Читать книгу Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak - Страница 9
Alle haben es schwer
ОглавлениеVielleicht war dein schrecklicher, furchtbarer, sehr schlechter Tag nicht so dramatisch wie derjenige von Amélie, vielleicht war er auch schlimmer, aber wir alle haben mindestens eine Geschichte über »jenen Tag« zu erzählen. Wir sind alle schon mal hungrig, wütend, einsam und müde mit leerem Tank oder etwas Schlimmerem dagesessen. Mutter oder Vater sein ist schwer für alle, aber besonders schwer ist es, wenn Angehörige weit weg sind und die Umgebung sie ersetzen soll, voller Idioten ist, oder anderen Eltern, die keine Zeit für uns haben. Und so erleben die meisten von uns heutzutage ihre Elternschaft – ohne ein Netzwerk und ohne Netz, das uns auffängt oder eine helfende Hand, wenn etwas unweigerlich schief geht. Die Verheißung der Elternschaft war Verbundenheit und Liebe, und doch finden wir uns einen Großteil der Zeit einsam und überfordert wieder. Und selbst wenn wir Hilfe haben, müssen wir immer einen Preis dafür zahlen. Es kann so leicht passieren, dass man ohne »Sprit« dasitzt. Wie können wir ohne Vollbremsung auftanken? Wird sich die Qualität unserer Erziehungsarbeit verbessern, wenn wir dafür sorgen, dass es uns selbst wieder gut geht? Mit diesem Buch möchten wir dir eine »Werkzeugkiste« voller Techniken, Anekdoten, Humor, Unterstützung und Rat anbieten, um dir zu helfen, gesund durch die Jahre der Kindererziehung zu kommen und dabei auch selbst Freude zu haben. Und wir werden dir helfen, die Probleme zu erkennen, die nicht als Eingriffe in oder Unterbrechungen deines früheren kinderlosen Lebens auftauchen, sondern als Chancen für Wachstum und Weisheit.
»Ja klar, Auftanken,« spottest du. »Wie wäre es mit Wut-Management? Oder ein paar Beruhigungspillen? Oder einem doppelten Martini?«
Ich verstehe. Wir alle waren schon an diesem Punkt. Was ich dir in diesem Buch aber hoffentlich vermitteln kann, ist, dass es dir leichter fallen wird, deine Wut in den Griff zu bekommen, Verantwortung zu übernehmen, emotional stabil zu bleiben und dich an deinem Kind (oder deinen Kindern) zu erfreuen, wenn du gut für dich selbst sorgst. Die Autorin Audre Lorde drückte es prägnant in einem Satz aus: »Selbstfürsorge ist keine Selbstverhätschelung, sondern Selbsterhaltung.«
Dir selbst Achtsamkeit und Mitgefühl entgegenzubringen ist kein Freibrief, faul zu sein, sich vor Verantwortung zu drücken oder auf einem Kissen zu sitzen und Nabelschau zu betreiben, während deine Kinder streiten und die Wohnung demolieren. Es hat nichts damit zu tun, sich selbst gegenüber zu nachgiebig zu sein. Im Gegenteil, Achtsamkeit hilft uns, klar zu sehen und aus einer Position der Freundlichkeit und Weisheit heraus zu handeln. Eine Definition von Achtsamkeit ist »klar sehen«.
Was also ist »Achtsamkeit«? Es gibt viele Definitionen aber die eine, die mich als Mutter und Psychologin stets geleitet hat, ist eine sehr einfache, unaufgeregte, schnörkellose Definition: »Gewahrsein des gegenwärtigen Moments mit Freundlichkeit und Akzeptanz.« Angesichts der ständigen Stresssituationen und Belastungen der Elternschaft, seien es schlaflose Nächte, kindliche Wutanfälle, Geschwisterrivalitäten, schwierige Schwiegereltern oder ein(e) kritische(r) Partner:in – wir brauchen eine warmherzige und mitfühlende Antwort auf unsere jeweilige Erfahrung.
