Kind und Valerie bekam schon ihr Leben lang zu hören, dass sie zu emotional sei. Also steckte sie Matthis in einen warmen Pullover, zog ihm Schal und Handschuhe an und brachte ihn in die Tagesbetreuung. Er hatte kaum Temperatur und sie musste arbeiten gehen. Ein paar Stunden später rief die Erzieherin an: »Matthis hat sich gerade übergeben. Sie müssen ihn abholen«, insistierte sie. »Großartig«, dachte Valerie, »soviel zu einem erfolgreichen Arbeitstag.« Als sie im Kindergarten ankam, war Matthis Temperatur erhöht. Er wirkte ungewöhnlich blass und apathisch, schien sich aber sehr zu freuen, sie zu sehen.
Sie gab ihm ein Mittel gegen das Fieber aber die Temperatur sank nicht. Sie stieg sogar noch. »Das ist nicht in Ordnung«, sagte sie zu ihrem Mann, »ich bringe ihn zum Arzt, da stimmt etwas nicht.« »Meine Güte, Valerie. Lass ihn sich gesund schlafen. Du kannst doch nicht spätabends die Ärztin anrufen. Und wir beide brauchen auch unseren Schlaf. Belästige sie nicht so spät, es ist doch nur eine Grippe.«
Als das Fieber am nächsten Morgen immer noch nicht gesunken war, musste Valerie bei ihrer Arbeitsstelle anrufen, um einen weiteren Tag frei zu nehmen. »Wie um Himmelswillen können die Leute ihre Jobs behalten, wenn sie Kinder haben?«, fragte sie sich. Sie war wütend, hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen und machte sich Sorgen. Das Fieber stieg weiter und Valerie brachte Matthis zur Kinderärztin. Er war apathisch, rang um jeden Atemzug und sein Herz raste. Die Kinderärztin untersuchte ihn und sagte in ruhigem aber ernstem Ton: »Fahren Sie mit ihm ins Krankenhaus, wir geben ihm sofort Medikamente. Und Valerie –«, die Ärztin hielt inne und legte eine Hand auf Valeries Schulter, »ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber fahren Sie bitte direkt ins Krankenhaus, fahren Sie nicht erst zu Hause vorbei.«
Natürlich bekam Valerie Angst. Sie packte Matthis ins Auto und fuhr so schnell sie konnte ins Kinderkrankenhaus in der Innenstadt. Sie hasste es, durch den Stadtverkehr zu fahren, besonders im Berufsverkehr, aber sie hatte keine Wahl.
Als sie im Krankenhaus ankamen, war sein Fieber auf 39,5 Grad gestiegen. Und das Atmen fiel ihm immer noch schwer. Die Wartezeit schien sich endlos hinzuziehen. Valerie fühlte sich so allein. »Bitte, er bekommt kaum Luft. Könnte vielleicht schon jemand nach ihm schauen?« Valerie schnappte sich eine Krankenschwester in einem Versuch, Hilfe zu bekommen. Nach wenigen Augenblicken standen sie in der Notfallambulanz. Matthis lag auf einem Metalltisch über dem grelle Lampen hingen und wurde von Ärztinnen, Schwestern und jungen Assistenzärzten umringt. Plötzlich war sein kleiner Körper an Maschinen, Schläuche, Monitore angeschlossen. Alles ging so schnell. Es wirkte so unwirklich.
»Es ist gut, dass Sie ihn jetzt hergebracht haben«, sagte die diensthabende Ärztin. »Ihr kleiner Junge hat eine schwerwiegende Atemwegsinfektion. Ich möchte ihn heute Nacht hierbehalten, damit wir ihn unter Beobachtung haben.«
Valerie war außer sich aber auch erleichtert, dass Matthis in guten Händen war und dass ihre Sorgen ernst genommen wurden. Sie hatte es mit Achtsamkeitsübungen probiert, aber es war ihr unmöglich, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, während Matthis nach Luft rang. Als sie versuchte, sich auf ihren Atem zu fokussieren, konnte sie an nichts anderes denken als an seine Schmerzen, sein Leiden und seinen Kampf um jeden Atemzug. Aber sie brauchte etwas, um diese Tortur durchzustehen. Sie war erschöpft, ihr ganzer Körper zitterte und sie würde die Nacht auf einem Krankenhausstuhl neben seinem Bett verbringen und versuchen etwas zu schlafen.
Valerie mochte es, Umgebungsgeräuschen zu lauschen – ebenfalls eine beliebte und praktische Meditationsform – und stellte fest, dass das für sie besser funktionierte als die Konzentration auf den Atem. Sie passte diese Grundübung an die Situation im Krankenhaus an.