Читать книгу Sinnliche Intimität - Susanna-Sitari Rescio - Страница 8
Einleitung
Оглавление(…) Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem;
und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. (…)
Sinn und Geist möchten dich überreden,
sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind sie. (…)
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen,
mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter,
ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst.
In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten
Weisheit. (…)
Friedrich Nietzsche
Ich möchte über Berührung schreiben. Über Berührungen in der Intimität. Über solche, die unter die Haut gehen, mein Innerstes erreichen und sich wohltuend, nährend, sinnlich erregend und aufregend anfühlen. Über Berührungen, die mein ganzes Wesen erreichen: meinen Körper, meine Seele, meinen Geist. Denn Berühren und berührt zu werden ist ein Grundbedürfnis aller Menschen1, ebenso wie Nahrung und Schlaf. Angenehme, sinnliche, intime Berührungen führen uns direkt zu einer „Insel“ des Wohlgefühls, auf der Zuneigung, Bindung und erotische Gefühle aufblühen können. Sinnliche Berührungen, die in einem Zustand der Präsenz und der Achtsamkeit durchgeführt werden, verbinden uns mit uns selbst und vermitteln uns ein tiefes Gefühl von Ganzheit und Integrität.
Warum ist das so? Es gibt in der Haut bestimmte Fasern, die nur Reize ans Gehirn übertragen, wenn Berührungen mit einer bestimmten Qualität erlebt werden. Diese Fasern leiten die Reize zu dem Teil des Gehirns, der für die Wahrnehmung angenehmer und erotischer Gefühle zuständig ist: die Inselrinde. Berührungen mit einer anderen Qualität werden woanders hingeleitet. Und genau das Aktivieren dieses wohligen Gefühls durch das Erreichen dieser „Insel“ scheint von zentraler Bedeutung zu sein: Zärtliche, achtsame, sinnliche Berührungen erzeugen Wohlsein, bilden eine emotionale Brücke zueinander und liefern den erotischen Reiz, der zum lustvollen und erfüllenden Sex in einer Partnerschaft führen kann.
Die Fähigkeit, auf Berührungen zu reagieren, entwickelt sich sehr früh im embryonalen Leben und bleibt ein Leben lang zentral für den Menschen. Der Säugling nimmt über Berührung im Mutterleib Kontakt mit der Mutter auf, noch bevor er die Augen öffnet. Fehlt diese berührende und beruhigende Gegenwart, leidet nicht nur die Psyche, auch sein Immunsystem entwickelt sich weitaus weniger stabil.
Aber warum ist und bleibt Berührung ein Leben lang so zentral? Berührung ist deshalb so bedeutsam, weil durch Berührungsreize Hormone ausgeschüttet werden, die für das Wachstum der Zellen notwendig sind. Auch erwachsene Menschen sind darauf angewiesen, genug Berührung zu bekommen, um den Körper mit den notwendigen Hormonen zu versorgen, die die unterschiedlichsten Prozesse für ein gesundes Leben steuern.
Als ich zum ersten Mal eine professionelle achtsam-sinnliche Massage bekam, war ich von der Intensität der Gefühle und Empfindungen, die diese Art der Berührung in mir auslöste, dermaßen positiv überwältigt, dass ich mich kurzerhand entschloss, diese Massageform selbst zu erlernen. Die Besonderheit der Berührung und die Atmosphäre, die dabei kreiert wurde, ließen mich auf intensivste Art und Weise mich selbst als lebendiges, unglaublich kraftvolles und sinnliches Wesen spüren. Jeder meiner Körperteile wurde wahrgenommen und berührt. Alles in mir pulsierte vor lauter Lebendigkeit und Energie. Ein Raum voller Sinnlichkeit öffnete sich vor mir.
Obwohl ich davor der Meinung war, ich würde mich schon ganz gut mit Berührung auskennen, musste ich mir nun eingestehen, dass selbst ich noch einiges in diesem Bereich zu lernen hatte. Und so machte ich mich auf den Weg und traf verschiedene Lehrende. Das war vor sehr vielen Jahren. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich heute die vielfältigen positiven Wirkungen intimer Berührungen in Achtsamkeit in einer wissenschaftlichen qualitativen Forschung untersuchen und darüber ein Buch schreiben würde. Damals wie heute ist jedoch immer noch mein größter Wunsch, diesen besonderen Schatz mit vielen Menschen zu teilen.
Wenn Sie sich von diesen ersten Zeilen angesprochen und vielleicht berührt fühlen, lade ich Sie ein, weiterzulesen und in das Geheimnis achtsamer sinnlicher Berührung einzutauchen. Der Weg zur eigenen „Insel“ ist vielleicht versteckt und es fühlt sich an, als sei er abhandengekommen, er lässt sich aber bestimmt wieder frei machen und wiederentdecken. In diesem Buch finden Sie außerdem weitere spannende und sinnliche Gründe, weshalb es sich lohnen könnte, diese Form sinnlicher Kommunikation zu erlernen.
Gleich zu Anfang werde ich Ihnen Sarah, Marion und Anton vorstellen und von der Sehnsucht dieser drei Menschen nach ihrer persönlichen „Insel“ sinnlichen Wohlseins erzählen. Sie werden ihre Beweggründe, sich der Erfahrung achtsamer sinnlicher Berührung zu nähern, erfahren und von ihrem Lösungsweg lesen. Auf diese Art werde ich die achtsame sinnliche Berührung beschreiben und erläutern, wie sie einen positiven Einfluss auf das komplexe Phänomen menschlicher Sexualität haben kann. Gemeinsam tauchen wir in die Physiologie der Berührung ein, um die tiefe Bedeutung des Tastsinnes für das menschliche Leben im Allgemeinen sowie für unser Bindungserleben und -verhalten im Besonderen verstehen zu können. Dabei laden praktische Anleitungen und Fragen zum sinnlichen Mitmachen und zur Selbstreflexion ein.
Viel Spaß beim Lesen, beim Erkennen, beim Nachdenken und – warum nicht – vielleicht auch beim Probieren und Verändern!
1In diesem Buch möchte ich alle Menschen unabhängig von ihrem sogenannten biologischen Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung und Identität ansprechen: jene, die sich in einem binären System zurechtfinden, und jene, die sich in einem heteronormativen System unwohl fühlen. Aus verschiedenen Gründen wurde die Ansprache im Text unterschiedlich gehandhabt: Mal wird nur die männliche, mal die weibliche und die männliche oder eine neutrale Form gewählt. Zwischendurch wird die Formulierung mit dem * verwendet, um alle Menschen anzusprechen, die sich anders als binär definieren. Hier und da werden die Lesenden womöglich wegen der ungewohnten Formulierung im Text stolpern, dennoch möchte ich dies in Kauf nehmen, um allen Leser*innen gerecht zu werden.