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KAPITEL 2

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Sachsen, Sommersonnenwende im Jahre des Herrn 1066

Mit einem dumpfen Ächzen fiel die eingelassene Pforte im Burgtor hinter Prosperius zu.

Für den jungen Schreiber hatte das Geräusch etwas fatal Endgültiges an sich, und trotz der Mittagshitze, die ihm den Schweiß aus den Poren trieb, lief ein Frostschauer über seinen Rücken.

Hastig machte er kehrt, um an das Mannsloch im Tor zu klopfen, damit man ihn wieder einließe.

Aber wie sollte er dem Burggrafen erklären, wieso er so rasch und unverrichteter Dinge zurückkehrte?

Probehalber versuchte Prosperius sich an einem schmerzlichen Lächeln, verzog die kleine aufwärtsstrebende Nase und schlug treuherzig die dunklen Augen auf. Im Nu zeigte sein schmales Gesicht ein Bild puren Jammers.

»Die Hitze macht mich ganz schwindelig, Herr«, ächzte er. »Seht doch nur, wie mir die Glieder schlottern.«

Um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, sackte er ein wenig in die Knie und schlackerte mit den Armen. Seine mageren Schultern zuckten, als litte er an der Fallsucht.

Doch dann schüttelte er betrübt den Kopf und richtete sich mit einem tiefen Seufzen wieder auf. Nein, so würde es nicht gehen. Dieselbe Ausflucht hatte er schon verwendet, als der Burggraf ihn zur königlichen Jagdpfalz Bodfeld mitnehmen wollte.

Angestrengt nachdenkend runzelte er die Stirn. ›Bauchgrimmen?‹, überlegte er. Seine Miene hellte sich auf, nur um sich einen Lidschlag später wieder zu verdüstern.

Bauchgrimmen – das hatte er schon gleich nach ihrer Ankunft in Sachsen vorgeschützt, damit sein Herr ihn nicht zum Kloster Sankt Mauritius mitschleppte, wo Bandolf von Leyen sich die Unterstützung des Abtes für sein neues Amt als Vogt der Buchenburg erhoffte.

›Warum, bei allen Heiligen, hatte es denn auch eine sächsische Burg sein müssen? Wieso nicht eine suebische, oder eine bajuwarische?‹, haderte der junge Schreiber im Stillen. Aber nein! Nach Sachsen hatte der König seinen Herrn schicken müssen. Und von allen möglichen Orten im Harudengau auch noch ausgerechnet hierher!

Entmutigt starrte Prosperius die wehrhafte Burgmauer an und den Bergfried, der sich dahinter erhob.

Auf dem Plateau einer steil aufragenden Anhöhe, die die Sachsen den Buchenfels nannten, hatte man dem dichten Wald Platz für die Burg abgerungen, die Heinrich IV., König von Gottes Gnaden über das fränkische Reich, zum Schutz und Trutz für das Land ringsum erbauen ließ. Das Land, das so reiche Schätze wie Erz und Silber in seinem Leib barg.

Die Mauern der Burg waren gut und gerne so dick, wie Prosperius’ Arme lang waren, und der Bergfried schien wie eine bleiche, steinerne Faust inmitten eines tiefgrünen, sonnengesprenkelten Meers wogender Bäume in den Himmel zu ragen.

Ein Stück vom Turm entfernt konnte der junge Schreiber die obere Hälfte eines Baukrans und ein hölzernes Gerüst ausmachen. Hier sollte der Palas entstehen. Die niedrigen Hütten der Reisigen, des Baumeisters, der Maurer, Steinmetze, Zimmerleute und Schmiede, die sich im Innern an die Burgmauer schmiegten, und die Öfen, Seilwinden und zu Stapeln aufgeschichteten Steinquader und Baumstämme, um die auf dem Burghof Tag um Tag lärmende Betriebsamkeit herrschte, blieben seinem Blick jedoch verborgen.

Heute war es auf dem Buchenfels ungewohnt still.

Zur Sonnwendfeier ruhte jede Arbeit, und das sächsische Landvolk nutzte die Gelegenheit, um in den umliegenden Dörfern zu feiern und ihren Zorn auf den jungen Herrscher und den landesfremden Burggrafen in Met und Bier zu ertränken.

Unglücklich biss sich Prosperius auf die Lippe.

Mochte es hier auf dem Buchenfels auch ruhig sein, in Egininkisrod würde es anders zugehen.

