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KAPITEL 5

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Nachdem Bandolf das Burgtor passiert hatte, dauerte es kein Te Deum lang, bis er nach seinem Pferd und seinem Marschalk gebrüllt und die Burg, mit Herwald an seiner Seite und einem kleinen Gefolge von Reisigen in seinem Rücken, wieder verlassen hatte. Noch kürzer war die Zeit, die er brauchte, um seinen Marschalk von den Ereignissen in Kenntnis zu setzen.

Herwald jedoch benötigte offenbar länger, um die Nachricht zu verdauen, und erst, als Bandolf seinen Braunen über die letzte holprige Mulde im Hohlweg gezwungen und in den Waldpfad der Senke gelenkt hatte, erkundigte sich der Marschalk, was sein Herr denn nun tun wolle.

»Ich werde Tidread von Krähenburg aufsuchen«, antwortete der Burggraf knapp.

»Glaubt Ihr, er wird Euch beim Abt den Rücken stärken?«, erkundigte sich Herwald.

»Nein«, brummte Bandolf. »Zumindest wird er aber wissen, wo sich Gebhard von Supplinburg aufhält. Gebhard ist Gaugraf vom Harudengau, und Tidread ist mit ihm verwandt. Und falls sich der Abt bei meinem Besuch morgen nicht zugänglicher zeigt, will ich die Angelegenheit vor den Gaugrafen bringen. Doch dazu muss ich zunächst einmal wissen, wo ich den Mann finden kann. Er mag auf seinem Stammsitz sein, befindet sich aber möglicherweise auch im Gefolge des Königs.«

Im Stillen befürchtete Bandolf, dass er auch beim Gaugrafen auf taube Ohren stoßen würde. Gebhard von Supplinburg war Sachse und würde einem Burggrafen des Königs aus dem Süden ebenso wenig gewogen sein, wie es Tidread von Krähenburg und andere sächsische Edle waren.

›Sei’s drum‹, dachte Bandolf, ›zur Not wende ich mich an den Bischof von Halberstadt um Recht, und wenn auch das nichts fruchtet, an König Heinrich selbst.‹

Der König... Bandolf zog eine Grimasse. Derzeit war König Heinrich nicht gut auf seinen Burggrafen von Worms zu sprechen. Den für den jungen Herrscher unbefriedigenden Ausgang der Ereignisse im Frühjahr hatte er neben anderem auch Bandolf zur Last gelegt und seinem Zorn Ausdruck verliehen, indem er ihn in den unruhigen Harudengau beorderte. Ob König Heinrichs Zorn inzwischen soweit abgekühlt war, dass er Bandolfs Anliegen unterstützte, erschien dem Burggrafen fraglich.

»Und wenn Prosperius schuldig ist?«, unterbrach Herwald die Grübelei seines Herrn.

Der Burggraf schnaubte. »Pah! Der kleine Nichtsnutz kann nicht einmal einem Hasen den Hals umdrehen, ohne dass sein Gesicht grün anläuft. Geschweige denn brächte er es über sich, einem Menschen einen Dolch in den Wanst zu stoßen. Ein einziger Tropfen Blut nur, und er fällt um wie ein nasser Sack.«

Das hagere Gesicht seines Marschalks heiterte sich merklich auf.

Der Krähenberg, auf dem Tidreads Burg stand, lag in entgegengesetzter Richtung zu Egininkisrod und Sankt Mauritius. Den Bach zu ihrer Linken ritt der kleine Trupp, mit dem Burggrafen und seinem Marschalk an der Spitze, ein gutes Stück des stetig ansteigenden Pfads nach Norden. Allmählich wurden die Bäume spärlicher und gingen schließlich in die Krüppelgewächse der Hochebene über, die den Mittelberg krönte. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, mündete der Pfad in einen Hochweg, der vom Kloster im Westen aus über die nördlich gelegene Jagdpfalz Bodfeld zum Krähenberg führte. Auf dem Hochweg gab Bandolf seinem Braunen die Sporen, doch nach einer Weile fiel der Weg wieder ab, und Mann und Ross tauchten erneut in den Wald ein. Auf dem Waldpfad, behindert vom dichten Unterholz rechts und links des Wegs und tief hängenden Ästen, kamen sie nur mehr im Schritttempo vorwärts.

