Читать книгу Im Palast der sieben Sünden - Susanne Scheibler - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеVier Wochen später war sie wieder in St. Petersburg. Es war heißer, hoher Sommer, und aus den Newasümpfen kamen feuchte Nebel und unzählige Mücken. Fast der ganze Hof und alle Adelsfamilien, die nicht durch Ämter oder Geschäfte in der Hauptstadt zurückgehalten wurden, waren in ihre Sommerpaläste ans Meer oder auf ihre Landgüter geflüchtet.
Der Zarenpaar hatte Zarskoje Selo verlassen und war nach Peterhof übersiedelt. Am 26. Juni hatte die Zarin wieder einer Tochter das Leben geschenkt, die auf den Namen Maria getauft wurde.
Alexandra war völlig verzweifelt gewesen, und dieses Mal hatte selbst Nikolaus sie nicht trösten können. Tagelang hatte sie sich in ihren Gemächern eingeschlossen, hatte sehr viel geweint und gebetet, und auch im Monat darauf lehnte sie es strikt ab, irgendwelche Festlichkeiten zu besuchen oder an den harmlosen Vergnügungen des Sommers, Fahrten mit der kaiserlichen Yacht Standart auf dem Finnischen Meerbusen, Picknicks in den ausgedehnten Birkenwäldern, Ausritten oder ähnlichem, teilzunehmen.
»Sie tut mir unendlich leid«, sagte Swetlana zu Georg, der in regelmäßigen Abständen nach Peterhof fuhr und ihr von der starren, kummervollen Haltung der Zarin berichtete.
Er nickte düster. »Aber es nützt niemandem, wenn sie sich so von allem ausschließt und in sich selbst vergräbt. Sie unterhöhlt damit nur ihre ohnehin schwache Gesundheit. Es gibt Tage, an denen sie vor Schmerzen in den Beinen kaum laufen kann. Dann fährt Nicky sie in einem Rollstuhl im Park spazieren.«
Sie waren in der Wohnung in der Sergijewskaja, die Georg Alexandrowitsch auch während Swetlanas Aufenthalt in Kowistowo beibehalten hatte. Swetlana trug ein leichtes Cretonnekleid, und alle Fenster waren wegen der Hitze geöffnet. Der Wind, der von der Newa kam, blähte die Gardinen.
Es war die Zeit der Weißen Nächte, und obwohl es fast elf Uhr abends war, war der Himmel über der Stadt in ein geheimnisvoll irisierendes Licht getaucht, in dem die bunten und goldenen Kuppeln der Petersburger Kirchen schimmerten, als seien sie mit einer Perlenlasur überzogen.
Swetlana lehnte den Kopf an Georgs Brust. »Werden Ihre Majestäten in der nächsten Zeit trotzdem wieder einmal nach Petersburg kommen?«
Er hob die Schultern. »Wenn es sich nicht umgehen läßt. Du weißt, sie sind beide nicht gern hier – und jetzt weniger denn je seit dem Attentat auf Bogolepow.«
Sie nickte. Der Chef des Bildungsministeriums, der auf Zar Nikolaus’ Befehl den in seinen Ansichten wesentlich liberaleren Grafen Deljanow abgelöst hatte, war nicht lange im Amt gewesen.
Bogolepow hatte mit eiserner Faust versucht, die seit etwa drei Jahren schwelenden und immer wieder ausbrechenden Unruhen unter den Studenten niederzuschlagen. In Moskau und Petersburg, ja, selbst in der Provinz war es zu Protestbewegungen gegen die Alleinherrschaft des Zaren gekommen, sogar zu Streiks, indem die Studenten sich weigerten, ihre Examina abzulegen, solange sie ständig polizeilich überwacht wurden.
Bogolepows Antwort war hart und unmißverständlich gewesen. Er hatte die Polizeikontrollen an den Universitäten verstärkt und den Unruhestiftern angedroht, sie als einfache Soldaten in die Armee zu stecken. Wer mutwillig Vorlesungen versäumte, hatte mit strengen Strafen zu rechnen, und studentische Versammlungen wurden mit Knüppeln und Lederpeitschen auseinandergejagt.