Vor den Häusern im Dorf würde heute gezecht, gesungen und getanzt werden. Jeder junge Bursche, ob Bauernsohn oder Höriger, wäre auf den Beinen, um Holz zu sammeln und es auf die baumlosen Höhen hinaufzuschaffen, wo man es zu großen Stapeln für das Sonnwendfeuer aufschichten würde. Die Frauen und Mädchen würden am Dorfrand und auf den Wiesen Schafgarbe, Johanniskraut, Wegerich, Efeu und Wucherblume pflücken und die Kräuter in der Kirche zu Sankt Mauritius segnen lassen. Kränze wurden aus den geweihten Pflanzen geflochten und Sträuße gesteckt, mit denen man die Häuser, Ställe und Scheunen schmückte. Sie galten als besonders wirksamer Schutz gegen all die Geister, Feen und die Wilden Jäger, die für eine Nacht aus der Hölle emporsteigen würden.

Prosperius seufzte. Es müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn es ihm gelänge, sich ausgerechnet heute ungesehen am Dorf vorbeizustehlen, dachte er und zermarterte sich den Kopf um eine Ausrede, die es ihm erlauben würde, hinter die starken Mauern der Burg zurückzuflüchten.

Doch gerade jetzt, wo er so dringend eines Einfalls bedurfte, ließ ihn seine Erfindungsgabe im Stich. Zumal die Stimme seines Herrn ihm noch deutlich in den Ohren klang.

»Nein! Komme mir ja nicht wieder mit einer deiner hanebüchenen Ausflüchte daher. Ich will nichts von den Befindlichkeiten deiner Säfte wissen. Davon habe ich, weiß Gott, genug von dir gehört, seit wir Worms verlassen haben«, hatte Bandolf von Leyen geknurrt und seinem jungen Schreiber den Wind aus den Segeln genommen, noch bevor Prosperius zu einer Widerrede hatte ansetzen können.

»Du wirst diesen jüdischen Händler aufsuchen, wie ich dir angeschafft habe, und ihm ausrichten, dass er auf der Burg vorstellig werden soll. Und falls er das eine oder andere Fuder Wormsgauer Roten unter seinen Waren hat, soll er die Fässer gleich heraufbringen lassen. Das soll sein Schaden nicht sein, sag ihm das. Habe ich mich verständlich gemacht?«

Mehr noch als die Worte hatte ein Blick in das breite, bärtige Gesicht des Burggrafen mit den unnachgiebig zusammengezogenen Brauen Prosperius davon überzeugt, dass dieses Mal jeglicher Widerspruch zwecklos wäre.

Und dann war er auch schon über den Burghof getrabt, hadernd mit seinem Schicksal im Allgemeinen und dem Juden insbesondere, der zu solcher Unzeit von Worms ins Sächsische heraufgekommen war.

Ja, und nun stand er draußen vor dem Tor. Ausgesperrt.

Entmutigt starrte Prosperius die abweisenden Mauern an, und ihm war, als stünde er mit all seinen Sünden beladen vor dem Himmelsportal und bäte um Einlass. Für einen Augenblick hoffte er noch, das Mannsloch möge sich wie durch Zauberhand für ihn öffnen, doch bei dem schweren, eisenbeschlagenen Tor rührte sich nichts, und endlich wandte er sich widerstrebend um.

Mit einem flauen Gefühl im Magen und ängstlich bemüht, nicht in die gähnende Tiefe hinabzuschauen, überquerte Prosperius die Brücke, die für sein Empfinden allzu schmal und luftig über den Graben um das Burgplateau führte.

Am anderen Ende der Brücke schlängelte sich ein Hohlweg steil nach unten. Karren und Lastschlitten, die das schwere Baumaterial auf die Burg beförderten, hatten den Weg wie eine Schneise in das zähe Gestrüpp aus Hartriegel, Weißdorn, Himbeer- und Brombeergesträuch geschlagen und den Boden mit tiefen Narben gezeichnet.

Prosperius sprang neben einem Quellbach, dem der Hohlweg folgte, nach unten. Ein Gewirr aus Gräsern, blühenden Kräutern und Trieben säumte die Quelle zu seiner Rechten. Zu den blaugelben Tupfen von Vergissmeinnicht, dem gelb blühenden Münzkraut und den tiefblauen Blüten von Eisenhut und Glockenblumen gesellten sich die schillernden Farben der Zitronenfalter, Pfauenaugen und Perlmuttschmetterlinge, der Hummeln, Bienen, Mücken und Libellen, die die Dolden und Blüten umschwirrten. Kleine Erdbeeren funkelten rot zwischen dem Gebüsch am Wegrand, und eine Fülle reifer Himbeeren glänzte matt in der Sonne.

