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KAPITEL 4
ОглавлениеSachsen, 22. Juni im Jahre des Herrn 1066
Der nächste Morgen traf den Burggrafen nicht in bester Stimmung an. Er hatte das Fest früh verlassen und sein Unbehagen anschließend auf der Burg mit reichlich Bier und Met hinuntergespült. Als er erwachte, brummte sein Schädel, und er fragte sich, wieso, in aller Welt, er in der Waffenkammer auf dem nackten Boden geschlafen hatte und nicht, wie gewöhnlich, unten auf seinem Lager beim Herdfeuer.
Dunkel erinnerte er sich daran, dass er noch spät in der Nacht in Schwermut versunken über seinem Becher gebrütet hatte, während das Gesinde schon längst am Herdfeuer schnarchte. Ein Nachtdämon musste ihn genarrt haben, denn schließlich hatte er sich in seinem Heim in Worms gewähnt und war, dem schemenhaften Schwanz einer Katze folgend, die Treppe zu seiner Schlafkammer hinaufgewankt. Was sich dann in jenem schmalen Streifen Sonnenlicht, der durch die Schießscharte auf einen Stapel Pfeile fiel, als betrüblicher Irrtum erwies.
Als Bandolf an der morgendlichen Tafel Platz nahm, stellte er fest, dass sein junger Schreiber noch immer abgängig war – ein Umstand, der nicht zur Besserung seiner Laune beitrug.
Nachdem er die rebellischen Säfte in seinem Magen mit Ingilds würzlosem Haferbrei besänftigt hatte, befahl er einem Burgknecht, mit ein paar Hörigen in Egininkisrod nach dem säumigen Prosperius zu suchen.
»Es ist mir gleich, aus welchem Bierfass ihr ihn zerren müsst, aber schafft ihn mir auf die Burg«, knurrte er. Obgleich er sich im Stillen schwor, dass Prosperius die Prügel, die ihn für seine Trödelei erwarteten, nicht wieder vergessen würde, beschlich den Burggrafen doch allmählich auch die Sorge, dem Burschen könne etwas zugestoßen sein.
Bandolf seufzte. Sein Weib hatte einen Narren an dem Tunichtgut gefressen, seit der Burggraf den hohlwangigen Bengel auf dem Marktplatz in Worms aufgelesen und kurzerhand als seinen Schreiber verdingt hatte. Matthäa würde ihm die Hölle heißmachen, wenn er Prosperius nicht wohlbehalten nach Worms zurückbrächte.
»Falls ihr ihn im Dorf nicht findet, dann sucht den Wald um Mittelberg und Buchenfels ab«, fügte er hinzu und murmelte: »Am Ende hat sich der kleine Narr noch in der Nacht auf den Rückweg gemacht und irrt jetzt irgendwo im Unterholz herum.«
»Bußübungen und ein paar Tage bei Wasser und Brot im Kerker werden Eurem Schreiber den Schlendrian schon austreiben und ihn lehren, seinen Pflichten nachzukommen«, bemerkte Bruder Fridegist, während er nach einem gepellten Ei griff, das er wohlgefällig betrachtete.
Unbehaglich dachte Bandolf an den finsteren Kerker, der sich unmittelbar unter seinen Füßen im Erdgeschoss des Bergfrieds befand. Das Angstloch in der Mitte der kleinen Halle, verborgen unter den Binsen, war der einzige Zugang. Mit nicht geringem Stolz hatte Meister Sigbrecht dem Burggrafen bei seiner Ankunft gezeigt, wie er die Falltür über der Öffnung mittels eines Hebels auftun könnte, sodass der Übeltäter durch das plötzlich entstandene Loch im Boden hinunter in den Kerker stürzte.
»Welche Bußübungen Ihr Euren Schutzbefohlenen auferlegt, ist Eure Angelegenheit. Wer in den Kerker kommt, ist jedoch meine«, erwiderte er scharf.
»Gewiss.« Eine Spur Enttäuschung schien in Bruder Fridegists Stimme mitzuschwingen.
Bandolf runzelte die Stirn. »Da Ihr just von Pflichten sprecht: Habt Ihr die Urkunde, die ich Euch auszustellen bat, nun endlich fertiggestellt?«
»Bedauerlicherweise hatte ich noch keine Gelegenheit dazu«, murmelte der Kaplan undeutlich in den fleckigen Ärmel seiner Kutte, mit dem er sich den Mund abwischte.