Der neue Bildungsminister hatte seine Härte mit dem Leben bezahlt. Ein Student hatte sich Zutritt zu ihm verschafft und auf ihn geschossen, während in den Straßen von St. Petersburg Tausende gegen den staatlichen Terror demonstrierten.
Kosaken hatten mit Waffengewalt gegen sie vorgehen müssen, es war zu Massenverhaftungen gekommen, aber der Widerstand der studentischen Jugend blieb ungebrochen.
Seit Swetlana wieder in Petersburg war, war kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht neue Unruhen und Demonstrationen gegeben hatte.
Auf einmal empfand Swetlana heiße Angst um Georg. Er war zu sorglos, ließ sich zuwenig von Polizei und Garde abschirmen, sondern liebte es, ohne Bewachung unter die Leute zu gehen. Und wenn er sich mit ihr traf, kam er immer nur mit Ossip, seinem Diener, der dann auch den Wagen kutschierte, ein dunkles, unauffälliges Gefährt, in dem mansicherlich nicht den Bruder des Zaren vermutete. Und trotzdem ...
Georg lachte, als sie ihn bat, vorsichtiger zu sein und nicht mehr ohne Polizeischutz auszugehen.
»Wie stellst du dir das vor, mein Herz? Dann wäre es bald mit unseren Heimlichkeiten vorbei. Im übrigen lieben mich die Petersburger, weil sie wissen, daß ich liberaler als mein Bruder und die von ihm eingesetzten Minister denke. Ich wünschte, Nicky würde mehr auf mich hören als beispielsweise auf Pobjedonoszew oder Fürst Mestscherskij.« Er seufzte. »Ganz zu schweigen von seiner Frau.«
»Wieso?« fragte Swetlana, hellhörig geworden. »Ich denke, du hast die Zarin sehr gern?«
»Das habe ich auch. Sie ist ein durch und durch aufrichtiger, hochanständiger Mensch. Ihr einziger Fehler ist, daß sie absolut nichts von Rußland und russischer Politik versteht, sich aber leider aus Liebe zu ihrem Mann ständig einmischt. Sie sagt, sie liebe Rußland, hat aber keine Ahnung, wie vielschichtig dieses Volk wirklich ist. Für sie sind ihre Untertanen brave Muschiks, die Balalaika spielen, singen, tanzen und Väterchen Zar demütig die Füße zu küssen haben. Die Unzufriedenen und Aufrührer, die etwas verändern wollen; sind in Alix’ Augen eine Handvoll schlechter Menschen, die mit schlechten Büchern und üblen Parolen versuchen, die Leute aufzuwiegeln. Dem aber müsse der Zar kraft seiner gottgewollten Autorität eisern entgegenwirken.« Georg seufzte. »Weißt du, er hat nie vergessen, daß sein Großvater Zar Alexander II., der die Leibeigenschaft aufgehoben hat und äußerst reformfreudig war, von Terroristen ermordet wurde. Seitdem ist für Nicky alles verdammungswürdig, was nur im Entferntesten revolutionär aussieht.«
Swetlana stützte den Kopf in die Hände. »Ich habe Angst«, wiederholte sie. »Es gibt neuerdings soviel Haß in Rußland, und er richtet sich nicht nur gegen Leute wie Bogolepow, sondern auch gegen die kaiserliche Familie. Einige revolutionäre Vereinigungen wollen doch das Zarentum ganz abschaffen.«
Er nickte. »Das sind die extremen Gruppen. Aber sie haben wenig Chancen, ihre Ansichten durchzusetzen, denke ich. Die meisten wollen nur die Autokratie beschneiden. Ich finde das ganz vernünftig. Wir brauchen solche Neuerungen, freie Wahlen für eine Volksvertretung, mehr Presse- und Meinungsfreiheit.«
