Читать книгу Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak - Страница 7
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Kürzlich half ich einigen Cousinen bei den Vorbereitungen für eine Hochzeitsfeier meiner Familie auf dem Land. Eine von ihnen war eine junge Mutter von drei kleinen Kindern, einschließlich eines Neugeborenen. Wir fingen an, über Elternschaft und Erziehung zu sprechen. »Also, wie gut mache ich es?«, fragte Emma geradeheraus und sah angespannt aus. »Ich bin die Letzte, die das zu beurteilen hat«, beruhigte ich sie. Während eines der Kinder um Aufmerksamkeit heischend an ihrem Bein zog, gab ich eine Zeile aus einem meiner Lieblingstexte der Schriftstellerin Tillie Olsen wieder: »Mutter zu sein bedeutet, ständig unterbrechbar zu sein.«1 Sie lachte und erwiderte: »Und ununterbrochen korrigierbar zu sein. Und ständig kritisiert zu werden. Ich habe nie das Gefühl, dass ich es richtig mache. Wenn meine Kinder außer Rand und Band geraten, starren mich die Leute an, als würde ich jugendliche Straftäter heranziehen. Ich weigere mich, sie in Zwangsjacken zu stecken und ihnen einen Schnuller in den Mund zu schieben oder sie wie abgerichtete Hündchen an der kurzen Leine zu führen. Als ich klein war, hatte ich die Freiheit, zu rennen, zu klettern, zu schreien und wild zu sein. Heute scheint es, als sei es nicht in Ordnung, wenn Kinder Lärm machen und Spaß haben. Es kommt mir so vor, als sollten sie stets still und zurückhaltend sein. Das ist unmöglich.«
Emmas Worte beschäftigten mich noch länger und beunruhigten mich. Sie hatte etwas ausgesprochen, das ich von fast allen Eltern höre, die ich kenne. Elternschaft ist für niemanden leicht. Wir fühlen uns nie gut genug. Die Dinge laufen fast nie nach unserer Vorstellung. Und wenn sie es nicht tun, dann geben wir uns die Schuld, kritisieren unsere Kinder, strengen uns noch mehr an und versuchen, noch mehr Kontrolle auszuüben. Wir werden angespannt und deprimiert. Unsere Kinder werden angespannt und deprimiert. Wir schauen über die Schulter, vergleichen uns mit unseren Freundinnen, Familien, Nachbarinnen. Wir schlafen schlecht. Was machen wir falsch? Kann man diesem endlosen, freudlosen Kreislauf entkommen?
Halte inne. Atme. Lausche. Hör auf, auf dir herumzuhacken. Sei ein bisschen nachsichtiger mit dir. Hör auf, mit deinen Kindern oder deinem Partner / deiner Partnerin zu zanken. Sigmund Freud hatte recht, Emma ebenso – Elternschaft ist ein »unmöglicher Beruf«. Der Versuch, unsere Kinder zu dominieren oder ihnen einen Maulkorb zu verpassen, ist ein vergebliches Unterfangen. Expert:innen sagen uns, dass letztendlich kaum etwas vorhergesagt oder kontrolliert werden kann.
Wir alle sind erschöpft, angespannt und besorgt. Und wir sind damit nicht allein. Ein Historiker, der sich mit der amerikanischen Kultur auseinandergesetzt hat, bemerkte einmal, »In keinem anderen Land existiert eine so allumfassende gesellschaftliche Anspannung im Hinblick auf das Aufziehen von Kindern«.2 Wir fragen uns, ob es irgendjemand irgendwo besser macht. Haben französische Eltern ein Geheimrezept? Beziehen »Löwenmütter« eine bessere Rendite aus ihrer Investition? Anthropolog:innen erzählen uns, dass japanische Babys durchschlafen und mexikanische Geschwister nicht streiten – sollten wir vielleicht umziehen?