»Wenn ich mich recht entsinne, gab ich Euch diesbezüglich Order kurz nach Eurer Ankunft. Wollt Ihr mir sagen, Ihr hättet in diesen Wochen noch keine Zeit für die Ausfertigung einer einfachen Urkunde gefunden?«, fragte Bandolf. Mit einem Anflug von Sarkasmus fügte er hinzu: »Ich werde meinen Sohn wohl schon aufs Pferd setzen, bevor seine Mutter mein Geschenk anlässlich seiner Geburt erhält?«
Eine feine Röte überzog Bruder Fridegists Wangen, als sein feistes Gesicht hinter dem Ärmel auftauchte. Er warf dem Burggrafen einen raschen Blick zu, bevor er ihn an einem Punkt hinter ihm festmachte. Mit einem tiefen Seufzen breitete er die Arme aus.
»Meine Pflichten hier sind vielfältiger Natur, lieber Burggraf, und die Sorge um das Seelenheil der Euren nimmt mich vollständig in Anspruch.«
»Wenn dem so ist ...« Bandolf hob eine Augenbraue. »Und Eure Pflichten führen Euch ... wohin?«
»Was meint Ihr?«
»Mir ist nicht entgangen, wie oft man Euch vergeblich auf der Burg sucht, wenn man Euch braucht.«
In offenkundigem Unbehagen leckte sich der Kaplan über die Lippen, doch wurde er einer Antwort enthoben. Ein Torwächter hatte die hölzerne Außentreppe zur Halle erklommen und steckte seine Nase durch das Mannsloch, den einzigen Zugang in den dicken Mauern des Bergfrieds.
Ein Bote habe eine Nachricht für den Burggrafen überbracht, erklärte er. Der Abt von Sankt Mauritius wünsche den Burggrafen zu sprechen.
»Hat der Mann gesagt, in welcher Angelegenheit Vater Hademar mich sprechen will?«, erkundigte sich Bandolf überrascht.
»Nein, Herr. Es hieß nur, es sei dringlich, und der Ehrwürdige Vater würde Euch nach der Terz erwarten.«
Tautropfen funkelten noch auf Blüten, Beeren und Gräsern am Rand der Quelle neben dem Hohlweg, als Bandolf mit Bruder Fridegist im Schlepptau die Burg verließ. Der Lärm der Bauleute, die ihre Arbeit am Palas wieder aufgenommen hatten, begleitete die beiden Männer, bis sie am Fuß des holprigen Wegs in den Wald eintauchten. Dort verlor sich der Klang von Hammer und Meißel rasch im Murmeln des Bachs und im Rauschen der Blätter.
Schnurgerade, wie ein Vogel flog, lag das Kloster nur eine knappe halbe Wegstunde entfernt auf dem gegenüberhegenden Mittelberg. In einer windstillen Nacht konnte man auf der Burg gelegentlich den leisen Nachhall der Glocke hören, die die Mönche zu den Horen rief, doch es gab keine Brücke über den Bach und auch keinen Pfad die steile, baumbewachsene Böschung jenseits hinauf. Der einfachste Weg war der längere Weg und führte über Egininkisrod.
Der Burggraf grübelte darüber nach, was der Abt von Sankt Mauritius wohl so Dringliches mit ihm zu besprechen hätte, während er mit halbem Ohr seinem Kaplan lauschte, der die Gelegenheit nutzte, ihm ein weiteres Mal die Vorteile einer eigenständigen Burgkapelle ausführlich zu schildern.
»Bedenkt doch nur das Ansehen, das auf Euch zurückfiele, würde man die Kapelle beispielsweise in der Nähe des Tors errichten«, führte er aus. Groß und prächtig müsse sie natürlich sein, wolle der Burggraf mit den anderen königlichen Burgen mithalten. Und würde die Burg beispielsweise belagert werden, würden auch alle Burgsassen in einer solchen Kapelle Platz finden. Er wolle den Burggrafen ja keinesfalls bedrängen, doch würde es ihn schmerzen, wenn Bandolf von Leyen mit nur einer winzigen Kammer im Palas würde vorliebnehmen müssen, um seine Gebete zu verrichten.