Sie nahm seine Hände. »Versprich mir, daß du vorsichtig sein wirst. Es sind ja gerade die radikalen Splittergruppen, die Attentate verüben, und in ihrer blinden Zerstörungswut werden sie auch vor Mitgliedern der kaiserlichen Familie nicht haltmachen. Du als der Thronfolger bist nach dem Zarenpaar am meisten gefährdet.«
Er küßte sie auf die Nasenspitze. »Ich bin nicht leichtsinnig. Bei allen offiziellen Anlässen werde ich ebensogut bewacht und abgeschirmt wie die anderen Familienmitglieder. Es dringt auch niemand zu mir vor, der vorher nicht genau kontrolliert worden ist, ob er Waffen oder eine Bombe bei sich hat. Und wenn der Privatmann Georg Alexandrowitsch einmal ausgeht oder in die Sergijewskaja zu seiner zauberhaften Geliebten fährt, dann wissen davon nur mein Adjutant und Ossip.«
Sie erwiderte sein Lächeln nicht. »Denk immer daran: Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll.«
»Ich auch nicht, mein Herz«, sagte er und zog sie an sich. »Und nun küß mich noch einmal, bevor ich ins Antischkow-Palais zu meiner Mutter fahre.«
Sie wußte, daß er mindestens einmal in der Woche die Zarenwitwe Maria Fjodorowna besuchte. Georg liebte seine Mutter, der Swetlana einmal ebenfalls vorgestellt worden war. Das war im Februar gewesen, als Boris Barschewskij noch gelebt und niemand etwas von ihrer heimlichen Liebe zu Georg gewußt hatte. »Ich habe ihr übrigens von dir erzählt«, fügte er hinzu. »Sie erinnerte sich noch gut an dich und fand, daß du ein bemerkenswertes Mädchen bist.«
Swetlanas Augen leuchteten auf. »Im Ernst? Und was hat sie noch gesagt? War sie nicht schockiert?«
»Im Gegenteil. Mama sieht es gern, wenn ihre Kinder glücklich sind. Und daß ich es bin, mußte ich ihr nicht erst erklären. Sie hat es mir angemerkt, seit du wieder in St. Petersburg bist. Und da sie neugierig wie alle Mütter ist, hat sie so lange gefragt und gebohrt, bis ich mit der Wahrheit herausgerückt bin.«
Er stand auf und zog seinen Waffenrock über. »Komm. Mama kann es nicht ausstehen, wenn man unpünktlich zum Essen erscheint. Ich habe Ossip und dem Kutscher, der dich hergebracht hat, eingeschärft, daß sie uns pünktlich um acht hier abholen sollen.«
Bevor sie die Treppe hinuntergingen, umarmten sie einander noch einmal.
»Wir sehen uns übermorgen«, sagte Georg. »Ich fahre gleich nach dem Frühstück von Peterhof zurück. Kannst du am frühen Nachmittag hiersein?«
Swetlana versprach es. »Paß gut auf dich auf«, bat sie, bevor sie sich aus seinen Armen löste, und er nickte.
»Verlaß dich darauf. Schließlich gehöre ich nicht mehr mir allein, sondern auch dir. Daher ist es meine Pflicht, auf mich achtzugeben.«
Swetlana war felsenfest davon überzeugt, nicht ohne Georg leben zu können, aber zwei Monate später mußte sie es lernen.
Er starb an einem sonnenhellen Tag Ende Oktober, der schon die Ahnung des nahen Winters mit sich brachte, und er war nur achtundzwanzig Jahre alt geworden.
Swetlana war, als er erkrankte und Doktor Botkin, einer der Leibärzte der Zarenfamilie, sagte, er werde dieses Mal nicht mehr genesen, auf Georgs Wunsch nach Zarskoje Selo gerufen worden, wohin das Zarenpaar Mitte September zurückgekehrt war.
Sie wußte, daß die Tuberkulose wieder bei Georg ausgebrochen war. Er hatte es ihr geschrieben und sie mit lieben, zuversichtlichen Worten zu trösten versucht, daß sie sich nun eine Weile nicht sehen konnten.
