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KAPITEL 7
ОглавлениеWorms, 28. Juni im Jahre des Herrn 1066
Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, und kein Lufthauch regte sich in der feuchten Schwüle, die seit Tagen wie eine Glocke über Worms hing. Es schien, als hielte der Allmächtige noch den Atem an, bevor er seinen Zorn mit Blitz und Donner und windgepeitschtem Regen über die Stadt herniedergehen ließe.
Das erste Dämmerlicht brach zögernd durch die dunklen Wolken am Himmel, als Penelope, die Domkatze, aus einer Ritze in der Scheunenwand auf den schmalen Durchlass schlüpfte, der die Scheune vom Haupthaus des Burggrafen von Worms trennte. Einen Augenblick verharrte sie und lauschte mit gespitzten Ohren. Dann huschte sie zwischen Fässern, prallgefüllten Säcken und aufgestapeltem Feuerholz hindurch bis zur Ecke, wo der enge Durchlass in den Hof mündete. Neben einer Regentonne machte die Katze Halt, spähte aufmerksam über den Hof und kauerte sich schließlich nieder. In der nur langsam schwindenden Dunkelheit schien ihr graues Fell nahezu mit dem Holz der Tonne zu verschmelzen. Nur ihre bernsteingelben Augen, die unverwandt auf den Hof starrten, mochten ihre Anwesenheit verraten.
Als die Tür im Haus geöffnet wurde und die Burggräfin auf den Hof trat, setzte Penelope sich auf. Ihre Schnurrhaare zuckten, und der um die Pfoten geringelte Schwanz schlug wie in ungeduldiger Erwartung auf den Boden.
Einige Schritte von der Türschwelle entfernt blieb Matthäa stehen. Sie bückte sich, wobei der vorgewölbte Leib ihr Mühe zu bereiten schien, und stellte eine Schale auf den Boden.
»Miez, Miez«, rief sie und richtete sich schwerfällig wieder auf. Mit einer raschen Bewegung strich sie sich die rotblonden Locken aus dem Gesicht, die noch in ganzer Pracht offen bis über ihre Hüften fielen. Beide Hände in den Rücken gepresst, wanderte ihr Blick erneut über Hof und Garten, Stall und Scheune, deren Konturen im schwachen Dämmerlicht kaum erkennbar waren.
»Miez, Miez.«
Die Katze hinter der Regentonne rührte sich nicht.
»Wo ist sie nur geblieben?«, murmelte Matthäa.
»Was macht Ihr denn in aller Herrgottsfrühe auf dem Hof, Herrin?«, rief Filiberta, die unter dem Türrahmen erschienen war. Entrüstet stemmte sie die Arme in ihre üppigen Hüften.
»Ich habe eine Schale mit Brei für Penelope aufgestellt.«
»Herrje! Ihr solltet lieber froh sein, dass diese vermaledeite Katze keinen Unfug mehr im Haus anstellt.«
Matthäa seufzte. »Seit mein Gatte abgereist ist, lässt sich das Tier nirgendwo mehr sehen«, sagte sie. »Du weißt doch, wie der Burggraf an dieser Katze hängt. Es wird ihn betrüben, wenn er sie bei seiner Rückkehr nicht mehr vorfindet.«
»Mumpitz«, brummte Filiberta und schüttelte offenkundig verständnislos den Kopf. »Kommt ins Haus zurück. Die Nachtluft ist unbekömmlich für Euer Kind, und auch Ihr solltet nicht schon vor dem Hahn wach sein.«
Mit einem Lächeln strich die Burggräfin über ihren Leib. »Das musst du mit meinem Sohn verhandeln«, meinte sie. »Was soll ich tun, wenn er beschließt, den Tag schon vor der Zeit mit Treten und Stoßen zu beginnen? Da ist an Schlaf nicht mehr zu denken.«
»Allmächtiger! Fühlt Ihr Euch nicht wohl?« In wenigen Schritten war die stämmige Magd bei Matthäa angelangt und griff nach ihrem Arm, als befürchte sie, ihre Herrin könne jeden Augenblick umsinken. »Setzt Euch nur an die Tafel. Die Heilerin soll Euch gleich einen Stärkungstrunk zubereiten.«
Matthäa zog eine Grimasse, während sie sich mit sanftem Nachdruck von ihrem Griff befreite. »Garsende wird nichts dergleichen tun«, erklärte sie. Ihre Stimme schwankte zwischen Ärger und Erheiterung. »Ich fühle mich prächtig, seit mir nicht mehr nach jeder Mahlzeit übel wird. Und du wirst auf der Stelle aufhören, mich ständig zu umglucken, hörst du. Geh zurück ins Haus. Ich komme gleich nach.«
Die Magd schien nicht überzeugt, doch sie gehorchte.