Auch würde es beispielsweise die Gemahlin des Burggrafen zweifelsohne vorziehen, beim Gottesdienst nicht vom Lärm im Palas abgelenkt zu werden.
»Und wenn der Palas fertig ist und Ihr Gäste haben werdet ...«
»Beispielsweise«, warf Bandolf trocken ein, der nachgerade bedauerte, dass er nicht auf seinen Marschalk gehört und anstelle des geschwätzigen Kaplans ein paar Reisige zu seinem Schutz mitgenommen hatte.
»Nun ... ähm ... ja ... gewiss«, murmelte Bruder Fridegist. Er räusperte sich und fuhr dann unverdrossen fort.
»Stellt Euch nur vor, Ihr würdet einen hohen Gast wie den Grafen von Blois bewirten. Und der Mann fände auf Eurer Burg nur einen kleinen Auswuchs des Palas’ als Kapelle vor.«
Bandolf lachte. »Herrje, Kaplan, was wollte denn just ein Graf von Blois auf einer unwirtlichen Burg im Harudengau, wo sich Fuchs und Hase ein Stelldichein geben?«
»Ich nahm es ja lediglich als Beispiel, Burggraf«, meinte Bruder Fridegist augenscheinlich gekränkt. »Womöglich ist der Graf mit Tidread von Krähenburgs Gemahlin verwandt. Wie man hört, entstammt Melisend von Souburg einer Familie aus Flandern, die wiederum entfernt mit dem Regenten von Frankreich verwandt ist. Was bedeuten könnte, dass Stephan von Blois, womöglich von Vaterseite her ...«
»Bei allen Heiligen, Kaplan, was schwatzt Ihr denn da zusammen?« Bandolf hob eine Braue. »Wollt Ihr damit sagen, der Graf von Blois-Champagne hält sich tatsächlich derzeit in Sachsen auf? Auf Tidreads Burg?«
»Nun, ähm ... nein. Ich weiß nicht, wo sich Graf Tibault von Blois und Champagne derzeit aufhält. Es ist sein Sohn Stephan, der seit Kurzem auf der Krähenburg zu Gast ist.«
»Und was will er hier?«
Bruder Fridegist seufzte: »Nun, Burggraf, wie ich just auszuführen versuchte, mag es sich um einen verwandtschaftlichen Besuch handeln.«
Bandolf gab ein unbestimmtes Grunzen von sich, und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Der Zeitpunkt für einen verwandtschaftlichen Besuch eines Grafensohnes aus Burgund im unruhigen Sachsen schien ihm eigentümlich gewählt.
Der Burggraf hatte nicht lange Muße, über den Besuch Stephans von Blois bei seinem Nachbarn Tidread nachzugrübeln, denn kurze Zeit später erreichten sie Egininkisrod.
Schon von weitem konnte Bandolf die aufgebrachten Stimmen einer Handvoll Dörfler hören, die sich um den Brunnen in der Dorfmitte versammelt hatten. Die hitzige Debatte verstummte, als er näher kam. Die Dörfler verneigten sich, doch Bandolf bemerkte sehr wohl die zornigen Blicke, die man ihm zuwarf. Ehe er sich noch fragen konnte, was er denn nun wieder verbrochen hatte, um den Unmut der Leute zu erregen, teilte ihm einer der Bauern mit, falls der Burggraf seine Knechte suche, die hätten das Dorf bereits wieder verlassen. Nicht ohne zuvor das Unterste nach oben gekehrt zu haben. Und völlig umsonst, wohlgemerkt, denn der Bursche, den sie offenbar gesucht hatten, sei ja nicht hier gewesen. Was man den Knechten des Burggrafen im Übrigen auch gesagt hätte.
Eingedenk seiner schwierigen Lage, versprach Bandolf, jemanden zu schicken, der die Schäden begutachten sollte, die seine Leute angeblich verursacht hätten, und erkundigte sich dann, ob sein Schreiber am Vortag im Dorf gesehen worden sei.
Die Antwort war ein vages Achselzucken und ostentatives Schweigen. Als sich schließlich noch der Alte, den Bandolf vom Sonnwendfest in unangenehmer Erinnerung hatte, zu der schnippischen Bemerkung hinreißen ließ, man habe es doch allenthalben schwer genug, die ewig hungrigen Mäuler auf der Burg zu stopfen, da könne man nicht noch den Hüter für das lose Gesinde des Burggrafen abgeben, verlor Bandolf die Geduld.