Aber ich möchte um nichts in der Welt, daß du Dich ansteckst, mein Herz. Also fasse Dich in Geduld. Sobald ich wieder gesund bin, komme ich zu Dir. Aber es kann eine Weile dauern. Du weißt vielleicht, wie hartnäckig diese Krankheit sein kann. Doch ich will Dir schreiben, so oft es mir möglich ist. In Gedanken gebe ich Dir tausend Küsse ...
Danach hatte sie noch drei kurze Briefe von ihm bekommen, Zeilen voller Liebe und Zärtlichkeit, aus denen sie aber herauslas, wieviel Anstrengungen es ihn kostete, sie zu schreiben. Er mußte sehr krank sein, viel mehr, als er zugab und als es auch in Petersburg offiziell bekanntgegeben wurde.
Natürlich hatte Swetlana ihm ebenfalls geschrieben, fast jeden Tag, aber sie hatte in den letzten Wochen keine Antwort mehr erhalten. Das ließ ihre Sorge ins Uferlose wachsen.
»Ich warte noch ein paar Tage«, hatte sie zu Xenia gesagt, »dann fahre ich einfach nach Zarskoje Selo. Ich muß wissen, wie es ihm geht.«
Und dann kam der schreckliche Tag, an dem Graf Murawin, einer der kaiserlichen Adjutanten, Swetlana zu sprechen verlangte.
»Ich muß Sie bitten, mit mir zu kommen«, sagte er. »Großfürst Georg Alexandrowitsch wünscht Sie noch einmal zu sehen.«
Ihr wurde ganz übel vor Schrecken. »Noch einmal?« würgte sie zitternd hervor. »Was heißt das?«
Murawin wich ihrem Blick aus. »Seine Majestät, der Zar, bittet Sie, seinem Bruder diesen Wunsch umgehend zu erfüllen. Man darf ihm nichts mehr verweigern.«
Das Gesicht des jungen Offiziers verschwamm vor ihren Augen. Sie klammerte sich am Tisch des Empfangssalons fest, um nicht umzusinken. »Geht es ihm so schlecht?«
»Bitte, kommen Sie«, drängte Murawin statt einer Antwort. »Es ist keine Zeit zu verlieren.«
O Gott, und sie hatte immer noch geglaubt, daß er genesen werde! Jede andere Möglichkeit hatte sie von sich gewiesen, hatte sich selbst verboten, sie überhaupt in Betracht zu ziehen. Gott wußte doch, daß Georg ihr Leben war, er konnte nicht so grausam sein, ihn ihr zu nehmen. Vor allem jetzt nicht, seit sie wußte ...
»Ich ziehe mir nur rasch einen Mantel über«, sagte Swetlana und stürzte aus dem Zimmer.
In Zarskoje Selo konnten sie und Murawin ohne die üblichen Kontrollen passieren. Die Kutsche, in der sie saßen, fuhr durch das schmiedeeiserne vergoldete Haupttor die gerade Allee zur Rampe des Katharinenpalastes hinauf.
Murawin eilte voraus. Wie in Trance nahm Swetlana das ganz in Weiß gehaltene Vestibül wahr, dessen einzige Farbflecken die geranienroten Vorhänge und das fernöstliche Porzellan bildeten, das auf großen geschnitzten Konsolen stand.
Es ging eine Treppe hinauf in den ersten Oberstock. Murawin durchquerte einige Vorzimmer, in denen Ordonnanzen sich leise, fast flüsternd unterhielten, dann öffnete er die Tür zu Georgs Schlafzimmer und ließ Swetlana eintreten.
Es war ein großer Raum, in dem helle Grüntöne vorherrschten. Die Decke wurde von schlanken Fayencesäulen getragen, die auf bronzenen Stützen ruhten. In einem halbrunden Alkoven, zu dem einige Stufen hinaufführten, stand das Bett.
