Читать книгу Praxiskommentar VOB - Teile A und B - Susanne Roth - Страница 572

2.Auslegung im Einzelnen

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15Wie genau die Leistung beschrieben werden muss, lässt sich letztlich nur einzelfallbezogen bestimmen; die europäischen und nationalen Vorschriften machen insofern keine konkreten Vorgaben, was als misslich kritisiert wird,11 aber kaum anders machbar ist. Letztlich liegt es auch bei flexiblen Verfahrensarten im eigenen Interesse des Auftraggebers, ein Mindestmaß an technischer Vorplanung selbst zu erstellen, um nicht zum „Spielball“12 der anderen Verfahrensteilnehmer zu werden. Schon zum Zwecke der Sicherstellung der Finanzierung der Maßnahme muss der Auftraggeber eine Kostenschätzung erstellen, um so überhaupt erst die Vergabereife herstellen zu können.13 Der Auftraggeber muss sich letztlich in die Lage des Bieters hineinversetzen und sich – gleichsam „aus der Brille der Bieter“ – die Frage beantworten, ob es dem Bieter mit den vorhandenen Angaben möglich ist, die Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten berechnen zu können.

16a) Eindeutige Leistungsbeschreibung. Die Beschreibung muss eindeutig sein, es dürfen also keine Widersprüchlichkeiten oder Mehrdeutigkeiten enthalten sein.

17Im Vergabehandbuch des Bundes14 heißt es hierzu: „Eine Leistungsbeschreibung ist eindeutig, wenn sie Art und Umfang der geforderten Leistungen mit allen dafür maßgebenden Bedingungen, z. B. hinsichtlich Qualität, Beanspruchungsgrad, technische und bauphysikalische Bedingungen, zu erwartende Erschwernisse, besondere Bedingungen der Ausführung und etwa notwendige Regelungen zur Ermittlung des Leistungsumfanges zweifelsfrei erkennen lässt, keine Widersprüche in sich, zu den Plänen oder zu anderen technischen Vorgaben und vertragsrechtlichen Regelungen enthält. […] Eine Leistungsbeschreibung ist technisch richtig, wenn sie Art, Qualität und Modalitäten der Ausführung der geforderten Leistung entsprechend den anerkannten Regeln der Technik, den Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen oder etwaigen leistungs- und produktspezifischen Vorgaben zutreffend festlegt. […] Die Beschreibung der fachlichen, gestalterischen, funktionellen oder sonstigen Anforderungen der (Teil-/Einzel-)Leistung ist allgemein verständlich auf das wirklich Erforderliche bzw. Wesentliche zu beschränken.“

18Dies stellt für Auftraggeber eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Dieser Herausforderung kann sich der Auftraggeber indes nicht durch den Verweis auf mangelnden Sachverstand oder mangelnde Kapazitäten entziehen; vielmehr ist der Auftraggeber in solchen Fällen gehalten, sich bei der Erstellung der Leistungsbeschreibung externer Hilfe (etwa durch Ingenieurbüros o. ä.) zu bedienen.15

19Die Eindeutigkeit der Leistungsbeschreibung muss es ermöglichen, dass alle Unternehmen die Beschreibung im gleichen Sinne verstehen und ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten berechnen können. Maßstab ist das Verständnis eines fachkundigen Bieters.16 Verstehen also alle fachkundigen Bieter die Leistungsbeschreibung trotz etwaiger Ungenauigkeiten gleich und wirken sich die etwaigen Ungenauigkeiten gar nicht auf die Berechnung der Preise (also die Kalkulation) aus, so stellt eine etwaige „Uneindeutigkeit“ nur eine „lässliche Sünde“ dar, die nicht zur Vergaberechtswidrigkeit führt.

