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2.Gegenstand und Reichweite des Verbotes

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40Die Vorschrift verbietet nicht per se die Überbürdung von Wagnissen. Im Gegenteil: Die Überbürdung von Wagnissen ist durchaus zulässig. Schließlich liegt jeder Kalkulation auch die Einschätzung und monetäre Bewertung von gewissen Risiken und Wagnissen zugrunde. Unzulässig ist nur die Überbürdung solcher – ungewöhnlicher – Wagnisse, auf die der Bieter keinen Einfluss hat und (also kumulativ) deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er nicht im Voraus schätzen kann. Es geht also lediglich um eine ausgewogene Aufteilung von Risiken. Jede Vertragspartei soll nur für diejenigen Risiken einstehen, die auch ihrer Einflusssphäre entstammen.

41Ein ungewöhnliches Wagnis im Sinne der Vorschrift liegt nach Kapellmann47 mithin dann vor, wenn ein Risiko kalkulatorisch

– wegen des Grades seiner Ungewissheit und der unbekannten Größenordnung erhebliche finanzielle oder zeitliche, letztlich unkalkulierbare Auswirkungen haben kann und

– durch die einseitige kalkulatorische Übernahme des Risikos durch den Bieter von der im Gesetz oder in der VOB vorgesehenen Risikoverteilung zwischen (öffentlichem) Auftraggeber und Auftragnehmer abgewichen wird.

42Neben der nicht abschätzbaren Eintrittswahrscheinlichkeit ist also auch die Höhe des resultierenden Kostenrisikos von Bedeutung.48 Kalkulatorische Unsicherheiten bei finanziell unbedeutenden „Nebenpositionen“ stellen keinen Verstoß gegen die Vorschrift dar.

43Folgende Leitlinien lassen sich aufstellen:

– Je mehr der Bieter den Eintritt oder Nichteintritt des Wagnisses selbst (durch die Art und Weise der Ausführung seiner Leistung) beeinflussen kann, desto weniger wird darin ein unzulässiges ungewöhnliches Wagnis liegen.

– Je besser der Bieter die Auswirkungen des Wagnisses auf die Preise und die Auswirkungen der Fristen schätzen kann, desto weniger wird ein ungewöhnliches Wagnis vorliegen.

– Schließlich: Je üblicher es in der Praxis ist, dass gewisse Wagnisse von Bietern übernommen werden, obwohl die Bieter keinen Einfluss auf deren Eintritt haben und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen im Voraus nicht schätzen können, desto weniger wird das Wagnis ein „ungewöhnliches“ sein.

44Insofern ist über gewisse Zeiträume eine dynamische Entwicklung des Begriffs „ungewöhnliches Wagnis“ denkbar; der Begriff ist keineswegs statisch. Was ehedem ein „ungewöhnliches“ Wagnis war, kann später durchaus ein „gewöhnliches“ Wagnis werden. Dies leuchtet auch ein. So können Bieter über gewisse Zeiträume mit der Handhabung gewisser Risiken Erfahrungen sammeln, sodass die mit den Wagnissen verbundenen finanziellen Risiken besser eingeschätzt und kalkulatorisch bewertet werden können. Solche Entwicklungen werden aber nur außerhalb des Bereichs öffentlicher Auftragsvergaben stattfinden können, denn jeder Schritt in der Entwicklung weg vom „ungewöhnlichen“ Wagnis hin zum „gewöhnlichen“ Wagnis wäre für sich genommen ein Verstoß gegen das Verbot Überbürdung ungewöhnlicher Wagnisse.

45Die Überbürdung von Risiken ist zulässig, soweit den Bietern eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation und vergütungsmäßige Absicherung der damit verbundenen Wagnisse (etwa durch transparente Zuschläge oder Preisgleitklauseln) möglich ist.49 Insofern kommt es bei der Beurteilung maßgeblich auf die konkrete Gestaltung der jeweiligen Ausschreibung an.