»Ich verstehe nicht, warum Ihr so bemüht seid, Prosperius in den unwirtlichen Kerker der Buchenburg zu werfen«, unterbrach Herwald schließlich ihr langes Schweigen. »Wäre er in einer Zelle des Klosters nicht besser aufgehoben?«

Der Burggraf warf ihm einen verständnislosen Blick zu, und Herwald zuckte mit den Schultern. »Im Kloster müsste man Prosperius zumindest nicht dem Scharfrichter übergeben, denn schließlich besitzt der Abt zwar die Gerichtsbarkeit, doch nicht den Blutbann wie Ihr«, meinte der Marschalk.

»Und du glaubst, dass man Prosperius darum verschont?«, knurrte Bandolf grimmig. »Dann lass dir gesagt sein, wie man in manchen Klöstern mit einem Mörder verfährt: Man wirft ihn in eine finstere Zelle, mauert die Tür zu und lässt ihn kläglich verhungern. Da braucht sich der Abt die Hände nicht schmutzig zu machen.«

Wortlos nickte der Marschalk, und allmählich breitete sich auf seinen Zügen das Grausen aus.

Anders als die Buchenburg, die auf der Hochfläche einer niedrigen Erhebung erbaut war, starrte die Krähenburg von einem steilen Felsen auf ein Dorf hinab, das sich im Tal an den Felsen schmiegte. Ein schmaler Pfad schraubte sich durch den dichten Wald nach oben und endete vor dem eisenverstärkten und gut bewachten Tor in der Mauer um Tidreads wehrhafte Behausung.

Auf dem Burghof herrschte geschäftiges Treiben, und angesichts der großen Anzahl Reisiger, die sich um den Brunnen, vor Ställen und Scheunen tummelten, beschlich Bandolf ein ungutes Gefühl.

»Mischt euch unter Tidreads Männer und haltet Augen und Ohren offen«, raunte er Herwald zu.

Der wortkarge Marschalk warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Habt einfach Obacht«, brummte der Burggraf.

Im Gegensatz zum übervölkerten Burghof erschien Tidreads Halle angenehm ruhig. Der Duft von gebratenem Wildbret, Fisch und würzigen Kräutern hing in der Luft, und Bandolfs Magen knurrte vernehmlich, war er doch aufgebrochen, ohne sich ein Mittagsmahl zu gönnen. Zu seinem Leidwesen hatte Tidread die Mahlzeit bereits beendet.

Am Tisch saßen nur noch der Burgherr und ein junger Mann, während die Mägde damit beschäftigt waren, leere Schüsseln und fetttriefende Brotscheiben von der Tafel abzutragen.

»Sieh an. Da kommt Bandolf von Leyen, der Vogt des Steinhaufens vom Buchenfels«, bemerkte Tidread, als Bandolf näher trat, und sein grobkantiges Gesicht verzog sich zu einem mokanten Lächeln.

Er war weder klein noch hochgewachsen, doch von wuchtiger Gestalt mit breiten Schultern und kräftigen Armen.

»Das ist Stephan von Blois«, stellte er den jungen Mann vor, der den Platz zu seiner Rechten einnahm. Dann wandte er sich mit einer großartigen Geste an den jungen Stephan von Blois. »Lasst mich Euch mit dem Burggrafen bekannt machen, Stephan. Dem Burggrafen von ... von ... Wie hieß Euer Städtchen noch gleich?«, fragte er mit einem raschen Seitenblick auf Bandolf. »Wurmlingen? Wurm?«

Mit dem stummen Wunsch, Tidread möge der Blitz treffen, half der Burggraf ihm auf die Sprünge. »Worms.«

»Worms.« Tidread lächelte. »Natürlich. Verzeiht.«

Bandolf zuckte mit den Schultern. »Wie könnte ich es einem Mann verübeln, dass er offenkundig noch nicht weit herumgekommen ist?«

Tidreads Lächeln verschwand. Er schnaubte, und Bandolf wandte sich mit stiller Genugtuung an Stephan von Blois. Grüßend nickte er ihm zu. »Was führt Euch in den Harudengau?«

Der junge Mann schien sich das Geschnäuf geholt zu haben. Seine Augen tränten, und er schnaufte schwer durch seine rote Nase. »Verwandtschaft und Geschäfte, Burggraf«, nuschelte er, nieste und schnäuzte sich in den Ärmel seiner Tunika.