»Dann will ich euch doch nicht länger von der Arbeit abhalten«, knurrte er. »Bedenkt, dass es für eure Abgaben längst Matthäi gewesen ist. Die hungrigen Mäuler auf der Burg warten schon seit Pfingsten auf drei Fuder Bier, fünf Hühner, zwei Ferkel, drei Pfund Wachs und zwanzig Laib Käse, und mein Langmut mit euch ist nicht ohne Ende.«
Das brachte den Alten zum Schweigen, und die Dörfler trollten sich mit betretenen Gesichtern.
»Warum schickt Ihr nicht endlich einen Trupp Eurer Reisigen in die Dörfer, um die fehlenden Abgaben einzutreiben?«, erkundigte sich Bruder Fridegist, als sie dem Dorfrand zustrebten. »Das würde das Landvolk rasch Mores lehren.«
»Sich mit Gewalt zu holen, was nicht da ist, wäre womöglich ein nutzloses Unterfangen, meint Ihr nicht?«
Missbilligend schüttelte Bruder Fridegist den Kopf und warf sich in die Brust: »Wie Ihr wisst, hatte ich das Amt des Propstes von Sankt Johannes in Halberstadt inne, bevor mich der Bischof zum Kaplan ernannte. Solche Klagen sind mir dabei häufig zu Ohren gekommen. Nichts als Augenwischerei, das mögt Ihr mir glauben. Es findet sich doch immer noch ein Sack Roggen und das eine oder andere Ei, wenn man nur forsch genug danach sucht.«
»Kümmert Ihr Euch um ausstehende Urkunden und überlasst die Sorge um ausstehende Hühner mir«, schnaubte Bandolf. Doch insgeheim zerbrach er sich schon seit geraumer Zeit den Kopf darüber, wie er mit den Dörflern verfahren sollte. Dass die aufgehetzten Bauern ihm aus Trotz zu Leid lebten, mochte er schon glauben. Aber auch die hohlwangigen Gesichter unter den Dörflern waren ihm nicht entgangen. Heftige Regenfälle im Frühling hatten die Ernte spärlich werden lassen, und die Sonne, die jetzt heiß vom Himmel brannte, war zu spät gekommen. Ob seinem König diese Erklärung für die fehlenden Abgaben genügen würde, wagte Bandolf jedoch zu bezweifeln.
»Ich wünschte bei Gott, diese verdammte Burg stünde schon mit dem letzten Schlussstein da«, grollte er.
Hinter dem Dorf kreuzte sich der Weg. Ein nordwärts ausgerichteter Galgen, an dem ein halb verwester Leichnam hing, markierte die Kreuzung. Man hatte den Galgen mit einem Geweih geschmückt, damit jedermann sehen konnte, dass hier ein Wilderer sein Leben gelassen hatte. Der Leichnam stank. Zum Ergötzen der Raben und zum Grausen der Vorübergehenden würde er jedoch aufgeknüpft bleiben, bis seine angenagten Gebeine morsch wurden und von selbst abfielen.
Am Galgen vorbei verlief ein breiter Pfad durch Rüben- und Roggenfelder nach Westen. Hinter den Äckern befanden sich einige der Erzgruben, um die sich der junge König mit seinen sächsischen Edlen stritt. In nördliche Richtung führte ein Karrenweg zur königlichen Jagdpfalz Bodfeld.
Der Burggraf und sein Begleiter schlugen den Pfad ein, der schnurgerade nach Osten wies. Kaum hatten sie die Fischteiche der Dörfler zu ihrer Rechten passiert, mündete der schmale, schwach ansteigende Weg in den Wald, und die Sonne verlor sich im tiefgrünen Laub der Baumkronen.
Nach einiger Zeit, die Bruder Fridegist damit verbrachte, den Burggrafen mit einer Schilderung seiner kaum zu bewältigenden Pflichten gründlich zu langweilen, wurde das Unterholz links des Wegs lichter. Etwa fünfzig Schritte waldeinwärts, halb verborgen hinter den Bäumen, erhob sich dort ein felsiger Hügel, auf dem das Kloster Sankt Mauritius wie ein Vogelnest thronte. Ein ausgetretener Trampelpfad führte hügelan zur Pforte in der hohen Mauer, die das Kloster umgab.
