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Unerfüllte Sehnsucht

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Immer wieder wird mir ich die Frage gestellt: „Was für Menschen kommen zu dir in die Praxis, welche Themen haben sie?“ Darauf antworte ich meist etwas erstaunt, aber auch amüsiert, weil für mich das Sprechen über Sexualität und die Suche nach mehr Sinnlichkeit und Erfüllung inzwischen so normal wie Zahnpflege geworden ist. Ich sage dann, es kommen Menschen wie du und ich, die irgendwann in ihrem Leben eine unerfüllte Sehnsucht verspüren, Fragen in Bezug auf ihre Sexualität haben. Fragen, die sie nicht allein beantworten können, Themen, worüber sie in einem geschützten Raum sprechen möchten, Probleme, wozu sie durch Reflexion und Anregungen womöglich auch eine Lösung finden können. Es sind Menschen, die bei der Suche nach ihrer Insel der Lust den Weg verloren haben.

Eins der häufigsten Themen ist sicherlich die schwindende Lust auf Sex in einer langjährigen Beziehung. Diese Tatsache beruht oft auf weiteren, darunterliegenden, ungeklärten Problemen und sexuellen Schwierigkeiten, wie die sogenannten Störungen der sexuellen Funktionalität. Das sind meist Probleme mit dem Erreichen des Orgasmus und Schmerzen beim Sex für die Frau oder mit der Erektion für den Mann, die entweder wegbleibt oder zu schnell verschwindet. Neben diesen klar umschriebenen Problemen finden sich oft weitere, die zunächst etwas diffuser und weniger greifbar sind, zum Beispiel das Problem, dass beim Sex wenig Erfüllung erlebt wird, dass man sich dabei zu sehr anstrengt, kaum Lustgefühle empfindet oder in der sexuellen Intimität wenig Kontakt verspürt. Andere erzählen von ihrem Wunsch, trotz Beziehung sexuelle Erfahrungen mit anderen Menschen zu machen oder bestimmte sexuelle Praktiken und Vorlieben auszuleben.

Sehr oft höre ich aber auch, dass die Art und Weise, wie man sich in der sexuellen Intimität berührt fühlt, nicht wirklich erotisch und sinnlich, nicht sexy genug ist, um Nähe und Intimität entstehen zu lassen und Lust auf mehr auszulösen.

All diese Themen lassen die eigene Insel der Lust im Nebel verblassen, den Glauben an ihre Existenz zunehmend schwinden.

Ist es Ihnen, liebe Lesende, auch schon mal passiert, dass Sie in einer intimen Situation nicht „richtig“ funktioniert oder sich nicht wohl gefühlt haben, weil die Art, wie Sie berührt wurden, nicht angenehm, nicht erotisch und sinnlich genug war? Dass Sie vielleicht lieber auf das Vorspiel verzichtet haben, weil es, statt Sie anzuregen, eher das Gegenteil bewirkt hat und Sie irgendwann gar keine Lust mehr hatten? Darüber beschweren sich tatsächlich einige meiner Klienten, Männer wie Frauen. Und oft sind sie, wenn sie zu mir kommen, auch am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie sagen dann, sie hätten zwar versucht, ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu erklären, wie sie es sich wünschen, das hätte aber nicht wirklich geholfen. Bleibt das Unwohlsein bei den intimen Berührungen aber unausgesprochen oder ungeklärt, gehen viele Möglichkeiten, das eigene sinnliche, erotische und sexuelle Potenzial zu genießen, verloren.

Sarah, Marion und Anton sind drei reale Menschen, die genau aus diesen Gründen zu mir kamen. Sie hatten Fragen, ungeklärte Themen und vor allem eine tiefe Sehnsucht nach ihrer Insel der Lust. Sie spürten, dass ihr intimes Leben für sie nicht oder nicht mehr befriedigend und erfüllend war. Sie fragten sich, ob dass, was sie lebten, alles war, was sie aus ihrem Potenzial herausholen konnten. Mit dieser Frage bzw. diesem Wunsch, dieser Sehnsucht kommen die meisten Menschen zu einer Sexualberatung. Und oft spüren sie bereits beim Erzählen Erleichterung und Entlastung. Manchmal reicht eine Erklärung, eine Ermutigung oder sogar einfach nur die Erlaubnis, so sein zu dürfen, wie man ist.