Georgs Mutter und die Zarin saßen daran. Am Fußende stand Nikolaus und blickte mit in Tränen schwimmenden Augen auf seinen Bruder hinunter, den er immer am meisten von seinen Geschwistern geliebt hatte.
Maria Fjodorowna war bleich und starr, aber die Zarin hatte das Gesicht in den Händen vergraben und mühte sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Eine Pflegerin in Schwesterntracht hielt sich im Hintergrund, ebenso ein Mann im dunklen Gehrock, mit schütterem Haar, der eine goldgeränderte Brille und einen Bakkenbart trug.
Bei Swetlanas Eintritt wandten sich die Gesichter ihr zu. Sie verharrte einen Augenblick auf der Schwelle, vollführte beim Anblick der kaiserlichen Familie eine mechanische Verbeugung, um dann langsam und auf Zehenspitzen auf das Bett zuzugehen.
Georg blickte ihr aus eingesunkenen Augen entgegen. »Mein Herz«, sagte er flüsternd. Er konnte nicht mehr laut sprechen, und die Bewegung, mit der er ihr seine mageren Hände entgegenstreckte, war unendlich mühsam.
Swetlana ergriff seine Finger, fühlte, wie heiß sie waren, und beugte sich über ihn. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte kein Wort hervorbringen, sondern nur ihre Lippen auf seine Stirn pressen.
»Ich bin froh, daß du da bist ... Wollte dich noch einmal sehen ... Hätte so gerne mit dir gelebt.«
Die heisere, von rasselnden Atemzügen unterbrochene Flüsterstimme verstummte, aber der Blick seiner blauen Augen hing mit unendlicher Liebe an Swetlanas Gesicht.
»Setzen Sie sich zu ihm, mein Kind«, sagte die Zarenwitwe Maria Fjodorowna. »Er hat viel von Ihnen gesprochen und so sehr nach Ihnen verlangt.«
Swetlana nahm auf der seidenen Zudecke Platz, die Georgs abgemagerten Körper verhüllte. Stirb nicht, dachte sie. Bitte, bitte, stirb nicht! Aber sie wußte, daß das Grauenvolle unaufhaltsam war. Sie sah es nicht nur, sie fühlte es mit allen Sinnen. Der Tod war da. Er wartete noch, aber er würde ihr Georg nehmen.
»Ich habe Nicky und Alix gesagt, daß sie auf dich achtgeben sollen. Sie haben es versprochen«, brachte der Großfürst in einer letzten Kraftanstrengung hervor. Dann begann er zu husten. Es war ein schrecklicher, hohl klingender Husten, der ihm den Schweiß aus allen Poren trieb.
Die Pflegerin trat an die andere Seite des Bettes und wischte ihn mit einem Tuch ab. Als sie über Georgs Lippen fuhr, färbte sich das Leinen mit hellroten Blutstropfen.
Er wollte noch etwas hinzufügen, aber er konnte es nicht mehr. Swetlana sah, wie er die Lippen bewegte, beugte sich noch tiefer über ihn, doch nur sein Atem streifte sie.
»Liebster, mein Liebster ...«, murmelte sie und legte seine Hände auf ihren Mund, um sie zu küssen. In diesem Moment wünschte sie zu sterben.
Georgs Kopf fiel ein wenig zur Seite. Die Zarin sah es und stieß einen erstickten Schrei aus. »Doktor Botkin ...«
Der Mann im dunklen Gehrock kam ans Bett und fühlte nach dem Puls des Kranken. Dann hob er dessen Augenlider an und warf Alexandra Fjodorowna einen beruhigenden Blick zu, »Er ist bewußtlos. Das ist gut für ihn. So muß er nicht leiden.«
Swetlana hatte Georgs Hände losgelassen und dem Leibarzt der Zarenfamilie Platz gemacht, doch als Dr. Botkin nun zurücktrat, nickte die Zarin ihr zu.
