Читать книгу Irish Rover - Susanne Rapp - Страница 7
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ОглавлениеMaika hatte Vicky vor ein paar Jahren auf einem Kleiderflohmarkt kennen gelernt. Sie hielt sich einen Pullover an und betrachtete sich in dem großen alten Spiegel des Händlers, der so fleckig und verzogen war, dass sie nicht viel erkennen konnte. Überall lagen bergeweise gebrauchte Klamotten direkt auf dem Boden. Frauen und Kinder standen davor gebeugt und zogen einzelne Stücke heraus, begutachteten sie, um sie einen Moment später wieder achtlos auf den Haufen zurückzuwerfen.
Viele der Frauen und kleinen Mädchen trugen Kopftücher, und durch die Duftproben eines Parfümhändlers, der zwei Dutzend Räucherstäbchen entzündet hatte, um Kunden anzulocken, bekam der Markt ein wenig den Charme eines orientalischen Basars. Die Menschen um sie herum sprachen Arabisch und Türkisch, was dem Geschehen ein weiteres exotisches Flair gab.
Sie stand vor dem Spiegel und war unschlüssig, ob der Pullover ihr gefiel oder ob sein heller Fliederton einfach nur eine schöne Farbe war, als eine Stimme hinter ihr einen unerwarteten Kommentar losließ.
»Vergiss es. Ist nicht deine Farbe. Die lässt dich wie eine Leiche aussehen. Warte, probier den mal.«
Als Maika sich umsah, um herauszufinden, wer da auf Deutsch und mit resolutem Ton, ehrliche Worte an sie richtete, sah sie eine großgewachsene Frau, die sie mit breitem Grinsen und fröhlichen dunkelblauen Augen anlächelte. In der Hand hielt sie einen Pullover, der ähnlich wie der fliederfarbene geschnitten war, doch ein tiefes Flaschengrün hatte.
Als Maika nicht reagierte, machte die Frau einen Schritt auf sie zu und hielt ihr den Pullover vor die Nase. »Mach schon. Das ist deine Farbe. Der wird dir stehen.«
Warum duzte sie diese Frau?
Mit ihren dunkelroten Locken, die ihr bis auf den prallen Hintern fielen, der rauchigen Stimme, langen lackierten Fingernägeln und einem ausgewaschenen T-Shirt mit Harley-Logo darauf, hatte sie etwas Vulgäres, das Maika sofort gefiel. Inmitten der Kopftuch tragenden Frauen und herumwuselnden Kinder stach sie deutlich aus der Menge hervor. Sie stand aufrecht, das Kinn ein wenig erhoben und an ihren Handgelenken glitzerten hunderte von schmalen Silberreifen. Sie war eine stattliche Frau, deren Körper Kraft und Sinnlichkeit ausstrahlte. Maika erinnerte sie an eine Kriegerin. Da fehlten eigentlich nur noch ein Lederkorsett und ein Schwert. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Das geschah häufig, wenn sie sich einsam fühlte.
»Gleich krieg ich einen Krampf im Arm«, sagte die Kriegerin und verwandelte sich wieder in eine ganz normale Frau. Maika murmelte eine Entschuldigung, nahm ihr den Pullover ab und hielt ihn sich an.
»Passt«, sagte die Frau, griff sich den Pullover und drehte sich mit den Worten, »jetzt wird gehandelt«, um.
Maika war es irgendwie peinlich, dass die Frau resolut auf den Händler zuging und ihn nach wenigen Augenblicken anschimpfte. Der Preis war ihr zu hoch und sie nannte den kleinen Mann mit Schnurrbart, der ihr Vater hätte sein können, einen Halsabschneider und Dieb. Der Händler rang die Hände über dem Kopf und stammelte etwas von guter Qualität und fast neu. Maika wünschte sich weit fort und ihr blieb der Mund offen stehen, als die Frau sich nach ihr umdrehte, ihr zuzwinkerte und rief: »Sind fünf Euro für dich in Ordnung?« Maika nickte schnell und suchte einen passenden Geldschein. Dann kam die Frau auf sie zu, gab ihr den Pullover, nahm sie am Arm und flüsterte: »Lass uns hier verschwinden. Ich heiße übrigens Vicky.«
Sie gingen in Richtung Parkplatz, blieben vor Maikas Auto stehen und nun konnte auch Maika sich vorstellen. »Das wäre nicht nötig gewesen. Du hättest das nicht für mich machen brauchen. Ich hätte auch mehr für den Pullover bezahlt«, erklärte sie Vicky kleinlaut.
