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Er steht nicht. Ich komme zu früh
ОглавлениеDie Vorwürfe seiner Frau verunsichern Anton außerordentlich. Er glaubt tatsächlich, was sie ihm erzählt, nämlich, dass er kein guter Liebhaber sei und er sowieso seine Erektion nicht lang genug halten könne. Das hat im Laufe ihrer Beziehung dazu geführt, dass sie immer weniger Sex miteinander hatten und dass seine Problematik – Erektionsstörungen und zu früh kommen – immer schlimmer wurde. Als er zu mir kommt, habe ich den Eindruck eines in sich zusammengesunkenen Mannes, der stark verunsichert ist und trotz seines beruflichen Erfolgs und seiner sonstigen Freizeitbeschäftigungen – er läuft Marathon und ist Hobby-Schauspieler – nicht wirklich in seiner vollen Kraft und in seinem Körper zu Hause ist.
Wir haben intensiv an der Stärkung seiner sexuellen Selbstsicherheit und an der Gestaltung seiner Erregung gearbeitet. Das hat zunächst gut funktioniert und Anton ist von den Übungen begeistert, die ihm erlauben, auch in der Selbstbefriedigung mit seiner Erregung anders zu spielen, als er es bis dahin gemacht hat. Aber da seine Frau sich ihm inzwischen sexuell komplett verweigert, kann er nicht ausprobieren, ob es ihm auch im Kontakt mit seiner Partnerin gelingen würde. Vor allem ist es so, dass sich seine Frau nicht von ihm berühren lassen will, weil sie behauptet, er sei zu unsicher und manchmal auch zu grob in der Berührung. Anton traut sich gar nicht mehr, auf seine Frau zuzugehen. Er zieht sich immer mehr zurück und ist ziemlich unglücklich.
An dieser Stelle der Therapie komme ich auf die Idee, ihm eine Tantramassage vorzuschlagen. Ich erkläre ihm, was ihn erwartet und warum es für ihn gut sein könnte. Die Idee einer Session mit achtsamer sinnlicher Berührung findet er zunächst fremd, auch weil er sie in seinem Wertesystem als Betrug versteht. Wir haben das Thema zunächst ruhen lassen, eines Tages kommt es dennoch wieder hoch. So trifft er die Entscheidung, eine Tantramassage auszuprobieren. Ich empfehle ihm eine Kollegin, mit der ich zusammenarbeite, und er macht einen Termin mit ihr. In Absprache mit mir konzentriert sich der Fokus der ersten Session auf die verschiedenen Berührungsqualitäten ohne Intimberührung, die er leicht angezogen erlebt und somit seine Bedenken in Bezug auf einen Betrug mildern kann. Dabei erfährt Anton eine Vielfalt an sinnlichen Berührungen und kann dadurch besser verstehen, was seine Frau ihm sagen wollte. Als er nach seiner ersten Session zu mir zurückkommt, ist er sehr dankbar. Er habe nicht gedacht, dass es so viele verschiedene Arten gibt, einen Körper zu berühren, und vor allem durch die Langsamkeit der Berührungen habe er viel intensiver spüren können. Leider, erzählt Anton weiter, reagiere seine Frau jedoch weiterhin nicht auf seine Annährungsversuche, weshalb er recht frustriert sei und nicht mehr weiterwisse. Er entscheidet sich dennoch, seinen Weg weiterzugehen und mehr Erfahrungen zu sammeln. Nach einigen weiteren Sessions, die er in den Sommerferien macht, kommt er eines Tages in die Praxis und wirkt wie ausgewechselt. Ich hatte ihn fast zwei Monate nicht gesehen und habe den Eindruck, einen neuen Mann vor mir zu sehen. Seine gesamte Ausstrahlung ist anders, die Körperhaltung aufrechter und offener. Er wirkt selbstsicher, aufgeschlossen, in seinem Körper und in seiner Männlichkeit präsenter. Ich wusste noch nicht, was in der Zeit nach der letzten Sitzung passiert war, nahm diese Veränderung aber eindeutig wahr. Er erzählt mir ausführlich von seinen Erfahrungen und wie er es geschafft hat, in diesen Sessions seine Erregung zu kontrollieren, und wie diese Erfahrung ihm ein ganz anderes Gefühl für seinen Körper und seine Lust gegeben hat. Die veränderte Ausstrahlung und Körperhaltung habe auch seine Frau wahrgenommen, schmunzelt er zufrieden. Während eines kurzen Urlaubs hatten sie Zeit füreinander und seine Frau konnte sich wieder auf ihn einlassen. Anton erzählt, wie beeindruckt sie von seiner Veränderung gewesen sei und wie anders sie sich von ihm berührt und wahrgenommen fühle. Nach diesen ersten Erfolgsmomenten entscheiden beide, einen Kurs zu besuchen, um die neuen Erkenntnisse zu vertiefen. Sie sind lange dabeigeblieben und konnten sehr viel für ihre Beziehung daraus gewinnen. Auch seine Frau, die anfänglich behauptete, sexuell erfahrener zu sein, entdeckte bei sich selbst ganz neue sexuelle „Räume“ und erweiterte auf diese Art ihr eigenes erotisches Potenzial.
Für Anton war der Weg zu seiner Insel der Lust mit nicht wenigen Hindernissen gepflastert und dennoch ist er dabeigeblieben und konnte später auch seine Partnerin mit auf die Reise nehmen.