Obgleich ihm bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammenlief, bremste Prosperius seinen Lauf erst, als er am Fuß der Anhöhe angelangt war.

Hier mündete der Hohlweg in einen Waldpfad und der Quellbach in ein breites Bachbett, neben dem der Pfad einherlief. Der Bach, jetzt im Sommer nur noch ein Rinnsal, bildete eine schmale Senke zwischen dem Buchenfels und dem Mittelberg gegenüber.

Angespannt spähte Prosperius den Pfad entlang und lauschte. Als er niemanden sah, und das leise Murmeln der Bäume, die Rufe der Vögel und das Plätschern der Quelle, die den Bach speiste, die einzigen Geräusche waren, die er hörte, schlüpfte er auf den Pfad. Eichen, Buchen, Bergahorn und hohe Tannen schlossen ihre Wipfel über ihm zu einem Dach zusammen, und nur wenige Sonnenstrahlen fielen auf den weich gepolsterten Waldboden.

Prosperius folgte dem Pfad in südlicher Richtung. Vorsichtshalber hielt er sich nah an der zum Bachbett abfallenden Böschung, damit er sich notfalls im dichten Uferbewuchs verstecken könnte. Doch als er geraume Zeit später auf einen breiteren Karrenweg stieß, der den Pfad kreuzte, schien er noch immer die einzige Menschenseele im Wald zu sein, und es war nicht nötig gewesen, dass er sich heldenhaft in die Brennnesseln am Bachufer stürzte.

Wieder blieb Prosperius stehen und spähte unschlüssig um die Ecke. Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Doch das Dorf war nicht mehr weit entfernt, und er musste auf den Karrenweg nach Westen einbiegen, der geradewegs nach Egininkisrod führte, um zu seinem Ziel zu gelangen. Rechter Hand stieg das Gelände zum Mittelberg steil an, und das Unterholz zur Linken des Wegs schien undurchdringlich. Eine Möglichkeit, sich rasch zu verstecken, schien es hier nicht zu geben. Einen Spatzenflug vom Dorfrand entfernt, würde der Mittelberg sich jedoch zu den Fischteichen hin abflachen, die die Dörfler außerhalb von Egininkisrod angelegt hatten. Dort würde er den Weg verlassen und sich im Schutz der hohen Gräser am Ufer der Tümpel entlangbewegen können, beschwichtigte er sich, während er in den Karrenweg einbog. Hinter den Teichen auf einer Waldlichtung sollte der Jude mit seinen Leuten lagern, hatte der Burggraf gesagt.

Knapp hundert Schritte vor Prosperius machte der Weg eine Biegung, und kaum hatte er die Hälfte davon überwunden, verließ ihn sein Glück.

Undeutliche Rufe drangen an sein Ohr. Stimmen wurden laut, die rasch auf ihn zukamen.

Für einen Moment spürte der junge Schreiber seinen Herzschlag wild in der Kehle pochen, bevor das unstete Organ in seine Kniekehlen zu rutschen schien und seine Beine butterweich machte. Gehetzt sah er sich um. Doch weder rechts noch links schien das Gelände zu einem Zugeständnis an seine missliche Lage bereit. Da gab’s kein Durchkommen.

Schon wollte Prosperius kehrtmachen, um zu dem Pfad zurückzurennen, den er gekommen war, als ihm am Wegrand zu seiner Rechten ein Einschnitt im aufragenden Mittelberg ins Auge fiel. Die Kerbe im baumbewachsenen Felsgestein war nur ein paar Armeslängen von ihm entfernt.

›Süßer Jesus! Die Höhle der Heiligen Liutbirg‹, fuhr es ihm durch den Kopf, während er schon vorwärtsrannte.

»Bruder Adelbald!«, hörte er deutlich eine der Stimmen rufen, als er sich in die Mulde warf, die neben dem Weg wie eine hohle Hand in den Felsen eingemeißelt schien.

