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KAPITEL 1

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Worms, 20. Siwan im Jahr 4826 nach Erschaffung der Welt (16. Juni im fahre des Herrn 1066)

Grelles Licht schlug Rifka entgegen, als sie mit einem Korb auf dem Arm aus dem Haus trat. Die Luft flimmerte vor Hitze. Für einen Moment blieb sie stehen und schloss geblendet die Augen. Eine schwache Brise streifte ihr Gesicht, brachte den Geruch nach Gewürzen und Früchten, Unrat und Schweiß und fauligem Flusswasser vom nahe gelegenen Rhein mit sich – doch keine Kühlung.

In diesem Jahr war der Sommer früh gekommen. Seit Schawuot, dem Erntedankfest, hatte sich kein einziges Wölkchen mehr am Himmel gezeigt, und der Staub, den Mensch und Tier vom trockenen Boden aufwirbelten, war ebenso allgegenwärtig wie der Lärm, der stets auf den Gassen herrschte.

»Vergiss nicht, Schabbatkerzen vom Wachszieher mitzubringen, Herrin. Und lass dich nicht übervorteilen, hörst du? Abraham kann dir die Fibel vom Leib schwatzen, ehe du es merkst, wenn du ihn lässt. Du musst dich sputen, es ist bald Mittag. Und hab Acht auf dich!«, hörte Rifka die Stimme ihrer alten Magd aus dem Halbdunkel der Diele.

»Ja, ja«, rief sie zurück, halb belustigt, halb ärgerlich, bevor sie rasch die Tür hinter sich schloss.

Obwohl es schon über ein Jahr her war, dass Rifka das väterliche Heim verlassen hatte, um mit Joschua ben Jehuda das Ehegelöbnis unter der Chuppah zu sprechen, hätschelte Hannah sie immer noch wie ein Kind.

›Ich werde alt und grau sein, bevor sie das aufgibt‹, dachte sie mit einem Anflug von Ungeduld.

Bereits erhitzt, strich Rifka den Schleier zurück, der ihr tiefschwarzes Haar bedeckte, und hob sich den Korb auf die Schulter.

Doch in einem hatte Hannah Recht: Sie sollte sich beeilen. Das Haus musste blitzblank und alle Mahlzeiten mussten vorbereitet sein, bis sie am Abend zu Ehren des Schabbats die Kerzen anzünden und den Segen darüber sprechen würde, wie es ihr Vorrecht war.

Ein Lächeln freudiger Erwartung glitt über Rifkas Gesicht, während sie sich geschickt an einer Gruppe junger Männer vorbeischob, die, in eine heftige Debatte vertieft, vor ihrem Haus stehen geblieben waren.

»Der Todesengel sprach mit Rabbi Josua ben Levi, als er darum bat, er möge ihm seinen Platz im Paradies zeigen ...«, hörte sie einen der Männer argumentieren.

»Rabbi Gershom sagte jedoch, der Todesengel sei ...«

»Schabbat Schalom«, grüßte Rifka.

Die Debatte verstummte. Für einen Augenblick sahen die jungen Männer sie irritiert an, ehe sie den Schabbatgruß erwiderten und ihr Gespräch sogleich mit unverminderter Leidenschaft Wiederaufnahmen.

Rifka war nicht überrascht, und ihr Lächeln verscheuchte den ernsten Ausdruck, der trotz ihrer Jugend die großen, dunklen Augen immer ein wenig zu überschatten schien.

Als Tochter eines Gelehrten war sie daran gewöhnt, dass den Männern der Blick auf ihre Umwelt verloren ging, sobald es um Tora und Talmud ging. Eine Eigenschaft, die auch ihr junger Gatte teilte. Hatte Joschua erst seine Nase in den Schriften vergraben, schien daneben kein Platz mehr für die praktischen Dinge des Lebens zu sein. Mochte er aber auch in alltäglichen Belangen ein wenig unbeholfen sein, so war er ihr doch ein liebevoller Ehemann, und sie war stolz darauf, ihn an der Talmudschule zu Worms studieren zu sehen. Die Jeschiwa hatte weit über die Grenzen des fränkischen Reiches hinaus Berühmtheit erlangt. Hier lehrten die Schüler des großen Rabbi Gershom, und hier hatte auch noch bis vor einem Jahr Rabbi Schlomo ben Yitzchak gelernt und gelehrt, dem man trotz seiner Jugend bereits den Ehrennamen Raschi verliehen hatte.