»Setzen Sie sich wieder hin. Es war Georg Alexandrowitschs Wunsch, daß Sie bei ihm bleiben, bis es zu Ende ist. Bestimmt spürt er, daß Sie da sind. Es wird ihm wohltun.«
Swetlana hätte auch um nichts in der Welt sein Lager verlassen, es sei denn, man hätte sie gewaltsam hinausgeschafft. Dort in den Kissen lag ihr Mann, auch wenn kein Pope ihre Verbindung gesegnet hatte, und sie saß ganz still da und nahm keinen Blick von seinem Gesicht.
In Gedanken redete sie mit ihm.
Sie sagte ihm das, was sie ihm nicht geschrieben hatte, weil sie sich dieses Geständnis für eine glückliche Stunde mit ihm hatte aufheben wollen.
Ich erwarte ein Kind, Georg, und ich war so stolz und froh darüber. Es wird im Mai geboren werden. Ich weiß, du hättest dich auch darüber gefreut, trotz aller Schwierigkeiten, die uns erwartet hätten. Aber nun läßt du uns beide allein. Was ist das für ein Gott, der so etwas zuläßt? Er soll die Alten sterben lassen, aber nicht dich! Nicht dich, mein Liebster.
Georgs Atmung setzte zeitweilig aus. Swetlana spürte, wie seine Hände in den ihren zuckten, und einmal meinte sie, er bewege die Lippen, als wolle er noch etwas sagen. Aber es war nur ein unverständliches Murmeln.
Und dann sah sie, wie die Pupillen seiner halb geöffneten Augen starr wurden, sah, wie, von seiner Stirn ausgehend, sich die wachsgelbe Totenfarbe über sein Gesicht breitete, gerade so, als wiche das Blut aus seinem Körper wie Wasser aus einem Gefäß.
»Nein«, sagte Swetlana leise. Und immer wieder: »Nein, nein, nein!« um die grauenhafte Erkenntnis, daß er tot war, nicht in sich eindringen zu lassen.
Sie hielt Georgs Hände weiterhin umklammert, hörte die Zarin laut schluchzen und sah, wie der Zar zu ihr hinging und ihren Kopf an seine Brust zog, während seine Mutter sich abwandte und ein Tuch vor ihre Lippen preßte.
Irgendwann tauchte Dr. Botkin neben Swetlana auf und löste sacht ihre Finger von Georgs Händen. Die Augen hinter seinen Brillengläsern waren voller Mitgefühl.
»Nein«, sagte Swetlana wieder, »nein, nein!« Sie hatte das Empfinden, als hätte man sie mit grausamer Gewalt auseinandergerissen. Es tat so weh, aber sie konnte weder weinen noch schreien, sondern empfand fast eine flüchtige Verwunderung darüber, daß man so etwas aushielt, ohne zu sterben.
Großfürst Georg Alexandrowitsch Romanow wurde eine Woche später mit allem Pomp der orthodoxen Kirche und der ganzen Prachtentfaltung des Zarenhauses in der Peter-und-Paul-Festung neben seinem Vater und seinem Großvater begraben.
Swetlana war in der Kirche. Sie saß weit entfernt von der goldenen Ikonostase, hinter der die Mönche sangen, und dem Katafalk, in dem der Tote lag. Jurij, Xenia, Irina und ihre Eltern hatten sie begleitet, und Wera Karlowna schluchzte, wie sie es auf Trauerfeierlichkeiten immer tat.
Auch Swetlana liefen Tränen über das Gesicht, aber es war ein lautloses, bitteres Weinen, das keine Befreiung brachte und nichts hinwegschwemmte.
Die Kirche war hell vom Kerzenlicht und dem Widerschein all des Goldes an Säulen, Wänden und Heiligenbildern. Aber Swetlana kam es vor, als wäre alles in Dunkel getaucht, selbst die Gesichter ihrer Familie. Alle hier waren nächtliche Gestalten, die aus dem Finstern auf sie zukamen und ein wenig fahle Helligkeit erhielten, wenn sie sich ihr näherten. Dann verschwanden sie wieder im Dunkel.