Der Eingang zur Höhle lag nur noch ein paar Schritte vor ihm. Die Öffnung reichte ihm bis zur Brust, und ein grob gezimmerter Bretterverschlag, der als Tür diente, stand einen Spaltbreit offen.

»Bruder Adelbald!«

»Bruuuu-deeeer Aaaaaadel-baaaaald!«

Prosperius warf einen raschen Blick über seine Schulter zurück, doch die Rufer hatten die Mulde noch nicht erreicht. Mit fliegender Hast zerrte er an dem Verschlag. Die Witterung hatte das Holz verzogen, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es seinen zitternden Fingern gelungen war, das Brettergebilde ein paar Handbreit weiter zu öffnen.

»Adelbald!«

»Wo steckt er nur?«

Für einen Augenblick schienen die Stimmen dicht hinter ihm zu sein, dann hatte er sich auch schon geduckt und seinen schmalen Körper durch den halb offenen Verschlag gezwängt.

Feuchte Kälte schlug Prosperius wie eine Faust entgegen, und die unvermittelte Finsternis war überwältigend. Blind stolperte er ein paar Schritte vorwärts, bis die Felsendecke jäh über ihm zurückwich und der Höhlengang sich zu einer kleinen Felsenkammer verbreiterte, in der er aufrecht stehen konnte. Stille umfing ihn, als hätte es die Rufer draußen nie gegeben.

»Allmächtiger!«, ächzte er. Seine Stimme klang hohl und hallte in der Dunkelheit wider. Er schlotterte vor Kälte.

Als sich seine Augen endlich bequemten, mit dem spärlichen Lichteinfall durch den Eingang vorliebzunehmen, sah er sich ängstlich um.

Der schmale Streifen Tageslicht erhellte nur einen kleinen Teil der gewölbten Wände, in deren marmorweißen, schwefelgelben und perlmuttfarbenen Oberflächen ein irre gewordener Steinmetz bizarr geformte Eiszapfen und schmelzenden Schnee eingemeißelt zu haben schien. Eine Öffnung, schwarz wie der Schlund zur Hölle, klaffte in der Wand gegenüber dem Einlass. Dort führte ein Gang tiefer in den Berg hinein zu Liutbirgs Höhlenklause.

Einen Moment lang überlegte Prosperius, ob er es wagen sollte, dem Gang ohne Licht zu folgen, entschied sich jedoch schaudernd dagegen. Nein, er würde einfach eine Zeitlang am Eingang warten. Nach einer Weile könnte er dann nachsehen, ob die Luft wieder rein wäre. Die Mulde lag tiefer als der Weg, und solange er hinter dem Holzverschlag blieb, würde man ihn nicht entdecken, selbst wenn jemand am Wegrand stehen blieb und in die Mulde schaute. Außerdem konnte er sich auch rasch wieder in der Felsenkammer verstecken.

Entschlossen kehrte er zum Eingang zurück, setzte sich mit angezogenen Beinen dicht hinter den Bretterverschlag und spähte durch den Spalt nach draußen.

Geduld zählte nicht zu Prosperius’ Tugenden. Die Zeit tröpfelte so zäh dahin, wie sich hinter ihm an den Höhlenwänden die Feuchtigkeit sammelte, um dann mit einem leisen »Pling« zu Boden zu fallen. Obwohl er so nah am Eingang saß, nur einen Steinwurf von der Sommerhitze entfernt, kroch die Kälte des Gesteins rasch in seine Glieder. Um sein Elend vollkommen zu machen, begann auch sein Magen zu rumpeln. Das Mahl zur Sext aus fadem Wurzelgemüse und trockenem Hirsebrot, das die sauertöpfische Ingild auf der Burg kredenzt hatte, schien schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Sehnsüchtig dachte er an die köstlich gewürzten Eintöpfe, die Filiberta, die Magd der Burggräfin, in Worms auf den Tisch zu bringen pflegte, und an die saftigen Beeren, die ihn unterwegs angelacht hatten.

Als er schließlich das Gefühl hatte, sein Hintern würde jeden Augenblick auf dem steinernen Boden festfrieren, beschloss Prosperius, dass er lange genug gewartet hatte.

Kaum war er jedoch durch den Verschlag geschlüpft und bis zum Rand der Mulde gehuscht, um auf den Karrenweg zu spähen, hörte er erneut Stimmen auf dem Weg. Dieses Mal kamen sie aus der anderen Richtung. Noch klangen sie gedämpft, aber sie näherten sich unmissverständlich seinem Versteck.