46Der bloße Hinweis auf bestimmte Risiken in der Ausschreibung dürfte wohl nicht ausreichen, um aus einem „ungewöhnlichen“ Wagnis ein „gewöhnliches“ Wagnis zu machen. Soweit argumentiert wird, dass sich die Bieter in diesen Fällen ja entscheiden könnten, ob sie das Risiko übernehmen wollten oder nicht, ist dies kritisch zu sehen.50 Dieses Argument lässt den klaren Wortlaut der Vorschrift („darf nicht“) außer Acht, wonach die Überbürdung ungewöhnlicher Wagnisse zwingend verboten ist. Dies ist auch einleuchtend. Andernfalls könnten öffentliche Auftraggeber ihre Marktmacht nutzen, um Bieter dazu zu bewegen, ungewöhnliche Wagnisse zu übernehmen nach dem Motto „ein Bieter findet sich immer“. Dies soll durch die Vorschrift gerade verhindert werden. Sie reguliert die Marktmacht öffentlicher Auftraggeber und schützt nicht nur den einzelnen Bieter, sondern den Bietermarkt insgesamt. Etwas anderes mag im Bereich der VgV gelten, denn dort existiert das Verbot der Überbürdung ungewöhnlicher Wagnisse nicht mehr explizit und in der „Schärfe“ wie in § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A als absolutes und indisponibles Verbot, sondern wird „nur noch“ aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet, sodass im Bereich der VgV bloße Hinweise auf Risiken unter Umständen ausreichend sein können.51

47Möglich ist es aber, Risiken in einem Verhandlungsverfahren klar zu benennen und mit den Bietern darüber gemäß § 3a EU Abs. 2 Nr. 1 lit. c VOB/A in Verhandlung zu treten. Dabei geht es aber nicht um eine einseitige Überbürdung, sondern um eine gemeinsame angemessene Verteilung der Risiken im Rahmen echter Verhandlungen. Im Ergebnis der Verhandlungen muss das ehemals ungewöhnliche Wagnis durch Gestaltung der Ausschreibung eliminiert worden sein. Mit „Placebo-Verhandlungen“ ohne echte Gestaltungsspielräume für Bieter dürfte dieses Ziel nicht zu erreichen sein.

48Bei der Beurteilung, ob Wagnisse ungewöhnlich sind oder nicht, kann das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen als Maßstab herangezogen werden, insbesondere die Grundätze der Inhaltskontrolle gemäß § 307 BGB.52

49Die Übertragung des Baugrundrisikos auf den Bieter stellt in der Regel ein ungewöhnliches Wagnis dar.53 Ebenso die Überbürdung des Risikos der Verfügbarkeit und Bebaubarkeit von Flächen ohne Möglichkeit, die damit zusammenhängenden Risiken einzuschätzen.54 Bei Munitionsbelastungen wurde vom OLG Naumburg eine Überbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses verneint, wenn der voraussichtliche Leistungsumfang des Auftrages durch „Hochrechnung“ des Leistungsumfangs der Beräumung von Testfeldern ermittelt wird, wenn weder dem Auftraggeber noch den Bietern der tatsächliche Umfang der Bodenbelastung mit Munition, Munitionsteilen und Schrott und damit der genaue Leistungsumfang des Vertrages bekannt ist und dieser auch durch keine andere Methode zuverlässig vorab zu ermitteln ist.55 Anders liegt es aber, wenn der Auftraggeber im Falle positiver Kenntnis außergewöhnlich hoher Bodenbelastungen in Teilbereichen der zu beräumenden Fläche nur pauschal auf die Möglichkeit von Belastungsabweichungen von einer durchschnittlichen Belastung hinweist, und zwar selbst dann, wenn er – entgegen der Auffassung des von ihm beauftragten Sachverständigen – die Ergebnisse des hoch belasteten Testfelds als nicht repräsentativ ansieht.56 Die Sicherung einer Schleusenbaustelle gegen Hochwasser stellt auch ohne die Vorgabe der konkreten Hochwasserschutzmaßnahmen als teilfunktionale Ausschreibung nicht die Überbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses dar.57 Dasselbe gilt bei einer Schleusenbaustelle für Eisschutzmaßnahmen, den Schutz von Gebäuden des Auftraggebers sowie die Ausführung bestimmter schifffahrtspolizeilicher Anordnungen.58

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