Matthäa hingegen warf noch einen letzten Blick über den Hof. »Nachgerade habe ich das Gefühl, ich stelle die Schale nur zum Gaudium der Ratten auf«, murmelte sie, dann folgte sie Filiberta ins Haus.
Von ihrem Posten hinter der Regentonne schien die Katze das Geschehen auf dem Hof unbeteiligt verfolgt zu haben. Doch kaum hatte die Burggräfin die Tür hinter sich geschlossen, huschte Penelope auf den Hof und pirschte sich an die Schale heran. Schnuppernd umkreiste sie das Gefäß. Endlich schien sie mit dem Inhalt einverstanden zu sein, ließ sich nieder und begann den Brei hastig aufzulecken.
Die Schale war jedoch noch gut zu zwei Dritteln gefüllt, als sie sich wieder aufrichtete. Rasch, als sei sie in Eile, putzte sie sich die mit Brei bekleckerte Nase. Dann huschte sie so lautlos in den Durchlass zurück, wie sie gekommen war.
Vor der Ritze in der Scheunenwand machte Penelope Halt und gurrte. Ein mehrstimmiges hohes Maunzen und Fiepen antwortete ihr. Gleich darauf erschien eine rosafarbene kleine Katzennase in der Öffnung, dann ein dazugehöriges Knäuel flauschigen Fells. Unbeholfen schlüpfte das Kätzchen durch die Ritze, rieb seinen Kopf an Penelopes Brust, während sich ein weiteres Katzenjunges aus dem Spalt zwängte, dann noch eines und noch eines. Die Kätzchen umdrängten Penelope, die ihre stürmische Begrüßung mit einem tiefen Schnurren erwiderte und über das Fell der Kleinen leckte. Zwei der Jungen drängten sich unter ihren Bauch, offenkundig bestrebt, die Zitzen zu erhaschen, doch Penelope schien anderes im Sinn zu haben. Sie drängte ihren Nachwuchs zurück, machte kehrt und huschte zum Hof zurück. Die Kätzchen folgten ihr. Zwei sprangen voraus und machten sich sogleich über den Inhalt der Schale her, während das Dritte sich, mit dem Bauch am Boden robbend, an das Gefäß heranschlich. Das vierte Kätzchen, grau wie Penelope, blieb an der Ecke des Durchgangs sitzen und maunzte kläglich. Penelope schien es mit Gurren herbeilocken zu wollen, doch es rührte sich nicht vom Fleck. Schließlich lief die Katze zurück, packte das Junge im Nacken und trug den zur Kugel zusammengerollten Angsthasen in ihrem Maul zur Schale.
Als der Hahn hinter dem Haus krähte und im Haus des Burggrafen der Tag begann, war die Schale leer und von Penelope und ihren Kätzchen keine Spur mehr zu sehen.
»Bis zum Abend bin ich wieder zurück«, sagte Garsende.
Mit dem Glockenschlag zur Laudes hatte sie mit der Burggräfin das Haus in der Münzergasse verlassen. Noch immer bedeckten dunkle Wolken den Himmel, und der Lärm, der um diese Stunde die Gassen belebte, klang gedämpft, als wolle die Schwüle jeden Laut ersticken.