Neben Tidreads Grobschlächtigkeit wirkte der Sohn des Grafen von Blois-Champagne geradezu weibisch zart. Wohl hatte er ansprechende Züge, doch hätte sein schmales Gesicht einnehmender gewirkt, wäre es weniger bleich und der Ausdruck weniger verdrossen gewesen. Das dunkle Haupthaar trüg er nach neuester Mode gestutzt, sein schlanker Leib steckte in einer Tunika, die reichlicher mit Stickereien übersät war, als Bandolf je bei einem Männergewand gesehen hatte, und er verströmte einen süßlichen Geruch nach Lavendel und Schweiß. Heilige Jungfrau, der junge Schnösel parfümierte sich! Bandolf unterdrückte ein Grinsen.

»Bringt noch einen Krug Met, Weib!«, bellte Tidread quer durch die Halle. »Der Mann wird durstig sein. Wie ich höre, steht es mit der Verpflegung auf seinem Steinhaufen nicht zum Besten.« Mit einer nachlässigen Handbewegung forderte er den Burggrafen auf, sich zu setzen.

Kaum hatte Bandolf sich auf die schmale Bank gezwängt, Stephan von Blois gegenüber, als eine Frau, augenscheinlich jünger noch als der Welsche, aus einer schattigen Ecke hinter dem Herdfeuer auftauchte und einen Krug auf den Tisch stellte.

»Melisend von Souburg. Mein Weib«, erklärte Tidread beiläufig, doch Bandolf hörte die stolze Befriedigung in seiner Stimme.

Zur Begrüßung neigte die junge Frau den Kopf. Sie warf dem Burggrafen einen raschen, neugierigen Blick zu und hatte sich schon wieder umgedreht, bevor Bandolf ihren Gruß erwidern konnte.

Mehr als den flüchtigen Eindruck ihres weizenfarbenen Haars, das sie zu einem losen Kranz geflochten wie eine Krone auf ihrem Kopf trug, und eines zum Kinn hin spitz zulaufenden Gesichts, das mit Sommersprossen übersät war, hatte er nicht von ihr gesehen.

»Hat Seine Gnaden, der König, noch eine Hufe aus meinem Besitz übersehen, von der er glaubt, dass sie ihm gehört? Oder was sonst führt Euch zu mir?«, erkundigte sich Tidread mit hohntriefender Stimme, beugte sich vor und starrte den Burggrafen durchdringend an.

Unwillkürlich rückte Bandolf von ihm ab. Die Nase rümpfend, unterdrückte er ein Seufzen. Wie sollte er just diesen Sachsen für sein Anliegen gewinnen? Ihre erste Begegnung hatte unter keinem glücklichen Stern gestanden, waren der Buchenburg doch jene Gebiete aus König Heinrichs Krongut zugefallen, die Tidread zu seinem Herrschaftsgebiet gezählt hatte. Der Herr von Krähenburg hatte den Burggrafen denn auch zwischen Tür und Angel abgefertigt.

Um Zeit zu gewinnen, kramte Bandolf umständlich seinen Becher aus dem Beutel, der an seinem Schwertgurt hing, und schenkte sich aus dem Krug ein. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Tidread ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete, während Stephan von Blois sich augenscheinlich erschöpft an die Wand hinter sich lehnte.

»Es geht um eine Angelegenheit, die das Privileg eines Burgherrn betrifft. Eures ebenso wie meines«, sagte Bandolf endlich.

»Das wäre?«

Der Burggraf räusperte sich. »Sind Euch die jüngsten Ereignisse im Kloster Sankt Mauritius zu Ohren gekommen?«

Ein zischender Laut lenkte seine Aufmerksamkeit auf Stephan von Blois. Der junge Welsche riss Mund und Augen auf. Seine rote Nase zuckte. Dann nieste er und nieste, während sich seine Speicheltröpfchen über die Tischplatte verteilten.

»Pardon«, japste er endlich und wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Nase.

Tidread warf ihm einen finsteren Blick zu und rollte die Augen.