20Eine Leistungsbeschreibung ist demnach nicht bereits dann vergaberechtswidrig, wenn überhaupt irgendwelche Auslegungsbemühungen notwendig sind; die Leistungsbeschreibung muss zwar eindeutig sein, es ist jedoch keine „Ein­deutigkeit“ gefordert. Dies wäre auch schlechterdings nicht möglich. So ist es nicht notwendig, alle technischen Einzelheiten (gleichsam jede „einzelne Schraube“) zu beschreiben.17 Maßgeblich ist, dass es dem fachkundigen Bieter bei Anlegung eines professionellen Sorgfaltsmaßstabs möglich ist,18 die verlangte Beschaffenheit aus der Leistungsbeschreibung ohne intensive Auslegungsbemühungen, wie sie im Streitfall von Gerichten vorzunehmen wären, zu entnehmen.19 Dabei ist die Leistungsbeschreibung als sinnvolles Ganzes auszulegen; ein grundsätzlicher Vorrang des Leistungsverzeichnisses vor den Vorbemerkungen gilt nicht.20 Dem Wortlaut kommt bei der Auslegung der Leistungsbeschreibung besondere Bedeutung zu.21 Verbleibende Zweifel bei der Auslegung der Leistungsbeschreibung gehen im Grundsatz zu Lasten des Auftraggebers.22 Dementsprechend darf der Ausschluss eines Angebotes nicht auf die Nichteinhaltung einer unklaren Anforderung in der Leistungsbeschreibung gestützt werden.23 Dasselbe gilt bzgl. unerfüllbarer Anforderungen.24 Ist es aber möglich, ein mehrdeutiges Leistungsverzeichnis so auszulegen, dass es den Anforderungen der Verdingungsordnungen entspricht, darf der Bieter das Leistungsverzeichnis in diesem Sinn verstehen.25

21Die Bieter sind keinesfalls verpflichtet, alle denkbaren Widersprüche aufzudecken. Dies würde den Regelungsinhalt des § 7 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A auf den Kopf stellen, schließlich ist der Auftraggeber Adressat der Pflicht zur eindeutigen und erschöpfenden Leistungsbeschreibung.26 Ihm steht für die Erstellung der Leistungsbeschreibung auch mehr Zeit zur Verfügung als den Bietern, die die Ausschreibung in der Praxis innerhalb kurzer Fristen unter Zeitdruck vollständig erfassen und kalkulieren müssen. Aus diesem Grund kann der Auftraggeber sich seiner Verpflichtung nicht einfach durch eine Klausel in den Bewerbungsbedingungen entledigen, wonach die Bieter die Vergabeunterlagen auf Widersprüche und Unklarheiten zu überprüfen hätten. Eine Hinweisobliegenheit besteht nach dem OLG Naumburg aber dann, wenn der Bieter die Ungeeignetheit der Ausschreibung positiv erkennt bzw. etwaige Unstimmigkeiten klar auf der Hand liegen und die Vergabeunterlagen ersichtlich ungeeignet sind, das mit dem Vertrag verfolgte Ziel zu erreichen.27 Das OLG München ist insofern strenger und verlangt den Bietern mehr ab: „Ist das Leistungsverzeichnis in dem Sinne „unvollständig“, dass dem Bieter kalkulationserhebliche Angaben fehlen, darf der Bieter diese „Unvollständigkeit“ nicht einfach hinnehmen, sondern muss sie durch Rückfrage beim (öffentlichen) Auftraggeber ausräumen. Klärt der Bieter eine kalkulationserhebliche „Unklarheit“ nicht auf und kalkuliert er mit der für ihn günstigsten Ausführungsvariante, steht ihm kein Anspruch auf Mehrvergütung zu, wenn es im Rahmen der Ausführung zu den zu erwartenden Erschwernissen kommt.“28

22Unabhängig davon liegt es aber im ureigenen Interesse der Bieter, die Leistungsbeschreibung zu prüfen und Widersprüche/Unklarheiten aufzudecken und durch Bieterfragen einer Klärung zuzuführen oder ggf. zu rügen. Denn erweist sich eine vom Bieter bei der Angebotserstellung zugrunde gelegte Auslegung im Nachhinein (sei es bei der Angebotsprüfung oder im Rahmen der Vertragsabwicklung) als unzutreffend und unvertretbar, kann dies zu Lasten des Bieters gehen. Jedenfalls die Zugrundelegung einer vertretbaren Auslegung soll dem Bieter aber nicht angelastet werden können.29 Das Risiko soll insofern bei der Vergabestelle liegen: Kann die Vergabestelle die Unvertretbarkeit der vom Bieter gewählten Auslegung nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen, was schwieriger zu erfüllen ist als die Darlegung der objektiven Mehrdeutigkeit, die dem Bieter obliegt, so kann ein Angebotsausschluss nicht auf diesen Sachverhalt gestützt werden.30 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Rechtsprechung in derartigen Fallgestaltungen sehr einzelfallorientiert ist und oft zu scheinbar gegensätzlichen Ergebnissen gelangt, wie die unter Rn. 20 und 21 aufgezeigten Beispiele aus der jüngeren Spruchpraxis zeigen. Die damit verbundene Rechtsunsicherheit ist für alle Beteiligten misslich und wird leider auch in Zukunft sowohl im Rahmen der Ausschreibungsphase als auch nach Vertragsschluss weiter für Streitigkeiten sorgen. Jenseits rechtlicher Obliegenheiten kann Bietern in ihrem eigenen Interesse daher nur geraten werden: „Im Zweifel für die Bieterfrage“.