Die Heilerin warf Matthäa einen forschenden Blick zu. Das rundliche Gesicht der Burggräfin sah erhitzt aus, doch der Glanz in ihren schönen braunen Augen rührte nicht von Fieber. Garsende nickte zufrieden. Zwar hätte sie es lieber gesehen, wenn Matthäa einer der Mägde erlaubt hätte, sie zu begleiten, doch sie wusste, wie sehr die Burggräfin es hasste, wenn man viel Aufhebens um sie machte. Also fragte sie nur: »Werdet Ihr zurechtkommen?«
»Aber ja, gewiss.« Matthäa lächelte. »Ich will mich nur rasch davon überzeugen, dass es der Witwe Diethold nicht am Nötigsten fehlt. Der Mann ist gestern gestorben. Sein Haus hegt in der Schwertfegergasse, da werde ich nicht lange unterwegs sein.«
Sie warf einen Blick in den Himmel und seufzte. »Ich wünschte nur, es würde endlich regnen. Seit die Wolken aufgezogen sind, scheint es, als wöge mein Kind doppelt so schwer.«
»Nur noch wenige Wochen, dann werdet Ihr der Last ledig sein und alle Mühsal vergessen haben«, versprach Garsende.
»Gebe Gott, du hast recht«, sagte Matthäa mit einem zweifelnden Blick auf ihren runden Leib. »Was meinen Umfang betrifft, kann ich doch schon jetzt mühelos mit dem Bischof mithalten.«
Die gewaltige Leibesmasse Seiner Eminenz, Adalberos von Rheinfelden, des Bischofs von Worms, war sprichwörtlich in der Stadt.
»Das steht nun wirklich nicht zu befürchten.« Garsende lachte, und die Burggräfin stimmte in ihr Lachen ein.
An der Ecke der Brotgasse zur Zwerchgasse trennten sich die beiden Frauen. Während Matthäa links in die Zwerchgasse einbog, wandte sich Garsende nach rechts, der Pfauenpforte zu. Es war schon etliche Tage her, seit sie zuletzt in ihrer Hütte nach dem Rechten gesehen hatte, und auch ihre Vorräte an Kräutern, Pulver und Tinkturen gingen zur Neige.
Ein schmales Lächeln glitt über Garsendes Gesicht. Der Umstand, dass sie derzeit unter Schirm und Dach der Burggräfin zu Worms lebte, schien ihr Ansehen beträchtlich gehoben zu haben. Just Frauen von Stand, die zuvor mit gerümpfter Nase und grußlos an der Heilerin vorbeigegangen waren, weil sie ohne männlichen Vormund allein und außerhalb der Stadt lebte, fanden nun plötzlich den Weg in die Münzergasse, um ihren Rat einzuholen.
Bei der Pfauenpforte herrschte reger Verkehr. Händler, Pilger, berittene Boten und andere Reisende verließen Worms, um nach Süden weiterzuziehen, und Knechte mit Sensen, Harken und Karren machten sich auf den Weg zu den Äckern und Weinbergen außerhalb der Stadt, während andere Pilger, Händler, Bauern, Boten und Reisende nach Worms hineinstrebten. Mit ihnen strömten auch all die Bettler, Beutelschneider, Tagelöhner, Wandermönche und Streuner durch das Tor, die von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt zogen oder in den ärmlichen Hütten vor den Toren hausten.
Nachdem Garsende die Pfauenpforte passiert hatte, folgte sie einem breiten Karrenweg, der nach Süden zum Kloster Mariamünster und weiter nach Speyer führte. Kaum hatte sie die Hütten, Scheunen und Zelte der Vorstädter hinter sich gelassen, mündete der Weg in den Wald.
Zwischen den dicht stehenden Bäumen schien es noch drückender zu sein als in der Stadt. Die regenschwangere Luft stand still, das Laub bewegte sich kaum, und nur hin und wieder unterbrach das Knacken eines Astes oder das Zwitschern eines Vogels die Stille.