Haben Sie sich zum Beispiel auch schon mal gefragt, ob Sie sexuell gesehen „normal“ sind? Oder haben Sie diese Frage vielleicht schon einmal in Bezug auf Ihren Partner oder Ihre Partnerin gehabt? Diese Frage ist tatsächlich nicht selten. In meiner Praxis höre ich sie immer wieder: „Bin ich normal, wenn ich dieses oder jenes fühle, tue, fantasiere?“ – „Ja“, sage ich, und ich bin fest davon überzeugt, weil es in der Sexualität keine wirkliche Norm gibt und das Spektrum der Variationen extrem breit ist.2 Jeder Mensch ist eine eigene sinnliche Insel voller seltsamer prachtvoller Blüten. Je mehr ich mich selbst mit diesem Thema beschäftige, desto größer wird mein Staunen über die Vielfalt an erotischen, sinnlichen und sexuellen Möglichkeiten, Nuancen und Facetten, die Menschen für sich entdecken und ausleben. Problematisch ist nicht das Thema der Normalität an sich, denn wir alle sind auf unsere Art normal. Es wird nur schwierig, wenn sich die Wünsche, Vorstellungen und Sehnsüchte der Beteiligten nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

Spannend und erstrebenswert ist es zunächst, wenn die Einzelnen ihren persönlichen Weg in die Welt der Sexualität finden, für sich das Beste aus den eigenen Möglichkeiten machen und die eigene „sexuelle Insel“ zum Erblühen bringen. Ich freue mich, wenn ich meine Klient*innen darin unterstützen kann, das eigene sexuelle Potenzial zu entdecken, die individuellen Ausprägungen und Vorlieben beim Sex zu ergründen und schließlich auch deren Bedeutung und Stellenwert auszumachen und dazu stehen zu können. All diese Aspekte sind die Blüten und Früchte der eigenen sexuellen Insel, die unsere Persönlichkeit widerspiegelt und die man selbst zum Wachsen und Gedeihen anregen kann.

Mit dieser inneren Haltung begegne ich den Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, und lasse mich von jedem individuellen Weg in die komplexe Welt menschlicher Sexualität immer wieder aufs Neue überraschen.

Haben wir unsere eigene Insel entdeckt, auf der es so vieles zu bewundern gibt, können wir unser Gegenüber einladen. Wir können auch von dort aus eine Brücke zu der Insel der Partnerin oder des Partners schlagen. Manchmal – um bei der Metapher zu bleiben – lässt sich auch eine neue, gemeinsame Insel entdecken, auf der aus den unterschiedlichen Vorstellungen und Wünschen etwas Neues entstehen kann. Auf dieser gemeinsamen Insel kann womöglich nicht alles wachsen, was man gerne hätte. Nicht alle Bedürfnisse können hier erfüllt, nicht alle Fantasien und Vorlieben ausgelebt werden. Auch die Liebe vermag nicht alle sexuellen Wünsche zu ermöglichen und Bedürfnisse zu erfüllen, weil Liebe und Sex nach verschiedenen Spielregeln funktionieren, und die Tatsache, dass man sich liebt, reicht leider manchmal nicht aus, um sexuelle Probleme zu lösen. Hier und da lässt man vielleicht dem oder der anderen den Vorrang und spielt einfach als sinnliche Liebesdienerin oder sinnlicher Liebesdiener, wie ich das gerne nenne, mit, um kein Spielverderber zu sein. Später ist man dann selbst wieder an der Reihe und lebt die eigene erotische Vorstellung und Vorliebe aus. Und manchmal geht es doch zusammen und der Fluss der Lust fließt, mal zart, mal wild, auf der gemeinsamen Insel.

Die Feststellung, dass auf der neu wachsenden gemeinsamen Insel nicht alles möglich ist, kann zunächst entmutigend und enttäuschend wirken. Dennoch können viele Menschen oft erst dann, wenn sie diese Tatsache angenommen haben, die gemeinsame Sexualität entspannter und lustvoller leben, die Blüten und Früchte wertschätzen und genießen, die sie gemeinsam ausgesucht haben. Sie können dann das ausleben, was gerade zwischen ihnen möglich ist, und damit zufriedener sein. Sex muss nicht perfekt sein. Ausreichend gut ist oft gut genug!

Sinnliche Intimität

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