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KAPITEL 6

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Worms, 30. Siwan im fahr 4826 nach Erschaffung der Welt (26. Juni im fahre des Herrn 1066)

»...Osse shalom bim’romaw, hu ja’asse shalom alejnu we’al kol Jisrael we’imru: Amen.« ... »Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden unter uns und ganz Israel, sprecht Amen.«

Mit dem Kaddisch ging das Morgengebet zu Ende. Füße scharrten, hie und da wurde ein Flüstern laut, das rasch zum lebhaften Stimmengewirr anhob, während die Männer die Synagoge verließen.

›Noch immer kein Regen‹, dachte Joschua ben Jehuda flüchtig, als er ins Freie trat und einen Blick in den wolkenverhangenen Himmel warf. Dann wandte er sich wieder der Debatte zu, die sich schon am Vortag unter den Talmudstudenten entzündet hatte und just wieder aufgenommen worden war.

»Warum also nach Sonnenuntergang?«, fragte Aaron, ein junger Mann aus der jüdischen Gemeinde von Speyer, der vor einem Jahr nach Worms gekommen war, um in der berühmten Talmudschule zu studieren.

»Ben Soma leitet es aus dem Schriftvers 5. Mose 16, 3 ab. ›Damit du gedenkest des Tages, da du aus Ägypten gezogen, alle Tage deines Lebens‹, erklärte Jaacov und fügte mit einem breiten Grinsen hinzu: »Welches kurz sein wird, wenn du dein Weib mit dem Frühmahl warten lässt.«

Die jungen Männer lachten.

»Da hört euch diesen Burschen an«, meinte Aaron gutmütig. »So spricht nur einer, den noch kein Weib haben wollte. Was sagst du, Joschua?«

Joschua lächelte. »Aaron hat recht. Warte, bis du selbst ein Weib hast, Jaacov, dann reden wir weiter.«

»Da hörst du es«, rief Aaron. »Und nun sag mir, warum wir des Auszugs aus Ägypten auch des Nachts gedenken? Ist doch in dem Vers ausdrücklich vom Tag die Rede.«

»Nun, der Vers spricht von alle Tage, was meint, zu jeder Zeit, folglich auch nachts«, widersprach Joschua.

»Aber würde dann nicht ...«

Das Streitgespräch der jungen Männer war bis zu den gegensätzlichen Ansichten gediehen, ob Hillel bei der Einteilung des jüdischen Jahres auch alles bedacht hatte, als Joschua sich verabschiedete und den Weg über die Judengasse nach Hause einschlug.

Ungeachtet der frühen Morgenstunde herrschte bereits rege Betriebsamkeit in der Stadt, die er jedoch nur am Rande wahrnahm, während er über den Passus im Talmud nachgrübelte, an dem sich die Debatte entzündet hatte. Das lautstarke Gekreisch zweier Gänse riss ihn aus seiner Versunkenheit, und er bemerkte erstaunt, dass er in Gedanken vertieft an seinem Heim vorbeigegangen war und bereits die Lauergasse erreicht hatte. Sich selbst belächelnd, machte er kehrt.

Der Duft nach süßem Gewürz schlug Joschua entgegen, als er sein Vaterhaus betrat. Während er in der Synagoge gewesen war, hatten Rifka und ihre Magd das Frühmahl zubereitet, und die Tafel war bereits mit einer Schüssel Milchbrei, frisch gebackenem Brot, Eiern und einem Krug verdünntem Wein gedeckt.

Um diese Stunde war das Haus gewöhnlich mit Geschäftigkeit und Lärm erfüllt. Jehuda, Joschuas Vater, und Esra, sein Bruder, pflegten über das Tagesgeschäft zu sprechen, während sein Weib und seine Schwägerin sich über häusliche Dinge berieten.

