Читать книгу Selbstmitgefühl für Eltern - Susan Pollak - Страница 8
1 »Bitte lass es aufhören – ich kann nicht mehr!« Erziehungsarbeit ist eine überwältigende Aufgabe Der Tank ist leer
ОглавлениеEs war einer jener Morgen. Das Baby hatte nicht geschlafen, Amélies Mann war auf Geschäftsreise und die dreijährige Sophie bestand darauf, im Kindergarten ihr neues Ballettröckchen anzuziehen, während sich an diesem Januarmorgen in Neuengland draußen der Schnee auftürmte. Und außerdem waren sie zu spät dran. Natürlich waren sie zu spät dran. Amélie hatte Zeit gehabt, den Kindern etwas zu Essen zu geben, aber keine Zeit mehr, selbst etwas zu essen.
»Du kannst dein Ballettröckchen und die Ballerinas heute nicht anziehen«, insistierte Amélie. »Es schneit.«
»Das ist mir egal«, gab Sophie zurück und drehte Pirouetten. Amélie war nicht nach streiten zumute. »Liebes, wir sind spät dran«, sagte sie bittend mit höher werdender Stimme.
»Spät dran, spät dran«, äffte Sophie nach und imitierte den hohen Ton ihrer Mutter.
»Genug jetzt, keine Widerrede, wir gehen. JETZT. Zieh deine Jacke an,« sagte Amélie und versuchte, bestimmt aber ruhig zu klingen, wie es in allen guten Erziehungsratgebern empfohlen wird.
»Du kannst mich nicht zwingen, du kannst mich nicht zwingen,« erwiderte Sophie in einem Singsang. Sie hörte auf zu tanzen, ließ sich trotzig zu Boden fallen und streckte die Zunge heraus.
Amélie war wütend. »Genug! Ich habe genug«, schrie sie, schnappte sich beide Kinder und zerrte sie zum Auto, während ihr Anoraks aus den Händen rutschten. Mit einer Hand öffnete sie die Autotür, um das Baby in seinen Sitz zu verfrachten und warf Sophie ihre Jacke zu. Sophie nahm sofort eine neue Möglichkeit wahr, Widerstand zu leisten, während die Entschlossenheit und das Mitgefühl ihrer Mutter schwanden und von kochender Wut abgelöst wurden: Prompt weigerte sie sich.
»Du bist nicht mein Boss«, spottete sie.
»Du kannst ruhig frieren, schau, ob mir das was ausmacht« konterte Amélie, während sie beide Kinder in ihren Kindersitzen anschnallte und losraste.
Sophie begann zu jammern und das Baby schloss sich an.
»Hör sofort damit auf«, zischte Amélie und fühlte sich überfordert und hilflos. Das war eindeutig keiner der schöneren Momente ihrer Mutterschaft.
»Ich will zu meinem Papa«, schrie Sophie. »Er ist nicht so gemein wie du.« Es war eine Erleichterung für alle, am Kindergarten anzukommen. Die Erzieherin war sehr verständnisvoll bei der Begrüßung, wischte Sophies Tränen weg, ließ sie herein und schenkte Amélie ein mitfühlendes Lächeln. Innerhalb von Minuten begann Sophie mit ihren Kindergartenfreund:innen zu malen und zu lachen.
Amélie ging, winkte beschämt zum Abschied und hatte das Gefühl, eine schreckliche Mutter zu sein. Während Sophie die Sache schon vergessen hatte, fiel Amélies Wut wie ein Bumerang aus Scham, Schuld und Bedauern auf sie zurück. Sie begann sich auszuschimpfen. »Ich mache das wirklich ganz schlecht. Ich bin eine furchtbare Mutter.«
Auf der Heimfahrt fing der Motor an zu stottern und das Auto blieb schließlich stehen. »Oh, Mist«, dachte Amélie, Normalerweise sorgte ihr Mann Tom dafür, dass das Auto betankt war, aber da er unterwegs war, hatte sie überhaupt nicht daran gedacht, die Tankanzeige zu überprüfen, die natürlich auf »leer« stand.
Amélie seufzte, packte das Baby in sein Tragegestell und lief in Richtung einer Tankstelle. Inzwischen schneite es heftiger. »Großartig, das ist genau, was ich verdammt nochmal jetzt brauche«, dachte sie, als sie zu weinen begann. Die Intensität ihres Schluchzens überraschte sie selbst. »Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich die nächsten 15 Jahre überstehen, ohne mich selbst und die Kinder in den Wahnsinn zu treiben?«