Als Garsende schließlich in den schmalen Pfad einbog, der vom Hauptweg abzweigte und nach Osten zu ihrer Hütte führte, spürte sie, dass ihr das Gewand trotz der frühen Stunde bereits am Rücken klebte. Während sie dem Pfad folgte, glitt ihr Blick prüfend über die Pflanzen, die am Wegrand wuchsen, und ab und an blieb sie stehen, um hier den Schornigel und da die Schafgarbe zu pflücken und sorgsam in ihrem Beutel zu verstauen. Derzeit schwanden ihre Vorräte schneller, als sie sie aufstocken konnte. Just in den Sommermonaten war die Ernte frischer Kräuter, Blüten und Wurzeln am ergiebigsten, doch die Zeit, die sie in der Stadt verbrachte, fehlte ihr, um die Pflanzen zu sammeln und sie für den jeweiligen Verwendungszweck vorzubereiten.
Der Pfad lag abseits der Hauptwege. Außer Garsende schien zu dieser frühen Stunde hier noch niemand unterwegs zu sein, und die drückende Stille im Wald tat ein Übriges, dass ihre Gedanken bald abschweiften, bis sie schließlich am Bild eines hochgewachsenen Mannes hängen blieben.
Lothar ...
»Sieh mir in die Augen. Sag mir: Was siehst du?«, hatte er sie einmal gefragt. Aber just in seinen Augen verstand sie nicht zu lesen.
Mit dem altvertrauten Schmerz der kaum verheilten Wunde kamen die Fragen. War er nur zu ihr gekommen, um sie auszuforschen? Für den Herrn, dem er diente? Wie lange schon?
Und wie immer folgte den Fragen der Zorn. Auf ihn und auf sich selbst. Wie eine Närrin hatte er sie vorgeführt, und wie eine Närrin hatte sie sich vorführen lassen. Oder nicht?
»Heilige Jungfrau!«, stieß Garsende wütend hervor. War es denn nicht ganz gleich, ob und was er fühlte oder was sie fühlte? Sie war Heilerin, berufen, Leben zu erhalten, während ihm als rechter Arm der Fürsten das Leben offenbar nichts galt. Ganz abgesehen davon war Lothar von Kalborn ein Mann von Stand, während sie nur eine Tochter non matrimonium collocat war. Und letztlich würde sie ihn ohnehin nicht Wiedersehen. Der König hatte ihn zum Vogelfreien erklärt. Wenn Lothar entkommen war, dann hatte er das Land längst verlassen.
Warum nur genügte es ihr dann nicht, all das zu wissen?
Der Fragen und ihrer eigenen Gesellschaft überdrüssig, hatte Garsende gerne zugestimmt, als Matthäa sie gebeten hatte, während der Dauer ihrer Schwangerschaft im Haus des Burggrafen Quartier zu nehmen.
Garsende liebte die Abgeschiedenheit ihrer Hütte im Wald und die Unabhängigkeit, die sie ihr gewährte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie es bedauert, ihr Heim über längere Zeit verlassen zu müssen. Doch in der Einsamkeit im Wald war es ihr nicht gelungen, den Gedanken zu entfliehen. In der Halle des Burggrafen hingegen herrschte stets Umtriebigkeit, und die mochte helfen, sie abzulenken.
Sie hatte recht behalten. Nur hin und wieder, wenn sie nicht Obacht gab, wie jetzt, dann kehrten die Gedanken wieder.
Unversehens wichen die Bäume zurück. Garsende hatte die Waldlichtung erreicht, in der auf einer kleinen Anhöhe ihre Hütte stand. Der Anblick des Unkrauts, das in ihren sorgsam angelegten Beeten emporgeschossen war und ihre Pflanzen zu ersticken drohte, brachte sie vollends in die Gegenwart zurück und entlockte ihr ein tiefes Seufzen.