Die Kirche, ein rechteckiges Bauwerk aus rotem Sandstein, zeigte schon erste Spuren der rauen Witterung, wogegen der vorgebaute Glockenturm offenbar erst in jüngerer Zeit errichtet worden war. Für die übrigen Gebäude hatte man das Holz des Waldes genutzt und die Dächer mit Stroh gedeckt.
Der Bruder Pförtner gab Bandolf zu verstehen, dass man ihn unter vier Augen zu sprechen wünsche, und während sich Bruder Fridegist mit tief gekränkter Miene in Richtung Kirche davonmachte, winkte der Pförtner einen seiner Mitbrüder herbei, der sich in der Nähe des Tors die Beine zu vertreten schien.
Der Mönch, ein junger Bursche mit runden, apfelroten Wangen und karottenfarbenem Haar, führte den Burggrafen ins Kapitelhaus und einen langen niedrigen Gang entlang, der von ein paar Fackeln erhellt wurde.
Nach einer Weile bemerkte Bandolf, dass der junge Mönch ihn verstohlen musterte.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Mein Name ist Wynstan, Herr.« Der junge Mönch blickte auf und lächelte scheu. »Ich war Novize mit –«
»Bruder Wynstan.«
Obwohl die Stimme in ihrem Rücken milde geklungen hatte, zuckte Bruder Wynstan heftig zusammen und blieb mit augenblicklich gesenktem Kopf stehen.
Bandolf hingegen drehte sich um.
›Euryalus von herrlichem Wuchs und blühender Jugend‹, fuhr ihm eine Zeile aus der Aeneis durch den Kopf, als der Sprecher nach wenigen Schritten vor ihm stehen blieb und ihn mit einem leisen »Benedicite« begrüßte.
Kettenhemd und Lanze hätten dem Mönch weit besser zu Gesicht gestanden als Kreuz und Kutte. Nur wenige Fingerbreit kleiner als der stattliche Burggraf, besaß er einen wohlgeformten Leib mit kräftigen Schultern, die sich deutlich unter seiner matt schimmernden Robe abzeichneten. Der Ausdruck seiner auffallend schönen Züge wirkte beherrscht und eigentümlich ausdruckslos, als würde er jede Regung in seinem Gesicht sorgfältig im Zaum halten. Während Bandolf den Gruß erwiderte, fragte er sich unwillkürlich, was er dahinter wohl zu verbergen trachtete.
»Ich bin Bruder Ordlaf, Prior in Sankt Mauritius«, sagte er und schenkte Bandolf ein kühles Nicken. Dann bedeutete er dem jungen Mönch mit einer sparsamen Geste, dass er sich entfernen dürfe. Bruder Wynstan schien zu zögern. Mit einem raschen Blick auf den Burggrafen biss er sich auf die Lippe, ehe er der Anweisung des Priors folgte. Aus dem Augenwinkel sah Bandolf ihn hinter einem Holzpfeiler verschwinden.
Auch der Prior hatte Bruder Wynstan nachgesehen, doch der reglose Ausdruck seiner ebenmäßigen Züge hatte sich nicht verändert. »Wenn Ihr mir folgen wollt, Burggraf.«
Schweigend führte er Bandolf in eine Zelle neben dem Kapitelsaal, in der der Abt ihn auch bei seinem ersten Besuch empfangen hatte. Die kleine Kammer war leer.
Der Burggraf hob eine Braue. »Man sagte mir, Vater Hademar wünsche mich in einer dringlichen Angelegenheit sprechen«, bemerkte er und wandte sich zu Bruder Ordlaf um, der hinter ihm eingetreten war und die Tür geschlossen hatte.
Der Prior gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Zu seinem größten Bedauern ist der Ehrwürdige Vater augenblicklich verhindert. Er bat mich, Euch zu sagen, was zu sagen ist.«
»Schön. Dann heraus damit.«
Der Prior senkte schweigend den Kopf, als müsse er sich sammeln, doch schließlich blickte er auf und sah Bandolf abwägend an.