»Hat doch Spaß gemacht. Ach und übrigens.« Sie hob den Pullover hoch und zeigte ihr das Etikett. »Das ist Markenware. Der kostet selbst in gebrauchtem Zustand mindestens 50 Euro. Den Kerl haben wir übers Ohr gehauen. Der hatte keine Ahnung, was er da verkauft hat.«
Sie deutete auf Maikas Wagen. »Ist das deiner? Also pack den Pullover besser weg, wenn du noch mal da hin willst. Sonst überlegt es sich der Halsabschneider vielleicht noch anders.«
»Ich«, stammelte Maika, »ich würde mich gern für deine Unterstützung erkenntlich zeigen.«
»Hä?«
»Na ja, danke sagen, irgendwie.«
»Ach so. He, da drüben gibt’s ein Bistro. Da kannst du mich auf einen Kaffee einladen. Ist das in Ordnung für dich?«
Sie verbrachten drei Stunden in dem kleinen Bistro und lernten sich kennen. Vicky war laut und frech und überschwänglich, so dass Maika besonnen, ruhig und schüchtern gegen sie wirkte. Doch sie genoss Vickys Art und erklärte ihr, sie könne noch viel von ihr lernen.
»Schätze mal, ich von dir auch.«
Seit diesem Tag trafen sich die beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, regelmäßig, tranken Kaffee, gingen spazieren und manchmal nahm Maika Vicky auch mit zu ihren Zeitungsterminen. Zunächst sprachen sie über allgemeine Themen, Jobs, Bücher, die sie sich gegenseitig empfahlen oder die allgemeinen Grausamkeiten, die das Leben so barg. Doch bald wurden die Gespräche vertrauter und Vicky erzählte Dinge aus ihrem Leben, die Maika erschreckten.
Während Maika aus behüteten Familienverhältnissen stammte, hatte Vicky mit Mitte 30 alle Unwegsamkeiten erlebt, die man sich vorstellen konnte. Sie war nicht grundlos zu dem geworden, was sie heute verkörperte.
Vicky hatte eine harte Kindheit. Die egozentrische Mutter und ein alkoholkranker Vater wirkten dabei geradezu klischeehaft. Die Ehe der Eltern hatte nicht lange gehalten und der Vater, der wenig später wieder heiratete, nahm die Tochter mit in die neue Familie. Der Alkohol machte ihn aggressiv und die Wut über sein Versagen als Familienvater und Mann, was durch Vickys Erzählungen offensichtlich war, ließ er an der Tochter aus, die er oft ohne ersichtlichen Grund schlug. Mit 14 war sie weggelaufen und hatte mehrere Male auf der Straße gelebt. Auf der Suche nach Anerkennung und Zuneigung geriet sie an den falschen Mann, den sie mit 18 heiratete. Die Ehe war von vorneherein zum Scheitern verurteilt, da sich der junge Ehemann als Schläger entpuppte. Sie war vom Regen in die Traufe geraten und landete einmal auch, als der Kerl sie wieder windelweich geprügelt hatte, im Krankenhaus.
Wenn Vicky Maika von diesen Dingen erzählte, tat sie das im Plauderton, als wolle sie all die entsetzlichen Erlebnisse kleinreden. Doch in den Blicken der Freundin entdeckte Maika all die Narben der schrecklichen Verletzungen, die sie ertragen musste. Manchmal fragte sich Maika, wie diese Frau mit dem breiten Grinsen und dem verruchten Lachen all das überhaupt hatte überleben können. Überleben und ein relativ normales Leben führen.
Abgesehen von den Zuhältern, den Schlägern, den Drogendealern, den Rockern, jeder Menge Sex, Exzessen, Selbstversuchen und kriminellem Umfeld, lebte Vicky ihr Leben, hatte verschiedene Jobs, mit denen sie sich über Wasser hielt und eine kleine gemütliche Wohnung.
Dagegen sah Maikas Leben wie aus dem Bilderbuch aus. Sie stammte, wie man es so nannte, aus gutem Haus. Ihr Vater war Mediziner und sie hatte einen jüngeren Bruder. Auch konnte sie eine sehr gute Ausbildung vorweisen, in die sie, dank fehlender Orientierung bezüglich ihrer beruflichen Perspektiven, viel Zeit gesteckt hatte. Für sie galten immer schon klassische Werte wie Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Flexibilität, Ausdauer und Ehrlichkeit. Da war auch ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, den sie sich angeeignet hatte und der ihr sehr wichtig war.
Mit Mitte 40 hatte sie sich bei ihrer Arbeit als Journalistin ein gewisses Bauchgefühl antrainiert, das ihr untrüglich sagte, wie es um ihr Gegenüber stand. Sarkasmus war auch eine Eigenschaft, die sie sich während ihrer Arbeit und dem steten Umgang mit anderen Menschen zugelegt hatte. Damit konnte sie anecken, verstören, vor den Kopf stoßen oder testen. Wer ihre verbalen Giftstachel nicht aushielt, passte nicht in ihr Leben. Wer jedoch durchhielt und ihre Attacken überlebte oder, was noch besser war, geschickt konterte, wurde ein Freund, für den sie alles tat.