»Schabbat Schalom, Rifka!« Der Ruf übertönte das vielfältige Stimmengewirr auf der Gasse: Das Jiddisch der Bewohner des Viertels, die fränkischen Dialekte der Christen sowie fremde Laute wie Gälisch, Französisch und die Sprache der Briten.

Rifka blieb stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nach dem Rufer Ausschau zu halten. Endlich entdeckte sie auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse Sarah, die Frau des Goldschmieds, inmitten einer kleinen Schar schwatzender Frauen. Sie winkte ihr zu und gestikulierte, sie möge sich dazugesellen. Kaum hatte Rifka bedauernd den Kopf geschüttelt, als Sarah und die Frauen hinter einer Staubwolke verschwanden, die ein Ochsenkarren hinter sich aufwirbelte. Schwerfällig und bis über die Latten hinaus mit prallgefüllten Säcken beladen, rumpelte das Gefährt an ihr vorbei. Eines der Räder holperte über einen Stein, der Karren begann bedenklich zu wanken.

Rifka sprang hastig zurück. Unwillkürlich schrie sie auf, als ihr Rücken gegen einen Körper prallte und ihr Korb zu Boden fiel.

»Mince alors!«, zischte eine Stimme.

Kräftige Hände packten sie und schoben sie grob von sich. Erschrocken fuhr Rifka herum. Für einen Augenblick sah sie gelbe Zähne zwischen einem ungepflegten, dunklen Bart aufblitzen und ein Holzkreuz, das um einen schweißglänzenden Hals baumelte, dann hatte der Mann ihr auch schon den Rücken zugekehrt.

»Verzeiht«, murmelte sie. Da er aber nicht geneigt schien, sich noch einmal umzudrehen und ihr die Höflichkeit einer Antwort zu erweisen, klaubte sie ihren Korb vom Boden auf und schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen.

Plötzlich hielt sie inne und drehte sich beunruhigt um.

Christen waren im jüdischen Viertel kein ungewöhnlicher Anblick. Mochte ein Jude auch noch immer kein gern gesehener Gast in den meisten Häusern der Christen sein, und mochte auch hie und da der Ruf nach Rache an einem Volk aufflackern, das den gekreuzigten Sohn ihres Herrn leugnete, so blühte doch der Handel. Christen schätzten die Kleinodien aus den Werkstätten jüdischer Goldschmiede, das Töpfer- und Stickwerk jüdischer Frauen, die Dienste jüdischer Zimmerleute, ebenso wie Seide, Brokat, Gewürze, Früchte und Kräuter, Sklaven und Waffen, die jüdische Händler über uralte Wege aus Palästina, Persien und Indien herbeischafften. Zwischen Dom und Synagoge herrschte ein reger Austausch um die Auslegung der fünf Bücher Mosches. Nicht selten sah man auf der Gasse sogar die Robe eines Stiftsherrn unter den Tallitot, den schwarzweiß gestreiften Gebetsmänteln jüdischer Männer, und hörte ihre Stimmen laut und eifrig um einen Psalter debattieren.

Warum, in aller Welt, beunruhigte sie nun gerade der Anblick dieses Mannes, dieses Christen?

Nachdenklich musterte Rifka seinen breiten Rücken. Er war nicht weitergegangen. Mit lässig überkreuzten Beinen lehnte er mit einer Schulter an der Wand des Hauses ihres Nachbarn, und es hatte den Anschein, als würde er die Gasse im Auge behalten.

Er trug einen leichten Umhang, die braune Farbe bereits verblasst. Tunika und Beinlinge, die darunter hervorschauten, waren mehrmals und von nachlässiger Hand geflickt worden und hatten, wie der Umhang, zweifellos schon bessere Tage gesehen. Dennoch schien er weder Bauer noch Tagelöhner zu sein. Die Tunika besaß zu beiden Seiten lange Schlitze, wie Reiter sie bevorzugten, um besser im Sattel zu sitzen. Die Schuhe waren aus Leder, und seine Haltung drückte trotz des Anscheins von Lässigkeit angespannte Aufmerksamkeit aus.