»Ich will Euch nicht unnötig aufhalten, Burggraf, darum ohne Umschweife: Ihr hattet einen Novizen unseres Ordens in Euren Diensten, daher hielt es Vater Hademar für angebracht, Euch mitzuteilen, dass wir ihn in Gewahrsam genommen haben.«
Bandolf runzelte die Stirn. »Das muss ein Irrtum sein. Keiner Eurer Brüder steht in meinen Diensten.«
»Der Name des Novizen ist Prosperius, und wie wir erfuhren, hattet Ihr ihn als Schreiber verdingt.«
»Prosperius?«, wiederholte Bandolf überrascht. Zwar hatte er gewusst, dass sein junger Schreiber in einem Kloster aufgewachsen war, doch nicht, in welchem. »Prosperius war Novize in Sankt Mauritius?«
»Er ist es noch«, betonte Bruder Ordlaf.
Bandolf warf ihm einen wachsamen Blick zu. »Ihr sagtet, Ihr hättet meinen Schreiber in Gewahrsam genommen. Aus welchem Grund?«
Ein Hauch von Unbehagen schien sich über die reglosen Züge des Priors zu legen. Bedächtig bewegte er sich an Bandolf vorbei, sodass der Burggraf gezwungen war, sich nach ihm umzudrehen. Bei einer Truhe, die beim Lesepult des Abts stand, blieb er stehen und schien eingehend das hölzerne Kreuz zu betrachten, das darüber an der Wand hing.
»Ihr habt einem Mörder Obdach gewährt, Burggraf«, sagte er endlich, ohne sich umzuwenden. »Vor etwas mehr als zwei Jahren stach Bruder Prosperius unseren Novizenmeister aufs Schrecklichste nieder und entzog sich durch Flucht seiner Verantwortung. Um aber das Maß seiner Schlechtigkeit vollzumachen, fand man Prosperius gestern über die Leiche unseres Bruders Adelbald gebeugt. Wie einst seinen Mitbruder Edmund, hat er auch Bruder Adelbald erdolcht.«
Bandolf stieß einen ungläubigen Laut aus, den der Prior offenbar als Entsetzen deutete, denn er drehte sich um und sah ihn unbewegt an. »Ja, Burggraf, Ihr habt eine Natter an Eurem Busen genährt. Hinter Bruder Prosperius’ unschuldiger Larve verbirgt sich eine betrüblich schwarze Seele.«
Unter zusammengezogenen Brauen starrte Bandolf den Prior wortlos an. Zwar konnte er seinen jungen Schreiber mühelos mit allen möglichen Streichen und Mauscheleien in Verbindung bringen, jedoch beim besten Willen nicht mit einer solchen Tat.
Kein Wunder, dass sich der lästige Bengel derart gesträubt hatte, mit nach Sachsen zu kommen.
»Eine schwere Anschuldigung, Prior. Das müsst Ihr mir schon genauer erläutern«, forderte der Burggraf, als er seine Stimme endlich wiedergefunden hatte.
»Dies mit Euch zu erörtern steht mir nicht zu.«
»Was soll das heißen?«
»Derlei müsstet Ihr mit dem Ehrwürdigen Vater besprechen.«
»Wie Ihr wollt.« Bandolf zuckte mit den Schultern und strebte der Tür zu. »Dann übergebt Prosperius jetzt meinem Gewahrsam. Sobald ich mehr über die Angelegenheit weiß, werde ich bei Vater Hademar vorsprechen.«
»Bedaure, Burggraf, aber wir können Bruder Prosperius nicht Eurer Obhut übergeben«, erwiderte Bruder Ordlaf. »Nach wie vor ist er Novize unseres Ordens. Die Kirche wird über ihn richten.«
Bandolfs Groll darüber, dass ihm Prosperius verschwiegen hatte, wessen man ihn hier beschuldigte, mischte sich mit plötzlicher Angst um den kleinen Nichtsnutz. Er fuhr herum und baute sich mit verschränkten Armen vor dem Prior auf. »Prosperius stand über Jahr und Tag in der Stadt Worms in meinen Diensten«, sagte er scharf. »Er untersteht weltlichem Recht und meiner Gerichtsbarkeit, die ich als Burggraf von Worms und Vogt der Buchenburg innehabe.«
»Darüber kann ich nicht entscheiden, Burggraf.« Eine Spur Röte überzog Bruder Ordlafs ebenmäßiges Gesicht, doch ob sie von Wut oder Verlegenheit herrührte, konnte Bandolf nicht erkennen.