Heilige Jungfrau! Hatte er nicht gewusst, dass heute der denkbar schlechteste Tag war, um ungesehen am Dorf vorbeizukommen? Hätte Herwald nicht noch einen Tag länger warten können, bevor er dem Burggrafen von dem jüdischen Händler berichtete? Und wieso, zum Henker, musste der Jude auch nach Egininkisrod kommen? Hätte er sein Lager nicht anderswo aufschlagen können? In Thale oder Quedlinburg oder noch weiter weg? Oder doch wenigstens hätte er die Sonnwendfeier abwarten können!

Umgehend machte der junge Schreiber kehrt, zwängte sich durch den Verschlag und bezog seinen alten Posten beim Höhleneingang.

Die Stimmen kamen näher.

»... kann er nur ...«

»... wird sich ... einfinden, und ...«, hörte er undeutliche Satzfetzen.

Eine kleine Weile war es still, und als wieder gesprochen wurde, klang es schon sehr nah.

»... womöglich ist er ... sonst fällt mir nicht ein, ... und wir noch suchen könnten ...«

»... sollte er denn ausgerechnet dort zu schaffen haben?«

»Was fragst du mich das? Was hat er denn heute überhaupt außerhalb des Klosters zu schaffen?«

Vier Paar sandalenbewehrte Füße und Säume schwarzer Kutten gerieten in Prosperius’ Blickfeld und blieben zu seinem Unbehagen am Rand der Mulde stehen.

»Ich wette, er ist schon wieder zurück und sitzt in aller Bequemlichkeit im Refektorium bei Brot und Suppe, während wir hier in der Sonne braten.«

»Bruder Hartung hat recht. Lasst uns zum Kloster zurückkehren.«

»Dennoch – wir sollten uns vergewissern.«

»Und wie, glaubst du, sollen wir das anstellen? Es ist stockfinster dort, und wir haben keine Lampe bei uns.«

Eine der Stimmen zupfte an Prosperius’ Erinnerung, doch er hatte keine Muße, den Gedanken zu vertiefen.

»Neben dem Eingang hängt eine Öllampe. Vater Abt lässt sie regelmäßig für die Pilger nachfüllen, die in der Klause beten wollen«, hörte er, und ein eisiger Schreck fuhr durch seine Glieder.

Heilige Muttergottes! Sie wollten in die Höhle!

Für einen Moment fühlte sich Prosperius wie gelähmt, aber als der erste Mönch über den Rand der Mulde kletterte, sprang er wie von einer Biene gestochen auf und stürzte in die dunkle Felsenkammer zurück.

Hektisch sah er sich um, und sein Herz begann wild zu pochen, als er nirgendwo ein Versteck entdecken konnte. Er musste es mit dem finsteren Gang zur Klause versuchen und konnte nur hoffen, dass er sich in der Dunkelheit nicht den Hals brechen würde. Zeit, um jene Öllampe zu suchen und anzuzünden, blieb ihm jedenfalls keine. Prosperius hörte, wie sich die Mönche am Verschlag zu schaffen machten, als er den Gang erreicht hatte und schaudernd in die Schwärze eintauchte.

Der Gang stieg an. Obwohl von Menschenhand verbreitert, war der Boden uneben, und schon nach wenigen Schritten stolperte er. Im vergeblichen Versuch, sich abzufangen, schürfte er sich die Hände an der scharfkantigen Felswand auf und schlug hart auf die Knie. Sein schmerzerfülltes Keuchen dröhnte in seinen Ohren und klang so laut wie hinter ihm die Stimmen der Mönche. Offenbar hatten sie die Lampe gefunden und taten sich nun schwer damit, sie anzuzünden. Ihr ungeduldiges Schimpfen schien an den Wänden der Felskammer abzuprallen und drang als Echo in den Gang.

Mit einem mühsam unterdrückten Stöhnen versuchte Prosperius sich aufzurichten, doch seine Hände brannten wie die Hölle, und seine zerschundenen Knie versagten ihm den Dienst. Leise ächzend sackte er zusammen.

Ach, warum hatte er nur zugelassen, dass der Burggraf ihn aus Worms wegzerrte? Er hätte sich lieber selbst ein Bein brechen sollen, dann hätte sein Herr ihn zurücklassen müssen, und er wäre jetzt sicher in der Stadt.