Sarkasmus war auch ein Schutz, ein Panzer, der sie davon abhielt, etwas von sich selbst preiszugeben. Denn Gefühle einzugestehen, die von anderen gegen sie verwendet werden konnten, kam für sie einer Niederlage gleich, die sie zerstören würde. Wer sie enttäuschte, war aus dem Spiel. Wer sich entschuldigte, war schwach und wurde mit ihrem trockenen Humor abgestraft.
Doch wie sah es tief in ihr drin aus? Da war sie verletzlich und ängstlich. Sie sehnte sich nach Wärme, Liebe und Anerkennung. Aber tat das nicht jeder?
Bisher war es nur wenigen Menschen gelungen, ihre emotionale Mauer zu durchdringen und in ihr Innerstes zu sehen. Ja, da gab es ein paar echte Freunde, die ihre verbalen Attacken überstanden hatten und sie dennoch mochten. Menschen, denen sie vertraute und denen gegenüber sie sich öffnete, ohne fürchten zu müssen, enttäuscht zu werden.
Vicky gehörte zu den Menschen, denen Maika hundertprozentig vertraute. Vicky war ehrlich und direkt, mehr noch als sie selbst. Sie wusste von Anfang an Maikas Attacken richtig einzuschätzen und konnte wunderbar zurückschlagen.
Vickys verrückte Mutter hatte der Tochter nicht viel Hilfestellung im Leben geleistet. Doch sie hatte ihr einen wahrhaft königlichen Namen verpasst. Mehr Fluch als Segen. Vicky hieß eigentlich Viktoria, und sie hasste diesen Namen. Wenn Maika sauer auf sie war, benutzte sie ihren vollen Namen. Dann wusste Vicky, dass es Zeit war, die Ohren anzulegen. Doch bisher war dies nur ganz selten geschehen.
Die Art, wie die beiden miteinander sprachen, wirkte auf Außenstehende oft rau und ruppig. Als Maika ihre Freundin hinter der Theke als Schlampe bezeichnet hatte, war der Mann, der sich Bier holte, irritiert gewesen. Denn nur, wer die beiden kannte, wusste, dass diese raue Sprache eine Form von Zuneigung ausdrückte.
Die beiden ergänzten sich in vielerlei Hinsicht, lernten und profitierten voneinander. Vicky war für Maika eine Kriegerin, die die Unwegsamkeiten des Lebens überstanden hatte und gestärkt daraus hervorgegangen war. Vickys Philosophie lautete »leben«, und das mit allem, was dazugehört. Wenn sie etwas wollte, nahm sie es sich. Wenn es schwierig zu bekommen war, arbeitete sie systematisch darauf hin, um es zu bekommen und gab nie auf. Oder nur dann, wenn es sinnlos wurde, weiter zu kämpfen.
Maika hingegen gab oft zu früh auf, geriet ins Grübeln und verzettelte sich, bis theoretisch alle Möglichkeiten überdacht waren, wobei das echte Leben und die echten Chancen bereits längst an ihr vorbeigezogen waren.
Vicky war die praktisch Veranlagte, Maika die Theoretikerin. Vicky probierte, während Maika meist wusste, zumindest theoretisch. Wenn es darum ginge, eine neue Welt zu erobern, so wie damals Amerika, würde ich niemand anderen als dich mitnehmen, hatte Maika ihr einmal erklärt. Vicky hatte das Kompliment verstanden und sich vorgestellt, wie Maika mit einem Koffer voller Bücher, aber ohne Essbares losgezogen wäre.
Vicky wiederum schätzte an ihrer Freundin die Ruhe, die sie ausstrahlte, das Wissen, die Art, wie sie ihren Job machte und ihre ausgeprägte Toleranz. Maika akzeptierte sie, wie sie war, nahm sie an, erklärte ihr Dinge, die sie begreifen wollte auf eine Weise, die sie verstand, und konnte wunderbar zuhören. Eine Stunde bei Maika reichte aus, um runterzukommen, sich den ganzen Kram, der sich den Tag über angesammelt hatte, von der Seele zu reden und wieder Raum für Angenehmeres zu schaffen. Maika war mit Abstand der unvoreingenommenste und liebenswürdigste Mensch, den Vicky kannte. Doch das wusste sie nur, weil sie sie sehr gut kannte.
Beide besaßen ein großes Herz, halfen gern und neigten dazu, sich ausnutzen zu lassen. Doch seit sie sich kannten, passten sie aufeinander auf. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, vertrauten sich und waren immer füreinander da. Beide lebten allein und waren auf der Suche nach dem passenden Gefährten. Sie kamen wunderbar allein zurecht und standen sich bei, wenn aus dem Alleinsein ein Einsamsein wurde. Das Leben ist, was du daraus machst, lautete Maikas Devise, seit sie Vicky kennen gelernt hatte. Und die lag gar nicht so weit entfernt von der Philosophie ihrer Freundin, die leben hieß.