»Dann lasst mich das mit dem Abt ausmachen«, verlangte Bandolf, doch der Prior schüttelte den Kopf.
»Auch diesen Wunsch kann ich zu meinem tiefsten Bedauern just nicht erfüllen, Burggraf. Wie ich Euch bereits sagte, ist der Ehrwürdige Vater mit einer äußerst dringlichen Klosterangelegenheit befasst und derzeit unabkömmlich.«
»Darauf verwette ich meinen Bart«, dachte Bandolf grimmig. »Dann sagt ihm, dass ich morgen wiederkomme«, knurrte er und war aus der Tür, ohne die Antwort des Priors abzuwarten.
Obwohl er gute Lust gehabt hätte, jeden einzelnen Verschlag einzutreten, bis er Prosperius gefunden hätte oder doch zumindest den so passenderweise schwer beschäftigten Abt, verließ Bandolf das Kloster, ohne Schaden anzurichten. Jedoch auch ohne seinen Kaplan.
Erst auf halbem Weg zur Buchenburg fiel ihm ein, dass Bruder Fridegist noch in der Kirche von Sankt Mauritius auf ihn wartete. Nun, der Kaplan würde selbst seinen Weg zur Buchenburg zurückfinden – was mehr war, als man von Prosperius behaupten konnte.
›Das Dringlichste ist, ihn aus dem Kloster herauszuschaffen, bevor ein Schuldspruch ergangen ist‹, überlegte Bandolf und zerbrach sich den Kopf, wie er das anstellen sollte. Im Gegensatz zum Abt, für den Prosperius’ Schuld bereits festzustehen schien, glaubte er keinen Lidschlag lang, dass sein Schreiber fähig war, derlei Gewalttaten zu begehen, wie man sie ihm zur Last legte.
Als der Burggraf Prosperius zum ersten Mal auf dem Marktplatz zu Worms begegnet war, hatte der Bengel sich just bemüht, einen Kaufmann um seinen Beutel zu erleichtern. Selbstredend war er nicht in der Lage gewesen, die Buße dafür zu berappen, doch Bandolf hatte nicht das Herz gehabt, den hohlwangigen jungen Burschen mit den hungrigen Augen dem Marktbüttel zu übergeben.
Da Prosperius des Schreibens und Lesens kundig war, hatte er ihn als Schreiber verdingt – eine Tätigkeit, in der sich der Bengel als klug und anstellig erwies. Und obwohl Prosperius nie gelernt hatte, auf ein heimliches Zubrot zu verzichten, wenn man es ihm unter die Nase hielt, war er doch binnen Kurzem ein fester Bestandteil in Bandolfs Haus geworden.
Nach seinem Woher und Wohin befragt, hatte Prosperius von einem Kloster im Norden berichtet, von wo er mit einigen seiner Mitbrüder zu einer Pilgerreise nach Rom aufgebrochen war. In Köln hätte er seine Mitbrüder aus den Augen verloren und sich dann allein weiter auf den Weg gemacht, in der Hoffnung, seine Brüder unterwegs wiederzufinden. Doch auf dem Weg nach Worms seien ihm die Mittel ausgegangen, und von unsäglichem Hunger geplagt, wäre ihm der Beutel des Kaufmanns als letzter Ausweg vor dem Hungertod eingefallen.
›Ich werde ihm für seine Lügen das Fell über die Ohren ziehen‹, schwor Bandolf sich zornig, während er den Hohlweg zur Burg hinaufstapfte. Doch dazu musste er den unseligen Bengel zunächst einmal in die Finger bekommen. Und würde der Abt sich weiterhin dagegenstellen, dass Bandolf Prosperius in Gewahrsam nahm, konnte sich ebendies als schwieriges Unterfangen erweisen. Mochte der Burggraf de facto auch im Recht sein, der Arm der Kirche war lang.
›Und allemal länger als meiner‹, dachte Bandolf mit grimmig verzogenem Gesicht.
Wenn der Abt darauf beharrte, dass sein Schreiber noch immer der klösterlichen Gemeinschaft angehörte, konnte ein kleiner Burggraf wie er leicht den Kürzeren ziehen, und Prosperius würde ein für alle Mal hinter der Klostermauer verschwinden.
Bei dem Gedanken daran, welches Schicksal seinen jungen Schreiber dann erwarten würde, stellten sich Bandolfs Nackenhaare auf.