›Womöglich ein Krieger?‹, grübelte Rifka. Ein Söldner vielleicht, da er doch der Sprache nach ein Welscher zu sein schien.

Etwas an ihm kam ihr vertraut vor. So, als hätte sie ihn schon einmal gesehen.

Vor Anstrengung, sich genauer zu erinnern, runzelte sie die Stirn.

Dann fiel es ihr wieder ein.

Es war einen Tag nach Schawuot gewesen, als sich die ganze Familie vor dem Haus versammelt hatte, um Joschuas Vater zu verabschieden. An jenem Tag war Jehuda mit seiner Karawane nach Sachsen aufgebrochen. Esther, Rifkas Schwägerin, hatte wie immer genörgelt und mit ihrer durchdringenden Stimme die halbe Gasse wissen lassen, wie unzufrieden sie damit war, dass der Kaufmann selbst die Karawane begleiten würde. Ursprünglich war vorgesehen gewesen, dass Esra, Esthers Ehemann und Joschuas Bruder, dem Unternehmen vorstehen sollte. Doch dann hatte der alte Kaufmann ganz plötzlich verkündet, dass er selbst die Karawane zu begleiten wünsche. Esther war es nicht gelungen, ihren Ärger darüber zu verbergen, denn nun würde auch nichts vom Gewinn des Handels auf Esra abfallen.

Und während Esther noch auf Jehuda einschwatzte, er möge seine Entscheidung doch noch einmal überdenken, und sogar sein fortgeschrittenes Alter ins Feld führte, hatte Rifka den Mann bemerkt, der an der Ecke des Nachbarhauses stand und Esthers Auftritt aufmerksam zu verfolgen schien.

Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, doch nun ...

Stand er womöglich hier, um ihr Heim zu beobachten?

Unwillkürlich sah Rifka sich um.

Die Judengasse war die längste Gasse im Viertel und folgte dem Bogen der nördlichen Stadtmauer von der Lauergasse im Osten bis zur Zwerchgasse im Westen. Auf der einen Seite waren die Reihen der Häuser von schmalen Gässchen durchbrochen, und ein großer Platz beherbergte Synagoge und Jeschiwa. Auf der gegenüberliegenden Seite schmiegten sich die Häuser an die Stadtmauer.

Jehuda ben Eliesar war einer der wohlhabendsten und angesehensten unter den Händlern von Worms. Sein Anwesen stand am Ende der Judengasse. Mochte das Haus auch nicht das größte im Viertel sein, so doch gewiss eines der schönsten mit seinem glänzend neuen Fachwerk. An der Rückfront, von hier nicht einsehbar, schloss sich ein weiträumiger Schuppen an, der teils als Stall und Scheune und teils als Warenlager diente. Hinter dem Haupthaus bog ein schmales Gässchen nach rechts und führte an der Stadtmauer entlang weiter zur Lauergasse. Gegenüber dem Anwesen des Kaufmanns prunkte das Haus des Goldschmieds mit beeindruckender Größe, die Sarah, sein Weib, nicht müde wurde hervorzuheben.

Rifkas Blick kehrte zu ihrem Heim zurück, und sie betrachtete die weiß gekalkte Fassade, in dem das dunkle Holz der Trägerbalken in der Sonne wie frisch gehobelt glänzte.

Ein flüchtiger Gedanke streifte sie, die Erinnerung an einen beunruhigenden Augenblick, der ebenfalls in Zusammenhang mit Jehudas Abreise stand. Was war es nur gewesen?

Noch einmal rief sie sich jenen Tag ins Gedächtnis.

Jehuda hatte Esthers Lamentieren mit beneidenswerter Gelassenheit hingenommen, hatte ihr mit einem angestrengten Lächeln übers Haar gestrichen und gemeint, sie würde sich nicht wirklich wünschen, ihren Ehemann statt seiner nach Sachsen zu schicken. Dann hatte er sie umarmt und sie sanft, aber bestimmt zur Seite geschoben, um sich auch von Rifka und seinen Söhnen zu verabschieden. Und dann war er gegangen.

Tief in Gedanken schüttelte Rifka den Kopf.

Vor ihrem inneren Auge sah sie den betagten Kaufmann vor sich, wie er sich noch einmal umdrehte.