»Zum letzten Mal besuchte ich das Kloster zum Hochamt am Tag des heiligen Vitus«, wandte er sich wieder an Bandolf. »Das ist sechs Tage her. Ich weiß nicht, was sich seither dort ereignet hat.«

»Ein Mönch des Klosters ist gestern zu Tode gekommen«, erklärte Bandolf. »Man hat ihn ermordet aufgefunden.«

»Mon Dieu«, ächzte der junge Welsche und begann zu husten. Vor Anstrengung färbte sich sein Gesicht so rot wie eine Rübe.

»Bei allen Heiligen! Warum legt Ihr Euch nicht endlich nieder«, fuhr Tidread ihn verärgert an.

Das halbe Gesicht in seinem Ärmel vergraben, nickte Stephan von Blois.

»Entschuldigt mich, Mes Seigneurs, die Feuchtigkeit ...«, murmelte er undeutlich, während er sich erhob. Nach einer knappen Verbeugung vor dem Burggrafen und seinem Gastgeber wankte er schniefend aus der Halle.

Mit gerunzelter Stirn sah Bandolf dem jungen Grafensohn nach. »Wie konnte er sich nur mitten im Sommer den Rotz holen?«, wunderte er sich laut.

Tidread zuckte mit den Schultern. »Schwache Säfte und schlechtes Blut in den Adern«, brummte er. »Aber zurück zu Eurem Anliegen, Burggraf. Was hat es nun mit diesem toten Mönch von Sankt Mauritius auf sich?«

»Wie ich schon sagte, wurde der Mönch anscheinend ermordet. Und der Abt beschuldigt nun meinen Schreiber, die Tat begangen zu haben.«

»Euren Schreiber«, wiederholte Tidread langsam. Einen langen Augenblick starrte er Bandolf an, dann brach er in brüllendes Gelächter aus.

Mit wachsender Verärgerung wartete Bandolf darauf, dass er sich wieder beruhigte.

»Ihr versüßt mir den Tag, Burggraf«, keuchte Tidread endlich. »Wie ist der Abt denn just auf Euren Schreiber verfallen?«

Bandolf musterte ihn mit schmalen Augen, und Tidread zuckte, noch immer breit grinsend, mit den Schultern.

»Was das anbelangt, schwieg der Prior sich aus«, brummte Bandolf. »Ich nehme an, mein Schreiber hat den Toten gefunden.«

Die Heiterkeit verschwand aus Tidreads Gesicht. »Und was habe ich mit dieser Angelegenheit zu schaffen?«

Bandolf schwieg einen Moment und spielte nachdenklich mit seinem Becher. »Mein Schreiber war noch Novize im Kloster, als vor etwas mehr als zwei Jahren der Novizenmeister des Klosters ebenfalls einen gewaltsamen Tod fand. Davon habt Ihr gewiss gehört?«

Tidread warf ihm einen wachsamen Blick zu, ehe er nickte.

»Auch diese Tat legt Abt Hademar meinem Schreiber zu Last«, erklärte Bandolf. »Was genau sich ereignet hat, werde ich noch herausfinden. Tatsache ist jedoch, dass der Abt meinen Schreiber in Gewahrsam genommen hat und sich weigert, ihn meiner Obhut zu übergeben. Er behauptet, hier greife das Recht der Kirche.«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Tidread die Verzierungen auf seinem Zinnbecher. »Nun, wenn Euer Schreiber noch Novize ist ...«

»Mein Schreiber hat sich über Jahr und Tag in Worms aufgehalten und steht seit zwei Jahren in meinen Diensten«, sagte Bandolf nachdrücklich. »Die Kirche hat keine Rechte mehr an ihm. Er untersteht meinem Recht, als Burggraf wie als Vogt der Buchenburg.«

»Und was wollt Ihr von mir?«

»Ihr seid ebenfalls Burgherr. Es sollte auch Euch ein Anliegen sein, dass die Kirche nicht willkürlich Eure Befugnisse in Frage stellt. Zudem kennt Ihr Vater Hademar länger und besser als ich. Womöglich würde er auf Euch hören.«

Tidread kniff die Augen zusammen. »Und falls nicht?«

Bandolf zuckte mit den Schultern. »So oder so werde ich keine Ruhe geben, bevor mein Schreiber in meinem Gewahrsam ist und ich herausgefunden habe, wer für diese Taten verantwortlich ist«, antwortete er ruhig.

Tidread sah von seinem Becher auf und warf Bandolf einen scharfen Blick zu, ehe er die Lider wieder senkte. Eine lange Weile schien er nachzudenken, doch schließlich nickte er.