»Klingt gut«, wendest du vielleicht ein, »aber das ist nicht realistisch. Die Welt ist ein rauer Ort; wir alle werden ständig beurteilt. Es ist lebensfremd, zu denken, man könne immer freundlich und akzeptierend sein. Manchmal werde ich einfach wütend. Und wie bringt man Kindern bei, was richtig und was falsch ist? Wie kann man sie motivieren, ihr Bestes zu geben, wenn man keinen Druck macht? Und wir müssen an die Zukunft denken. Es ist einfach nicht machbar.«
Das sind alles sehr gute Fragen, denen ich mich noch widmen werde. Was ich vorschlage, ist ein radikal anderer Ansatz, Kinder zu erziehen, Mutter oder Vater zu sein: eine andere Art, mit unseren Kindern und uns selbst zu sein. Die meisten von uns sind daran gewöhnt, sich durch Kritik zu motivieren, und meinen, dass wir, wenn wir uns selbst anschreien und ausschimpfen, besser, effektiver, glücklicher und erfolgreicher sein werden.
Tatsächlich funktioniert Selbstkritik so gut wie nie. Kristin Neff, weithin bekannt für ihre umfassende Forschung über Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 2), hat viel zu diesem Thema geschrieben. Selbstmotivation mit Freundlichkeit und Mitgefühl ist tatsächlich effektiver als der Einsatz von Kritik.4
»Ja klar, noch mehr Psycho-Blabla,« protestierst du und willst das Buch schon weglegen. Warte einen Moment! Diese Ideen haben auch einen Einfluss auf die Geschäftswelt. Der Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer und Philanthrop Charles Schwab schrieb: »Ich muss erst noch den Menschen finden, wie hochrangig seine Position auch sein mag, der in einem Klima der Zustimmung nicht besser arbeiten und sich stärker bemühen würde als in einem Klima der Kritik.«5
Wenden wir uns, um dies zu veranschaulichen, noch einmal Amélie zu, die mich nicht wegen einer Therapie konsultierte, sondern um »bei Verstand« zu bleiben, wie sie es ausdrückte. »Ich brauche keine Therapie«, protestierte sie, »sondern einen Eltern- und Erziehungscoach. Ich weiß nicht, was ich machen soll, meine Geschwister, die auch kleine Kinder haben, und meine Eltern sind viele Flugstunden entfernt. Ich habe keine Hilfe und ich will nicht die neuen Freundschaften mit anderen Eltern strapazieren, die sowieso rar sind.«
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde Amélies Geschichte greifbarer. Sie war wegen des Jobs ihres Mannes an die Ostküste gezogen und hatte Freunde und Familie zurückgelassen. »Die Menschen hier sind so kalt wie das Wetter«, sagte sie traurig. »Und alle wirken so ausgeglichen. Ich fühle mich wie ein einziges Durcheinander«. Sie begann zu weinen. »Wir sind wegen Toms Arbeitsstelle hierher gezogen – nicht, dass er je da ist; er muss zweimal im Monat auf Geschäftsreise.
Und wenn er nach Hause kommt, ist er müde und hungrig und will, dass die Kinder nur Freude machen und das Haus picobello ist und dabei vergisst er, dass das Haus kein Hotelzimmer ist und es hier keinen täglichen Zimmerservice gibt …« Sie hielt inne und holte tief Luft. »Es funktioniert einfach nicht.« Sie schwieg einen Moment. »Ich kümmere mich um alle, ich schlafe nicht, ich bin einsam, ich esse, was die Kinder übriglassen, weil ich so viel zugenommen habe, aber jetzt laufe ich meistens hungrig durch die Gegend. Manchmal habe ich das Gefühl, so schnell durch meinen Alltag zu hetzen, dass ich kaum Luft holen kann. Aber was mir am meisten Angst macht, ist das Gefühl, dass ich mich selbst verliere und mein Gehirn nur noch Brei ist. Ich habe mein altes, kompetentes Selbst verloren. Niemand kümmert sich um mich. Ich brauche Hilfe – und zwar jetzt. An diesem schrecklichen Morgen, als mir das Benzin ausging und ich im Schnee zu einer Tankstelle laufen musste, sah ich das Schild, auf dem ›Rundum-Service‹ stand und ich fragte mich, ›werde ich mich je wieder ganz fühlen?‹ Oder werde ich mich für immer so ausgelaugt fühlen?«
Ich probierte die folgende Reflexionsübung mit Amélie aus, die ihr half, sich wieder mit dem Gefühl, kompetent zu sein, zu verbinden.