In seiner Verzweiflung schickte er ein inbrünstiges Gebet an die heilige Liutbirg, auf dass die Mönche es nicht zuwege brächten, die Lampe anzuzünden, oder sie sie zur Umkehr bewegen möge. Doch die Heilige schien just anderweitig beschäftigt und erhörte ihn nicht. Ein freudiges »Heureka« klang hinter ihm auf. Offenbar war es den Mönchen gelungen, der Lampe ein Flämmchen zu entlocken. Tränen des Jammers rollten Prosperius über die Wangen, als er sich aufrappelte. Der Boden schien ihm zu uneben, um sich aufrecht vorwärtszutasten, und so kroch er, der Pein in Händen und Knien zum Trotz, auf allen Vieren weiter. Dass der Gang alsbald in Liutbirgs Klause einmünden müsste, wo es Nischen und Pfeiler, Spalten und Ecken gab, hinter denen man sich verbergen konnte, tröstete ihn nur wenig, doch war der Gedanke daran zumindest ein Hoffnungsschimmer.

Einst hatte die heilige Liutbirg hier in der Einsamkeit der Höhle Gott gedient, hieß es im Volksmund. Später war die Klause dem Reichsstift in Quedlinburg übergeben worden, das sie dem Erzengel Michael geweiht hatte. Im Gedächtnis der Haruden war die Höhle jedoch unauslöschlich mit Liutbirg verbunden, und wenn ein Pilger sich hierher verirrte, richtete er seine Gebete an jene Heilige, die unvergessen geblieben war.

»Bruder Adelbald!«

Der Ruf hallte gedämpft und eigentümlich verzerrt zwischen den hohen Wänden des Gangs und veranlasste Prosperius, schneller voranzukriechen. Fetzen eines ärgerlichen Gedankenaustauschs klangen hinter ihm auf.

»... ist nicht hier, wie ich vermutet ...«

»... könnten wir jetzt bereits im Kloster ...«

»... aber vielleicht verletzt und wir ...«

Plötzlich glitt die Ahnung eines Lichtschimmers über Prosperius hinweg. Erschrocken hielt er den Atem an. Der schwache Schein verschwand so rasch, wie er gekommen war, doch er hatte ausgereicht, um ihm zu zeigen, dass der Gang sich nur ein paar Schritte vor ihm verbreiterte. Erleichtert holte Prosperius Luft und richtete sich schwankend auf. Der Schmerz, der in seinen aufgeschürften Händen und den lädierten Knien pochte, trieb ihm erneut die Tränen in die Augen, doch dieses Mal biss er die Zähne zusammen und blieb aufrecht. Vorsichtig tastete er sich an der Wand entlang.

»Bruder Adelbald!«

»Hörst du uns?«

Stimmen und Schritte schienen dicht hinter ihm zu sein, und die Wand bekam sichtbare Konturen.

›Adelbald ist nicht hier, sonst hätte er doch schon längst geantwortet. Was ist das überhaupt für ein absurder Gedanke, den Bruder ausgerechnet in einer finsteren Höhle zu suchen?‹, haderte Prosperius im Stillen mit seinen Verfolgern, während er rasch einen Blick zurückwarf.

Außer dem Lichtschimmer ihrer Lampe war von den Mönchen noch nichts zu sehen.

Unvermittelt wich die Wand unter seinen tastenden Händen zurück, und er griff ins Leere. Mit einem erleichterten Aufatmen stolperte Prosperius um die Ecke in die Felsenhalle hinein, just in dem Moment, als das Licht hinter ihm hell aufflammte.

Noch ehe er sich fragen konnte, ob die Mönche ihn womöglich noch gesehen hatten, stieß sein Fuß gegen ein Hindernis. Hastig bückte er sich und tastete danach, um festzustellen, wie er daran vorbeikommen könnte.

Seine Hände trafen auf kaltes Metall. Dann auf nachgiebigen Stoff. Schließlich auf eine klebrige Feuchtigkeit, die an seinen Fingern haften blieb.

Kostbare Augenblicke verstrichen, während sein Gehirn sich weigerte, das Bild zu formen, das sich ihm aufdrängte. Und erst als der Schein der Lampe auf sein Gesicht fiel und unmittelbar darauf die vier Mönche den Eingang zu Liutbirgs Klause ausfüllten, kroch ein erstickter Schrei aus Prosperius’ Kehle.

Das Geheimnis der Burggräfin

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