Mach eine Kehrtwende
Nein. Beginne da, wo du bist. Dieses Buch bietet auf der Basis jahrzehntelanger Forschung über Achtsamkeit und Mitgefühl einen radikalen Perspektivwechsel an. Der Samen für eine glücklichere und weniger konfliktbeladene Art der Elternschaft liegt in uns selbst, nicht auf einem anderen Kontinent. Wir müssen uns nicht wütend oder hilflos fühlen und unsere Kinder und uns selbst in einen Erschöpfungszustand treiben. Es gibt einen anderen Weg. Anstatt sich dauernd bei dem Versuch aufzureiben, deine Kinder in Ordnung zu bringen oder zu ändern, versuche es mit einer Kehrtwende. Bring dir selbst etwas Freundlichkeit und Mitgefühl entgegen. Fang an, dich selbst zu nähren, damit deine Kinder aufblühen können. Wie bitte? Du schüttelst den Kopf. Du verdrehst die Augen. Du hast zu tun. Du hast keine Zeit für so etwas. Es klingt zu egoistisch und albern. Das antworten mir die meisten Eltern.
Als in Harvard ausgebildete Psychologin mit zwei erwachsenen Kindern und über dreißig Jahren klinischer Erfahrung, habe ich mit vielen Eltern und Kindern gearbeitet. Und ich habe eine Menge Erziehungsratgeber gelesen. Hier liegt das Hauptaugenmerk oft auf der Frage, wie wir unsere Kinder »zur Räson« bringen, wie wir sie dazu bringen können, sich zu benehmen, wie wir sie zum Einschlafen bringen können, wie wir erreichen können, dass sie ein gutes Abitur machen und garantiert erfolgreich werden. Kurz, wie wir sie zu dem machen können, was sie unserer Meinung nach sein sollten. Aber nur selten erhalten wir die gewünschten Resultate.
Was ist aus der Freude geworden? Dem Glück? Der Begeisterung? Wir müssen nicht so hart zu ihnen oder uns sein. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass wir sie viel eher mit Mitgefühl motivieren können als durch Kritik. Ja, wirklich. Wir können unseren Fokus vom ständigen Tun auf das Sein umlenken. Einfach sein. Wir können aufhören, herumzurennen und hektische, wütende Eltern zu werden, die mit ihren Kindern im Feierabendverkehr zum Fußballtraining oder zum Ballett rasen, während diese sich auf der Rückbank beißen und boxen. Das ist keine Verurteilung – ich habe es auch so gemacht. Ich war die hektische Mutter im Auto, dünnhäutig, total erschöpft, die stets versuchte, viel zu viel zu tun – und den Kampf verlor. Das tat niemandem gut. Und dann versuchte ich, zum inneren Gleichgewicht und zur Vernunft zurückzufinden.
Das Fundament dieses Buches sind über drei Jahrzehnte Elternschaft, klinische Arbeit und Meditation. Die theoretische und wissenschaftliche Grundlage des Buches ist die bahnbrechende Arbeit meiner Kolleg:innen Chris Germer und Kristin Neff, die den bahnbrechenden Kurs für Achtsames Selbstmitgefühl (Mindful Self-Compassion – MSC), entwickelt haben, den ich seit der Einführung 2010 lehre.3 Neben MSC, das inzwischen zehntausenden Menschen in aller Welt vermittelt wurde, ist dieser Elternratgeber vollgepackt mit Geschichten und Beispielen aus meiner langjährigen klinischen Arbeit mit Eltern und Kindern und meiner eigenen Erfahrung als Mutter. (Die Beispiele bestehen aus zusammengesetzten Texten, um die Vertraulichkeit zu wahren). Ich habe diese Geschichten mit Übungen und Reflexionen kombiniert, die sich aus meinem Verständnis darüber, was effektiv ist, sowie aus den Erfahrungen vieler Menschen herauskristallisierten, denen diese Übungen geholfen haben.
Ich hoffe, dass dich dieses Buch dort abholt, wo du gerade stehst und dir eine Hilfe bei deinen Erziehungskonflikten ist. Es muss nicht so schwer sein und wir müssen nicht so sehr leiden. Und unsere Kinder auch nicht. Möge dieses Buch etwas Freude, Glück, Lachen und Mitgefühl in dein Leben und das deiner Familie bringen.