Es war schon nach der Vesper, als Garsende in das Haus des Burggrafen zurückkehrte. Kaum hatte sie den Fuß in die Halle gesetzt, stürzte Filiberta mit ängstlichem Gesicht auf sie zu, dicht gefolgt von Werno, dem kahlschädeligen Hausmeier des Burggrafen, und Hildrun, der jungen Magd.
»Dem Himmel sei Dank, dass Ihr endlich da seid«, rief sie.
Garsende runzelte die Stirn. »Was gibt es denn?«, fragte sie.
Ohne Umstände drängte sich Werno an der stämmigen Magd vorbei. »Die Herrin ist noch nicht zurückgekehrt«, verkündete er mit gewichtiger Miene, um gleich düster hinzuzufügen, dass er sich nicht wundern würde, läge die Burggräfin mit gebrochenen Gliedern oder Schlimmerem in irgendeiner Gasse.
»Sag doch nicht so etwas«, rief Filiberta flehend, während Garsende unwillkürlich einen Blick über die aufgebockte Tafel, die Herdstelle und in die schattigen Winkel der Halle warf. Doch von Matthäa war nichts zu sehen.
Beunruhigt wandte sie sich an die Magd: »War die Burggräfin zum Mittagsmahl denn nicht zu Hause?«
Ihre Hände knetend, schüttelte Filiberta den Kopf. »Wir haben uns noch nichts dabei gedacht, als die Herrin zur Sext noch nicht zurück war ...«
»Es hätt’ ja auch sein können, dass sie unterwegs jemanden getroffen hätt’, Ihr wisst schon, wie das ist. Man kommt ins Plaudern und vergisst dann, wie die Zeit herumgeht«, unterbrach sie Hildrun, die Augen riesengroß vor Aufregung.
Filiberta warf der jungen Magd einen finsteren Blick zu, nickte aber und fuhr fort: »Erst als die Glocken dann zur Non schlugen und die Herrin noch immer nicht da war, da machten wir uns Sorgen. Und weil Ihr auch nicht da wart und niemand sonst, da dachten wir, wir sollten sie suchen. Werno ist in die Schwertfegergasse zur Dietholderin gelaufen, aber da war sie nicht. Jacob hat die Gassen abgesucht, die sie womöglich gegangen ist, und Hildrun und ich haben uns beim Paulusstift umgetan, dort war sie aber auch nirgends. Und von den Leuten, die wir unterwegs fragten, hat niemand nicht sie gesehen.«
Bekümmert schaute sie die Heilerin an. »Wo kann sie denn nur sein?«
»Das geht nicht gut aus, hab’ ich noch heut’ früh zu Jacob gesagt, wenn die Herrin bei solchem Wetter ausgeht, wo es doch jeden Moment Blitz und Donner geben kann. Und wo doch die Kränke bei der Hitze in jeder Ecke lauert und man nie nicht weiß, wer welche hat«, erklärte Werno und schüttelte so gramvoll den Kopf, als sähe er Matthäa bereits tot auf einer Bahre liegen.
»Es mag ein Dutzend Gründe geben, weshalb die Burggräfin noch nicht zurück ist, da muss man nicht gleich den schlimmsten annehmen«, unterband Garsende ungehalten seine Unkerei, obgleich ihr von den Dutzend Gründen kein einziger einfallen wollte.
»Du warst also in der Schwertfegergasse und hast dich erkundigt, ob die Burggräfin noch bei der Witwe Diethold ist?«, vergewisserte sie sich.
»Wie Filiberta gesagt hat«, bestätigte Werno.
»Hast du gefragt, ob deine Herrin dort womöglich erwähnt hat, dass sie hernach noch anderswo einen Besuch machen wollte?«
Der Hausmeier schüttelte den Kopf. »Wie hätte sie das denn können, wo sie doch gar nicht dort war?«
Garsende spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Sie war gar nicht dort?« Zorn mischte sich in ihre Stimme. »Und das hast du vergessen zu erwähnen?«
»Je nun«, Wernos Gesicht färbte sich rot bis hinauf zu seinem kahlen Schädel. »Ich dacht’, ich hätt’s gesagt.«
›Heilige Muttergottes!‹, fuhr es Garsende durch den Kopf. ›Schon ein voller Tag, und niemand hat sie gesehen?‹ Das flaue Gefühl in ihrem Magen wuchs sich zum Knoten aus, und für einen Augenblick schien ihr Kopf völlig leer zu sein, während die Hauseigenen sie erwartungsvoll und Hilfe suchend anstarrten.