23Bei (teil)funktionalen Ausschreibungen können sich Abweichungen ergeben: Hier sind die Bieter von vornherein in der Pflicht, den Entwurf für die Leistung (teilweise) selbst zu erstellen, § 7c EU Abs. 1 VOB/A. Die Zuweisung der Pflichten von Auftraggeber und Bieter ist mithin von vornherein anders geregelt.31 Die Bieter sind hier in Bezug auf die Beschreibung der Leistung mit in der Verpflichtung. Die Regel des § 7 EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A ist durch § 7c EU Abs. 1 VOB/A aufgeweicht. So hat das OLG Koblenz den Mehrvergütungsanspruch eines Auftragnehmers mit der Begründung abgelehnt, dass der Auftragnehmer wusste, dass er die Statik selbst erstellen musste, was er – zu einem späteren Zeitpunkt – auch getan habe. Dem Auftragnehmer hätte als Fachfirma klar sein müssen, dass die Mengenangabe von 45 t seitens des Auftraggebers ohne zuvor erstellte Statik und Konstruktionskonzeption nur einen Richtwert vorgab. Bei Zweifeln über die Angabe hätte der Auftragnehmer als Bieter seinerzeit beim Auftraggeber erkundigen müssen, was es mit der Mengenangabe von 45 t auf sich hatte. Unklarheiten des Leistungsverzeichnisses, die einer zuverlässigen Kalkulation entgegenstehen, dürfe der Bieter in einem solchen Fall nicht einfach hinnehmen, sondern müsse sich daraus ergebende Zweifelsfragen vor Angebotsabgabe klären. Hierfür habe im konkreten Fall Anlass bestanden, weil ein konkreter Vordersatz und ein Einbau „entsprechend statischen und konstruktiven Erfordernissen“ einander widersprechen.32

24b) Erschöpfende Leistungsbeschreibung. Die Beschreibung der Leistung muss ferner auch erschöpfend im Sinne von „vollständig“ sein. Die Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung muss es ermöglichen, dass alle Unternehmen die Beschreibung im gleichen Sinne verstehen und ihre Preise sicher und ohne umfangreiche Vorarbeiten berechnen können. Es dürfen also keine offenen Fragen für die Bieter verbleiben, die insbesondere für die Preisbildung von Bedeutung sind.

25Nach dem VHB Bund ist eine Leistungsbeschreibung vollständig, wenn sie „Art und Zweck des Bauwerks bzw. der Leistung, Art und Umfang aller zur Herstellung des Werks erforderlichen Teilleistungen und alle für die Herstellung des Werks spezifischen Bedingungen und Anforderungen darstellt. Dem Auftragnehmer dürfen grundsätzlich keine Aufgaben der Planung und der Bauvorbereitung, die nach Art der Leistungsbeschreibung dem Auftraggeber obliegen, übertragen und keine Garantien für die Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung abverlangt werden.“33