»Nun, Burggraf: Ich würde es ebenfalls vorziehen, Herr über mein Gesinde zu bleiben. Ich werde mit dem Abt sprechen.«

Überrascht runzelte Bandolf die Stirn. Den Gedanken, dass Tidread ihm tatsächlich seine Unterstützung anbieten könnte, hatte er nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Im Stillen fragte er sich, ob der Sachse womöglich selbst einen Strauß mit dem Abt von Sankt Mauritius auszufechten hatte.

»Ich schulde Euch Dank«, sagte er endlich.

»Bedankt Euch nicht zu früh«, meinte Tidread. »Ich kenne Vater Hademar. Ein sturer Mensch. Wenn er sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Novizen zu behalten, dann wird es nicht einfach sein, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Es mag eine Weile dauern, und ob das Unterfangen letztlich mit Erfolg gekrönt sein wird, ist nicht gewiss.«

»Dessen bin ich mir bewusst.« Bandolf lächelte. »Ich werde unterdessen jedoch auch nicht müßig sein.«

»Womöglich wäre es Eurer Sache dienlicher, würdet Ihr nicht allzu eifrig herumstöbern. Je höher die Wellen um diese Angelegenheit schlagen, umso weniger wird Vater Hademar bereit sein, den Kürzeren zu ziehen. Bedenkt das«, sagte Tidread rasch.

Mit argwöhnisch zusammengezogenen Brauen forschte Bandolf in Tidreads Zügen, doch dessen Miene war gleichmütig und verriet ihm nichts.

In Gedanken versunken überquerte Bandolf den Burghof. Beflissenheit und Großmut zählten nicht zu den Eigenschaften, die er Tidread von Krähenburg zugerechnet hätte – warum also hatte sich der Sachse so rasch bereit erklärt, für einen Mann in die Bresche zu springen, den er für einen Eindringling und Rivalen halten musste? Der Rat, der Burggraf solle sich zurückhalten, hatte vernünftig geklungen, doch das Glitzern in Tidreads Augen, als erheitere ihn ein heimlicher Scherz, wollte Bandolf nicht gefallen.

»Ihr verlasst uns, Burggraf?«, riss ihn eine helle Stimme aus seinen Betrachtungen.

Tidreads junge Gemahlin trat mit einem Mädchen, nur um Weniges jünger als sie selbst, aus einem Durchlass und blieb vor Bandolf stehen.

»Wollt Ihr nicht vorauslaufen und Eure Arbeit am Webstuhl beenden?«, schlug sie dem Mädchen vor. Mit einem Knicks, der dem Burggrafen galt, und einem finsteren Blick auf die junge Burgherrin eilte es davon.

Kopfschüttelnd sah Melisend dem Mädchen nach, und Bandolf hatte Muße, Tidreads Gemahlin näher zu betrachten. Ihre Lippen waren zu voll, das Kinn zu spitz und die hoch angesetzten, über und über mit Sommersprossen gesprenkelten Wangenknochen zu breit, um Melisend von Souburg schön zu nennen, doch der lebhafte Ausdruck in ihren Zügen und das Funkeln ihrer großen grünen Augen machten die Mängel mehr als wett.

»Die Tochter meines Gatten aus erster Ehe«, erklärte sie mit einem tiefen Seufzen.

Noch ehe Bandolf sich den Kopf zerbrechen konnte, was er darauf antworten sollte, hatte Melisend sich zu ihm umgewandt und schenkte ihm ein Lächeln. »Ah!«, sagte sie mit einer flinken Geste. »Euch hat wohl das Geschnäuf meines Vetters aus der Halle vertrieben?«

Unwillkürlich erwiderte Bandolf ihr Lächeln. »Stephan von Blois ist Euer Vetter?«

»Ein Vetter im dritten Grad. Oder gar im vierten?« Flüchtig runzelte sie die Stirn, ehe sich ihr Gesicht wieder erhellte. »Sei es, wie es sei. Nahe genug verwandt, um seine Leiden ertragen zu müssen.«

»Es scheint, als wäre Stephan von Blois tatsächlich in schlechter Verfassung«, bemerkte Bandolf.