Joschua, der nicht wie Esra den Sinn des Vaters für den Handel geerbt hatte und sich am wohlsten in der Welt der Gelehrten fühlte, genoss die ruhige Behaglichkeit, die an der Morgentafel herrschte, seit Jehuda nach Sachsen und Esra mit seiner Frau nach Mainz abgereist waren. Im Gegensatz zu seiner Schwägerin, deren ewigem Gezänk man sich nur schwerlich entziehen konnte, ließ Rifka ihren jungen Gatten an der Tafel in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachhängen. Hin und wieder erzählte Joschua ihr auch von den Kommentaren der Gelehrten, die ihn bewegten und die in der Jeschiwa hitzig besprochen wurden. Den Kopf zur Seite geneigt, pflegte Rifka zuzuhören, um ihn dann mit einem Argument zu überraschen, an das er noch nicht gedacht hatte. Und meistens war dieses Argument dann ausgesprochen praktischer Natur.

In Gedanken mit einer Frage beschäftigt, die der Rabbi gestern aufgeworfen hatte, leerte Joschua seine Schale. Es dauerte geraume Zeit, bis ihm auffiel, dass das Gespräch zwischen Rifka und ihrer Magd an der Tafel verstummt war.

Irritiert sah er auf. Hannah machte sich bereits am Herdfeuer zu schaffen, aber Rifka saß noch auf der Bank und schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Nachdenklich betrachtete Joschua ihren gesenkten Kopf. Sie trug das Haar sorgsam gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen.

›Schwarz und glänzend wie die Flügel eines Raben‹, dachte er und lächelte.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, schaute sie plötzlich auf. Ihre Züge wirkten besorgt.

»Bedrückt dich etwas?«, fragte er.

Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wolle sie den Kopf schütteln, doch dann sagte sie: »Ich bin ein wenig beunruhigt wegen eines Fremden, den ich nun schon einige Male vor unserem Haus gesehen habe.«

Joschua runzelte die Stirn. »Wen meinst du? Mir ist niemand aufgefallen.«

»Das hätte ich auch nicht gedacht.« Ein erheitertes Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. »Einem Mann, der so sehr in seine Gedanken verstrickt ist, dass er am eigenen Haus vorbeiläuft, können derlei Dinge nicht auffallen«, neckte sie ihn.

»Du hast mich gesehen?«

»Nein, Hannah hat dich gesehen. Sie hat es mir erzählt.«

Joschua erwiderte ihr Lächeln ein wenig verlegen. »Nun, es ging um die Frage, warum wir nach Sonnenuntergang des Auszugs aus Ägypten gedenken«, gab er zu und begann ihr von der Debatte zu erzählen, die um diesen Abschnitt aus dem Talmud entbrannt war. Nach einer Weile bemerkte er, dass Rifka ihm zwar zuhörte, doch nicht so angeregt darauf einging, wie sie es sonst zu tun pflegte.

Er stockte, fuhr mit der Hand durch seine dunklen Locken, die ihm wie stets in die Stirn fielen, und überlegte, wie ihr Gespräch seinen Anfang genommen hatte.

»Du wolltest mir von einem Fremden erzählen, der dich beunruhigt hat«, fiel ihm schließlich wieder ein.

Falls Rifka überrascht war, dass er den Gegenstand so plötzlich wechselte, zeigte sie es nicht. »Ja«, antwortete sie. »Ich habe den Eindruck, als würde er unser Haus beobachten.«

Joschua runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf, dass er dergleichen tut?«

»Zum ersten Mal fiel der Mann mir auf, als Vater abgereist ist«, erklärte sie. »Wir hatten uns alle vor dem Haus versammelt, um ihn zu verabschieden, erinnerst du dich?«

Joschua nickte.

»Da entdeckte ich ihn, wie er nebenan, an der Ecke von Davids Haus, stand und zu uns herüberschaute.«

»Womöglich hat er auf jemanden gewartet.«

»Zuerst hatte ich das auch vermutet, aber dann sah ich ihn später wieder an derselben Stelle stehen, und dann noch zwei weitere Male.« Als wolle sie ihre eigenen Zweifel verscheuchen, schüttelte Rifka den Kopf. »Gestern stand er erneut an derselben Stelle. Ich wollte wissen, wie lange er wohl auf seinem Posten ausharrt, und darum habe ich ihn meinerseits beobachtet. Tatsächlich blieb er bis Sonnenuntergang am selben Fleck.«

»Und beobachtete unser Haus?«, wiederholte Joschua beunruhigt.