26Die VK Bund34 hat sich mit der Zulässigkeit von vertraglichen Vollständigkeitsklauseln im Hinblick auf das Prinzip der erschöpfenden Leistungsbeschreibung unter Einbeziehung allgemeiner und besonderer Leistungen der VOB/C auseinandergesetzt: Ausgangspunkt der Entscheidung ist die Feststellung der Vergabekammer, dass zu den mit den angebotenen Einheitspreisen abgegoltenen Leistungen diejenigen Leistungen gehören, die von der Leistungsbeschreibung umfasst sind. Grundsätzlich sind besondere Leistungen in der Leistungsbeschreibung oder im Leistungsverzeichnis anzugeben, um geschuldet zu sein (Ziff. 0.4.2 und 4.2 VOB/C). Allerdings, so stellt die Vergabekammer unter Verweis auf den BGH fest, kann eine besondere Leistung, ohne ausdrücklich erwähnt zu werden, geschuldet sein, wenn sie für die Ausführung einzelner Leistungen „unentbehrlich“, das heißt, die Ausführung ohne sie nicht möglich ist.35 Eine dahingehende Vollständigkeitsklausel verstoße nicht gegen den Grundsatz der erschöpfenden Leistungsbeschreibung. Eine Klausel, die das (bepreiste) Leistungssoll indes auf diejenigen Leistungen erweitert, die für die Herstellung des Bauwerks erforderlich sind, ohne dass sie in den Vergabeunterlagen erwähnt werden, sei hingegen vergaberechtswidrig. Da auf die Erforderlichkeit der Leistung abgestellt wird, sind hiervon nicht nur unentbehrliche besondere Leistungen umfasst. Der Bieter müsste damit etwas bepreisen, was gegebenenfalls noch gar nicht beschrieben ist. Die Entscheidung zeigt die Komplexität der Materie. Trotz des Grundsatzes der erschöpfenden Leistungsbeschreibung obliegen Bietern nach der Entscheidung doch erhebliche Prüfpflichten in Bezug auf „unentbehrliche Leistungen“. Die Abgrenzung von erforderlichen und unentbehrlichen Leistungen ist indes in der Praxis kaum handhabbar.

27Der sog. GMP-Vertrag („guaranteed maximum price“) soll im Bereich des öffentlichen Auftragswesens wegen eines Verstoßes gegen das Prinzip der erschöpfenden Leistungsbeschreibung nicht zulässig sein, weil die zu erbringende Bauleistung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gerade nicht eindeutig und erschöpfend feststehen würde. Daraus folge die vergaberechtliche Unzulässigkeit.36 Dies trifft so pauschal nicht zu. So lassen das Verhandlungsverfahren oder der wettbewerbliche Dialog während der Ausschreibungsphase Anpassungen und Konkretisierungen der Vergabeunterlagen zu. Änderungen und Anpassungen der Leistungsbeschreibung sind diesen Verfahrensarten in gewissem ­Umfang gar immanent. So ist die nicht eindeutige und erschöpfende Beschreibbarkeit der Leistung sogar teilweise Zulässigkeitsvoraussetzung für die Durchführung dieser Verfahrensarten (siehe § 3a Abs. 2 Nr. 1 lit. c und lit. d EU VOB/A). Auch bei Funktionalausschreibungen nach § 7c EU VOB/A bestehen auf Seiten der Bieter Spielräume bezüglich des „wie“ der Erbringung der Leistung. Auch hier ist eine erschöpfende Beschreibung der Leistung nicht vollständig möglich. Zudem ist zu beachten, dass Änderungen und Anpassungen von Verträgen auch nach Vertragsschluss mittlerweile unter gewissen Voraussetzungen nach § 132 GWB vergaberechtsfrei möglich sind, etwa wenn in den Vergabeunterlagen hinreichend genaue Klauseln zur Anpassung/Änderung der Verträge (also auch Leistungskonkretisierungen) vorgesehen sind, § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB. Auch § 9d EU VOB/A bietet insofern Spielräume. Vor diesem Hintergrund erscheint der Abschluss von GMP-Verträgen auch im öffentlichen Auftragswesen – je nach konkretem Vorhaben und konkreter Gestaltung – nicht per se unzulässig. Maßgeblich wird vor allem die Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung mit § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A (ungewöhnliches Wagnis) sein.

28Besonderheiten ergeben sich im Hinblick auf die Vollständigkeit der Leistungsbeschreibung auch bei Rahmenvereinbarungen, die in der neuen VOB/A erstmals in § 4a EU VOB/A geregelt sind.37 Rahmenvereinbarungen ist es gerade immanent, dass das in Aussicht genommene Auftragsvolumen und die sonstigen Bedingungen im Vorfeld nicht abschließend bestimmt werden können und auch müssen, siehe § 4a EU Abs. 1 Satz 2 sowie Absatz 4 Nr. 3 VOB/A. Aus diesem Grund ist hier der Maßstab, welchen Grad an „Vollständigkeit“ die Leistungsbeschreibung aufweisen muss, naturgemäß herabgesetzt.38

29Besondere Ausprägungen des Grundsatzes der „erschöpfenden Leistungsbeschreibung“ finden sich in § 7 EU Abs. 1 Nr. 2 bis 7 VOB/A (siehe dazu die nachfolgende Kommentierung).

Praxiskommentar VOB - Teile A und B

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