In komischer Verzweiflung rollte Melisend die Augen. »Bei seiner Ankunft schmerzte ihn der Kopf, gestern waren es die Säfte in seinem Magen, und heute plagt ihn der Rotz.« Neugierig musterte sie ihn. »Ihr seid nicht gekommen, um meinem Vetter Eure Aufwartung zu machen, nein?«

Überrascht schüttelte Bandolf den Kopf. »Ich hatte eine Angelegenheit mit Eurem Gatten zu bereden. Warum fragt Ihr?«

»Nun, seit Stephan eingetroffen ist, geht es hier zu wie in einem Taubenschlag«, meinte sie mit einem Schulterzucken. »Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.«

Der Burggraf strich nachdenklich über seinen Bart. »Tatsächlich? Und wer kommt und geht?«, erkundigte er sich wie beiläufig.

»Sachsen.« Melisend warf ihm einen raschen Blick zu. »Ah!«, bemerkte sie. »Das wolltet Ihr nicht hören.«

Verdutzt blinzelte Bandolf sie an.

»Es läge Euch eher daran, zu erfahren, in welcher Angelegenheit die Männer kommen«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Ich habe doch recht?«

Bandolf lächelte. »Wisst Ihr es denn?«

»Wenn Ihr nicht zu meinem Vetter wolltet, was hattet Ihr dann mit meinem Gatten zu bereden?«, erkundigte sich Melisend, ohne auf seine Frage einzugehen.

›Weibsvolk‹, dachte der Burggraf und unterdrückte ein Seufzen. »Nichts, was Euch Sorgen bereiten müsste«, sagte er laut.

»Ah, nun seid Ihr gönnerhaft«, beschwerte sie sich, zuckte mit den Schultern und wandte sich, augenscheinlich enttäuscht, von ihm ab.

Herrje, hatte er nichts Dringlicheres zu tun, als die Neugierde eines gelangweilten jungen Frauenzimmers zu befriedigen?

Einen Augenblick wartete er, doch als sie schwieg, verbeugte er sich. »Erlaubt mir, dass ich mich verabschiede.«

Melisend lächelte versöhnlich. »Natürlich, Burggraf. Ich wollte Euch gewiss nicht aufhalten.«

Unwillkürlich erwiderte er ihr Lächeln, dann wandte er sich zum Gehen.

Bandolf hatte sich schon einige Schritte entfernt, als er plötzlich ihre leise Stimme in seinem Rücken hörte. »Und was wird aus Eurem Schreiber, wenn mein Gatte sein Versprechen nicht hält?«

Verblüfft drehte er sich wieder um.

Mein Gatte tut niemals etwas, das ihm nicht zum Vorteil gereicht.

Mit einem Ächzen fuhr der Burggraf aus seinem unruhigen Schlaf. Er streckte die Hand aus, tastete nach Matthäas warmem Körper, noch ehe er die Augen aufgeschlagen hatte, und wie jedes Mal überflutete ihn die Enttäuschung, den Platz neben sich leer zu finden.

Er gähnte, rieb sich die Augen und setzte sich auf. In der Halle war es dunkel. Das Herdfeuer war bereits zur Hälfte heruntergebrannt, und die schwelenden Holzscheite verbreiteten ein schummriges Licht, das nicht weiter trug als bis zu Bruder Fridegist, der zwei Armeslängen von ihm entfernt schnarchte.

Obwohl das Feuer kaum noch Wärme abgab, war es in der Halle so warm und stickig, dass Bandolf es mühsam fand zu atmen, und das Kribbeln in seinen Gliedern verriet ihm, dass es zwecklos war, die Augen wieder zu schließen.

Schwerfällig stand er auf. Mit Hilfe eines Kienspans zündete er eine Talglampe am Herdfeuer an, spülte den faden Geschmack in seinem Mund mit dem ebenso faden Met aus einem Krug hinunter, der noch auf der Tafel stand, und tappte zur Wendeltreppe hinüber. Er hoffte, die frische Nachtluft auf dem Ausguck würde helfen, dass seine vom Schlaf umnebelten Gedanken wieder klarer wurden.

Oben angekommen, fand er den Reisigen, der Wache halten sollte, in friedlichem Schlaf mit dem Rücken an die Brüstung gelehnt.

»Verdammnis«, knurrte er halblaut und war versucht, den Mann mit einem unsanften Tritt in die Seite zu wecken. Doch dann ließ er es bleiben. Er würde dem säumigen Kerl die Leviten lesen, wenn er wieder ging.