›Herrje, denk nach!‹, befahl sie sich und drängte mühsam das Schreckensbild einer Matthäa zurück, die zusammengekrümmt in viel zu frühen Wehen in irgendeinem verlassenen Winkel der Stadt kauerte. Was war nur passiert? Sie hatte doch gesehen, wie die Burggräfin in die Zwerchgasse eingebogen war. Und dann? Wohin konnte Matthäa gegangen sein, wenn sie nicht bei der Witwe eingetroffen war? Hatte sie ein anderes Ziel im Auge gehabt? Aber warum hatte sie das nicht gesagt? Die Burggräfin war ihr keine Rechenschaft schuldig, es gab keinen Grund, warum sie Garsende hätte belügen sollen. Vielleicht hatte sie sich aber auch erst unterwegs anderweitig besonnen? Oder war sie womöglich auf dem kurzen Weg überfallen worden? Hatte man sie verletzt und in einen dunklen Winkel gezerrt? Am helllichten Tag? Garsende schüttelte den Kopf. Schwerlich, wenn die Burggräfin den direkten Weg genommen hatte. Die Gassen waren in jenem Viertel auch in den frühen Morgenstunden belebt. Jedermann in Worms kannte die Burggräfin und würde doch nicht wagen ... oder doch? Und wenn es nun ein Fremder gewesen war?
Aber solche Gedanken waren jetzt nicht hilfreich.
Mit einer heftigen Bewegung warf Garsende den langen Zopf zurück, der ihr über die Schulter gefallen war, und straffte sich.
»Du wirst mit den Knechten noch einmal die Gassen in weitem Umkreis absuchen, vom Kratzwinkel bis hinauf zur Korngasse«, erklärte sie dem Hausmeier, der trübselig vor sich hinstarrte. Sie hoffte, dass ihre Stimme fester klang, als sie sich fühlte. »Teilt euch auf und sucht jeden Winkel ab. Fragt die Leute auf den Gassen, ob sie die Burggräfin gesehen haben. Erkundigt euch in den Wirtshäusern und klopft an die Türen.«
Werno schien Einwände zu haben, doch Garsende ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit einer harschen Geste scheuchte sie ihn aus der Halle und wandte sich dann an die beiden Mägde. »Filiberta, du läufst zur Kirche Sankt Magnus und zum Stift Sankt Andreas und fragst, ob man sie dort gesehen hat. Und bitte die Brüder um Hilfe bei der Suche.«
Filiberta stieß ein erleichtertes Seufzen aus und nickte.
»Hildrun, du tust dasselbe in Sankt Paulus und Sankt Martin. Und dass du nicht trödelst, hörst du?«
»Als würd’ ich’s nicht besser wissen«, murrte das junge Ding und trollte sich mit sichtlich gekränkter Miene.
»Werdet Ihr hierbleiben, damit meine Herrin die Halle nicht leer vorfindet, wenn sie heimkommt?«, wollte Filiberta wissen.
Garsende schüttelte den Kopf. »Ich gehe zur Bischofspfalz und erkundige mich dort. Und zum Domstift.« Mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Der Bruder Scholasticus ist dem Burggrafen zugeneigt, womöglich weiß er auch mir einen guten Rat.«
Schon an der Tür, wandte sich Filiberta noch einmal um. »Und wenn wir meine Herrin trotz allem nicht finden?« Ihre Stimme klang ängstlich.
›Dann wird mich der Burggraf auf kleiner Flamme rösten. Und täte recht daran‹, dachte Garsende.
Sie zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. »Nur keine Bange«, sagte sie. »Wir werden sie finden.«