Wie man das Buch nutzt
Es gibt keine »richtige« Art und Weise, dieses Buch zu nutzen. Du musst es nicht von vorne bis hinten lesen. Spring einfach rein, finde ein Kapitel oder eine Geschichte, die dich anspricht, und fange da an. Falls das Thema Achtsamkeit neu für dich ist, findest du in den ersten Kapiteln Übungen für Anfänger:innen. Ich habe versucht, Achtsamkeits- und Mitgefühlsübungen mit Reflexionsübungen zu kombinieren, um das Material für alle Leserinnen und Leser zugänglich zu machen. Diese Reflexionen sollen dir helfen, dich auf das zu fokussieren, was du brauchst; nimm also Stift und Notizblock zur Hand oder halte deine Antworten auf deinem Smartphone oder Tablet fest, falls das einfacher für dich ist. Du hast keine Zeit zum Lesen? Das verstehe ich – ich hatte auch keine, als meine Kinder klein waren. In dem Fall gehst du einfach ins Arbor Online Center (siehe den Link hier) und lädst die ausgewählten Audio-Dateien herunter (die Nummern der Aufnahmen sind bei den Übungsanleitungen in den folgenden Kapiteln angegeben). Du kannst diese Aufnahmen anhören während du Geschirr spülst, deinen Morgenkaffee trinkst, das Schulvesper für deine Kinder richtest oder Auto fährst (halte aber bitte die Augen offen). Steckst du in einer Krise? Schau in der »Werkzeugkiste« am Ende des Buches nach, um dir sofort Hilfe zu holen: bei Koliken, Wutanfällen, Geschwisterrivalitäten, einem kranken Kind, einem Machtkampf mit einer/einem Teenager:in und anderen häufigen Herausforderungen. Aber das Wichtigste ist, wie mir vor Jahren eine meiner Achtsamkeitslehrerinnen sagte: »Man kann es nicht falsch machen.« »Oh, wirklich?«, erwiderst du. Ja, wirklich. Ich habe mein Leben damit zugebracht, mich für die kleinsten Fehler zu bestrafen. »Man kann es nicht falsch machen«, würde sie uns sagen. War diese Lehrerin von einem anderen Stern? Was hatte sie eingenommen? (Und würde sie es uns verraten?) Während ich in ihrem Mitgefühl, ihrem Humor und ihrer Weisheit badete, musste ich an die unvergessliche Zeile aus »Harry und Sally« denken: Ich beschloss, dass ich »haben will, was sie hat«.
Die gute Nachricht ist: Achtsamkeit und Mitgefühl stehen uns allen zur Verfügung – und wir können sie mit den Menschen in unserer Umgebung teilen. Es sind Qualitäten, die du entwickeln kannst. Die Übungen sind nicht für heiter-gelassene Menschen gedacht, bei denen schon alles perfekt ist. Du musst nicht gut im Stillsitzen sein. Du musst nicht vegan, zucker- oder koffeinfrei leben. Du kannst genau so sein, wie du bist: überarbeitet, angespannt, neurotisch, unter Schlafmangel leidend und kaum in der Lage, alles zusammenzuhalten. Es ist in Ordnung, »ein Durcheinander« zu sein. Ich war das auf jeden Fall. Wenn du atmen kannst (und schau jetzt nicht nach – du tust es bereits), dann kannst du auch das hier schaffen. Willkommen.
1 »To be a mother«. In: Olsen, Tillie: Silences. New York, NY: The Feminist Press, 1965, S. 18.
2 Lerner, Max: Amerika, Wesen und Werden einer Kultur – Geist und Leben der Vereinigten Staaten von heute. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1957, im Orig. S. 562.
3 Neff, Kristin und Germer, Christopher: Selbstmitgefühl – Das Übungsbuch: Ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz, innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst. Freiburg: Arbor Verlag, 2019.