Mit einem tiefen Atemzug beugte sich der Burggraf über die Brüstung und warf einen Blick in den sternenklaren Nachthimmel. Müßig fragte er sich, ob Matthäa wohl dieselben Sterne sehen würde, stünde sie jetzt im Hof seines Hauses in Worms und würde hinaufschauen. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Sein Weib würde jetzt hoffentlich in ihrer Bettstatt schlummern, und sie täte gut daran, dachte er. Wie häufig in letzter Zeit schlich sich in sein Sehnen nach seinem Zuhause und Matthäa auch die besorgte Frage, ob es ihr und seinem Sohn, den sie unter ihrem Herzen trug, denn gut ginge.

Ein Lächeln glitt über sein breites bärtiges Gesicht. Er war so selig über die Nachricht gewesen, dass er schnurstracks seinen Beutel geleert und die Stiftskirchen von Worms mit großzügigen Spenden beglückt hatte. Doch unter all seine Freude mischte sich seither auch stets die unterschwellige Angst, etwas Unvorhergesehenes könnte geschehen, um sein Glück zu trüben und ihm Matthäa und seinen Sohn zu nehmen.

Der Burggraf seufzte. An Herz Jesu, zu Anfang des Monats, hatte er die letzte Nachricht von seiner Gattin bekommen, überbracht von einem Boten, den sie eigens beauftragt hatte. Alle seien wohlauf, hatte es geheißen. Doch inzwischen war wieder etliche Zeit ins Land gegangen, und er konnte nur hoffen, dass die Heilerin tat, was sie versprochen hatte, und mehr als nur ein Auge auf Matthäa und sein ungeborenes Kind haben würde.

Der Ruf einer Eule durchbrach die nächtliche Stille, und kaum war der tiefe Ton verklungen, hörte Bandolf den schwachen Nachhall der Glocke von Sankt Mauritius.

›Matutin‹, dachte er unwillkürlich. Für die Prim war es noch zu dunkel. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er nach Norden, wo irgendwo in diesem tiefdunklen Schatten, mit dem sich der Wald vom Nachthimmel abhob, sein junger Schreiber verängstigt in einer Zelle eingesperrt vor sich hindämmerte.

Was, zum Teufel, war nur passiert?

Seit er die Krähenburg verlassen hatte, ging ihm die Frage nicht mehr aus dem Kopf, und das, was die junge, sprunghafte Melisend dazu zu sagen wusste, hatte nicht zu seiner Beruhigung beigetragen.

Was aus seinem Schreiber würde, wenn Tidread sein Versprechen nicht halten würde, hatte sie gefragt, und als er wissen wollte, was sie damit meinte, geantwortet: »Mein Gatte tut niemals etwas, das ihm nicht zum Vorteil gereicht.« Tidread stehe dick mit dem Abt von Sankt Mauritius, da könne sie nicht sehen, warum ihr Gemahl sich mit Vater Hademar Überwerfen sollte, nur um eines Schreibers willen, der nicht einmal zu seinem eigenen Gesinde gehörte.

Tidread hätte ablehnen können, hatte der Burggraf angemerkt. Warum hätte er Bandolf Unterstützung anbieten sollen, wenn er nicht beabsichtigte, sein Wort zu halten? Eben das sei es, was sie auch nicht verstünde, hatte Melisend erwidert. Ohnehin wäre sie beunruhigt über all die eifrige Geschäftigkeit, die ihr Gemahl in jüngster Zeit entfalte, hatte sie, wie nebenbei, angemerkt. Ständig sei er unterwegs oder sperre sie und ihre Mägde aus der Halle aus, um Besucher zu empfangen, die er ihr nicht vorstellte.

Schon im Begriff, sich zu verabschieden, hatte der Burggraf sie in einem Anflug von Argwohn gefragt, warum sie just ihm von Dingen erzählte, die ihren Gatten betrüben müssten, würde er davon hören.

Sie war errötet und hatte vage mit den Schultern gezuckt, ohne ihm zu antworten. Aber Bandolf hatte das Aufblitzen in ihren Augen noch gesehen, ehe sich die langen, hellen Wimpern über das schimmernde Grün gesenkt hatten.

›Irgendetwas führt sie im Schilde‹, grübelte Bandolf.