Rifka zuckte mit den Schultern. »Zumindest hatte ich den Eindruck.«

»Wie sah der Fremde aus?«, wollte er wissen.

»Ich hörte ihn französisch sprechen, darum nehme ich an, dass er ein Welscher ist«, antwortete Rifka. »Gekleidet war er wie ein Mann, der sich mit Schwert und Pferd auskennt. Ein Söldner vielleicht?«

Joschua spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in seinen Magen schlich. Er konnte sich nur zwei Gründe denken, warum ein Fremder das Haus des Kaufmanns Jehuda ben Eliesar beobachten sollte. Entweder trachtete der Mann danach, sich an den Waren zu vergreifen, oder aber – und dieser Gedanke war weitaus besorgniserregender – es ging um den Grund, der seinen Vater anstelle von Esra nach Sachsen geführt hatte.

Jehuda, Esra und er waren vor der Abreise des Vaters übereingekommen, niemanden in jenen Auftrag einzuweihen, der ihm übertragen worden war. Zum einen galt es, die Forderung nach höchster Verschwiegenheit zu wahren, und wäre ein Wörtchen davon an Esthers Ohr gelangt, hätte binnen kurzem halb Worms davon gewusst. Zum anderen hatte es nicht dafür gestanden, die Frauen unnötig zu beunruhigen.

Joschua seufzte.

Er zweifelte nicht daran, dass Rifkas Einschätzung ihrer Beobachtungen richtig war. Sie neigte nicht zur Übertreibung, das wusste er, und hatte einen aufmerksamen Blick für das, was um sie herum geschah. Eine Gabe, die ihm selbst abging.

Und wenn er mit seiner Vermutung recht hatte und der Welsche tatsächlich wegen jener Handelsfahrt seines Vaters dort draußen lauerte, bedeutete das nichts Gutes.

Nachdenklich betrachtete Joschua seine junge Gattin, die seinen Blick mit fragend hochgezogenen Brauen erwiderte. Sie war klug und richtete ihre Gedanken häufig auf das Nächstliegende, wo sein eigener Verstand Umwege machte. Er hatte gelernt, ihrem Rat zu vertrauen. Und einen klugen Rat würde er just zu schätzen wissen.

Joschua räusperte sich. »Da gibt es etwas, das du wissen solltest«, begann er.

Rifka hörte schweigend zu, während er ihr von jenem Tag nach Pessach erzählte, als ein Bote Jehuda ben Eliesar in die Bischofspfalz gerufen hatte. Auch nachdem er geendet hatte, blieb sie noch geraume Zeit still, seine Worte augenscheinlich sorgfältig überdenkend, wie es ihre Art war.

»Hast du schon die Botschaft von Vater erhalten, die er zu schicken versprach?«, fragte sie schließlich.

Joschua schüttelte den Kopf. »Nein, aber es wäre zu früh, sich darüber ernstlich Gedanken zu machen. Vater kann erst vor einigen Tagen an seinem Bestimmungsort eingetroffen sein. Wenn er einen Boten geschickt hat, wird seine Nachricht uns erst in zwei, vielleicht drei Tagen erreichen.«

Sie nickte. »Dann ist es auch zu früh, um irgendetwas zu tun«, sagte sie mit einem tiefen Seufzen. »Erst wenn die Zeit überschritten ist, die Botschaft ausbleibt und jener Welsche noch immer da ist, solltest du dich an den Rabbi um Rat wenden. Ich fürchte, bis dahin bleibt uns nichts weiter zu tun, als uns in Geduld zu fassen.«

Rasch streckte sie die Hand aus und legte sie auf die seine. Ihr Lächeln schien ihn trösten zu wollen, doch in ihren tiefdunklen Augen sah Joschua seine eigene Besorgnis widergespiegelt.

Das Geheimnis der Burggräfin

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