›Er wird den Reisesegen sprechen‹, hatte sie gedacht und gelächelt, weil sie das Gebet sehr mochte:

... Möge es wohlgefällig von dir sein, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, uns in Frieden zu geleiten, uns in Frieden dahinschreiten zu lassen, uns zu stützen und zum Ziele unseres Wunsches zu führen, zum Leben, zur Freude und zum Frieden, und lass uns in Frieden in unser Haus zurückkehren ...‹

Doch Jehuda sprach kein Gebet.

»Er hat mich vermauert, dass ich nicht herauskann, und mich in harte Fesseln gelegt«, zitierte er aus dem Klagelied.

Überrascht hob Rifka die Brauen und schaute fragend zu ihrem Gatten hinüber. Aber Joschua sah seinen Vater an.

»Die Liebe des Ewigen, dass sie noch nicht aufgehört, dass noch nicht zu Ende ist sein Erbarmen«, antwortete er ebenfalls mit einem Vers aus dem Klagelied, und die verwegenen braunen Locken in seiner Stirn wollten nicht recht zum Ernst in seiner Stimme passen.

Jehuda hatte langsam genickt, doch die tiefe Sorge war nicht gewichen, die Rifka in den dunklen, von ungezählten Fältchen umgebenen Augen zu sehen geglaubt hatte.

Und dann ...?

Dann war plötzlich Beni, der Stallknecht, hinter dem Haus hervorgestolpert, vergebens nach der Mistgabel grapschend, die ihm aus der Hand zu fallen drohte. Es hatte unheimlich komisch ausgesehen, wie der lange Kerl wild mit den Armen ruderte, um den Stiel doch noch zu erwischen, dabei über seine eigenen Füße gestolpert und dann platt auf die Nase gefallen war. Beni war mit dem Schrecken davongekommen, und sein unfreiwilliges Missgeschick hatte für Heiterkeit gesorgt. Die angespannte Stimmung war mit einem Mal verflogen gewesen.

Bis heute hatte Rifka nicht mehr daran gedacht. Weder an Jehudas düsteren Abschiedsgruß noch an den Mann, der an der Ecke gestanden und zugesehen hatte. Doch jetzt erinnerte sie sich an den Blick, den Jehuda seinen Söhnen zugeworfen hatte, als er den Vers aus dem Klagelied sprach.

Trotz der Hitze lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Sie hatte Furchtsamkeit gesehen, die sie an Jehuda ben Eliesar nicht kannte.

Wovor hatte sich Joschuas Vater gefürchtet?

Als wäre sie festgefroren, starrte Rifka den Franzosen an, der noch immer an derselben Stelle stand und ihr den Rücken zukehrte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Redete sie sich hier etwas zusammen, das gar nicht zusammengehörte? Zwei Eigentümlichkeiten, die überhaupt nichts miteinander zu tun hatten?

Als hätte er Rifkas Blick gespürt, drehte sich der Welsche plötzlich um. Einen Lidschlag lang kreuzten sich ihre Blicke. Ohne eine Regung zu zeigen, glitt sein Blick weiter, und Rifka atmete erleichtert auf.

Was spann sie nur für unsinnige Gedanken?

›Törichte Gans!‹, rief sie sich streng zur Ordnung. Der Welsche mochte ein Dutzend Gründe haben, hier zu stehen. Vielleicht suchte er Arbeit und wartete auf den rechten Mann, um ihn anzusprechen, vielleicht wollte er sich hier mit jemandem treffen, und womöglich ruhte er sich auch nur für eine Weile aus und würde seinen Weg bald wieder fortsetzen.

Und die unbestimmte Angst, die sie in Jehudas Blick zu sehen geglaubt hatte, mochte ihrer eigenen Sorge entspringen, die sie bei seiner Abreise empfunden hatte. Handelsfahrten auf des Königs Straßen waren stets auch mit Gefahren verbunden.

›Hier stehe ich herum, gaffe den Rücken eines Wildfremden an, während sich mein Tagwerk nicht von selbst erledigt!‹, dachte sie, ärgerlich auf sich selbst. Entschlossen drehte sie sich um und setzte endlich ihren Weg fort.

Doch die Besorgnis wich nur zäh. Als Rifka mit vollem Korb nach Hause zurückkehrte, war sie selbst überrascht, welche Last ihr von der Seele fiel, als sie den Franzosen nirgendwo mehr entdecken konnte.

Das Geheimnis der Burggräfin

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