Den Blick immer noch auf die Schwärze des Waldes gerichtet, strich er sich nachdenklich über den Bart. Sollte er Tidreads Rat befolgen und zunächst einmal abwarten, ob der Herr von Krähenburg beim Abt etwas erreichen würde? Doch was wäre, wenn Melisends Vermutung bezüglich der Absichten ihres Gatten zutraf? Dann konnte sich Prosperius’ Lage nur verschlimmern.

›Mein Kreuz ist, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, was in diesem Kloster eigentlich vorgefallen ist‹, dachte Bandolf.

Unter welchen Umständen war der Novizenmeister dazumal gestorben? Welchen Grund sollte Prosperius gehabt haben, ihm ans Leben zu wollen, und wem wäre sein Ableben sonst noch gelegen gekommen?

Ebenso wenig wusste Bandolf über den Mönch Adelbald, der just sein Leben ausgehaucht hatte. Wie war er gestorben, wem war er ein Dorn im Auge gewesen? Wieso verdächtigte man Prosperius, ihn ermordet zu haben? Man musste ihn im Kloster bei dem Leichnam des Mönchs gefunden haben. Aber wie war er in diese Lage gekommen? Warum hatte Prosperius das Klostergelände überhaupt wieder betreten? Er hätte doch wissen müssen, dass man ihn noch immer für den Mord an dem Novizenmeister zur Verantwortung ziehen würde. Die Antworten auf diese Fragen mochten letztlich das Einzige sein, das Prosperius vor einem grausamen Ende bewahren konnte, wenn es Bandolf nicht gelingen würde, dass man ihn seiner Obhut unterstellte.

Sankt Mauritius war keine Reichsabtei. Das Kloster gehörte der Diözese von Halberstadt an, dennoch besaß der Abt weitreichende Befugnisse. Ob sie für einen solchen Richtspruch genügten oder ob der Abt die Zustimmung des Bischofs benötigte, wusste Bandolf nicht. Aber derlei gewichtige Entscheidungen pflegte man an den hohen Festtagen der Kirche, wie Ostern und Pfingsten, zu fällen. Der nächste Festtag dieser Art wäre wohl Michaeli, Ende September, und dieser Umstand verschaffte Bandolf ein wenig Luft.

›Ich werde aber überhaupt nichts erfahren, solange ich hier auf meinem Hintern sitzen bleibe und nicht in Sankt Mauritius nach Antworten suche‹, überlegte Bandolf verdrossen. Nur bliebe dem Abt wohl kaum verborgen, wenn der Burggraf in seinem Kloster herumstocherte. Ein solches Vorgehen würde ihn noch mehr gegen Bandolf aufbringen, als er es wegen des Verlusts seiner Privilegien ohnehin schon war. Und das wiederum würde Prosperius mehr schaden als nützen. In dieser Hinsicht hatte Tidread zweifellos recht.

Doch was, wenn Bandolf untätig bliebe und sich letztlich herausstellte, dass der Sachse ein falsches Spiel mit ihm trieb, aus welchem Grund auch immer?

Finster zog Bandolf die Brauen zusammen. »Zum Teufel damit«, knurrte er laut. Zumindest musste er doch herausfinden, was überhaupt vorgefallen war.

Als er sich schließlich von der Brüstung abstieß, hatte er beschlossen, dass er am nächsten Morgen – Abt hin, Tidread her – so rücksichtvoll wie möglich und so nachdrücklich wie nötig seine Fragen im Kloster stellen würde. Immerhin war er Burggraf von Worms und Vogt des Königs, und was noch besser war: Er war im Recht.

Aufgeschreckt durch Bandolfs Geknurre, rührte sich der Turmwächter. Als der Burggraf ihn am Wams packte, auf die Füße zerrte und ihm empfahl, seinen Dienst mit offenen Augen zu versehen, sonst würde er sich alsbald auf direktem Weg am Fuß des Bergfrieds wiederfinden, starrte er seinen Herrn so entsetzt an, als sähe er ein Nachtgespenst.

Bandolf hingegen stieg, durch seinen Entschluss um einiges erleichtert, die Wendeltreppe hinunter und setzte seine unterbrochene Nachtruhe in der Waffenkammer fort. Dort, so fand er, war es bei weitem weniger stickig als in seiner winzigen Halle.

Das Geheimnis der Burggräfin

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