Der Himmel war dunkel, als sie ins Freie trat, die Sonne, alles, alles – es war fast so, als sei sie im Begriff zu erblinden.
Es war Jurij, der sie zur Kutsche führte und ihr hineinhalf. Seit Boris’ Tod hatte er ihr gegrollt und es vermieden, mit ihr mehr als das Nötigste zu reden. Doch jetzt nahm er sich ihrer an, hüllte sie in ein Plaid, als er sah, daß sie zitterte und ihre Zähne aufeinanderschlugen, und blieb neben ihr sitzen.
Zu Hause, im Lasarowschen Palais, führte er sie in die Bibliothek und drückte sie in den Lehnstuhl beim Kamin, in dem ein Feuer brannte. Dann goß Jurij Wodka aus einer, Karaffe in ein Glas und setzte es Swetlana an die Lippen.
»Trink das«, sagte er. »Dann wird dir etwas besser.«
Aber sie hörte nicht auf zu zittern, und ihr Magen revoltierte gegen den scharfen Schnaps.
Besser? dachte sie. Wie könnte mir jemals besser werden?
Sie hatte seit Georgs Tod jede Nacht nur für wenige Stunden geschlafen. Dann war sie erwacht, durch das Haus gewandert und hatte sich wieder gewünscht, tot zu sein wie er, um nicht mehr denken zu müssen.
Das war das Schlimmste: daß man seine Gedanken nicht abstellen konnte wie ein Grammophon, dessen Nadel stekkengeblieben war und das sinnlos immer wieder dasselbe wiederholte: Du bist allein. Du bist allein.
Was hätte sie darum gegeben, nicht mehr denken zu müssen!
Das Zarenpaar blieb nach den Trauerfeierlichkeiten noch in St. Petersburg, und Mitte November erhielt Swetlana eine Einladung der Zarin.
Kommen Sie doch übermorgen zum Tee, denn ich möchte mit Ihnen über Ihre Zukunft sprechen. Es war der innigste Wunsch des teuren Toten, daß wir uns Ihrer annehmen, und das verbindet uns.
Alexandra Fjodorowna empfing Swetlana in ihren Privatgemächern. Als sie eintraf, waren ihre drei Töchter bei ihr. Maria, die Jüngste, lag in einem Wiegenbettchen und wurde von einer Kinderfrau hin und her geschaukelt. Die beiden älteren Großfürstinnen spielten mit einem kleinen Hund.
Swetlana entdeckte Anna Wyrubowa, die im Hintergrund des Salons den Teetisch deckte, und die Fürstin Sonja Orbeljani, die ebenfalls zu den vertrauten Freundinnen aus Alexandras Hofstaat gehörte.
Die Orbeljani war eine bildschöne Kaukasierin mit orientalisch anmutenden Gesichtszügen. Aber sie litt trotz ihrer jungen Jahre bereits an einer schweren Arthritis und konnte sich nur am Stock vorwärtsbewegen.
»Meine liebe Swetlana Pawlowna«, sagte die Zarin und streckte Swetlana die Hand entgegen, nachdem diese die vorgeschriebene Verbeugung vollführt hatte. Mit einem prüfenden Blick musterte Alexandra das bleiche, herb gewordene Gesicht und die schwermütigen Augen der jungen Frau. »Es ist schön, daß Sie meiner Einladung Folge geleistet haben. Sie trinken doch einen Tee mit uns, nicht wahr?«
Swetlana nickte. »Euer Majestät sind sehr gütig ...«
»Dann kommen Sie, setzen wir uns.« Die Zarin trug Schwarz, eine Farbe, die sie noch blasser und zerbrechlicher erscheinen ließ. Auf die Wyrubowa gestützt, ging sie zum Teetisch und nahm in einem bequemen Fauteuil Platz. Sonja Orbeljani füllte die Tassen aus dem Samowar und reichte kleine Kuchen herum.
Die beiden kleinen Großfürstinnen ließen sich durch die Anwesenheit der Erwachsenen nicht stören. Sie rannten kichernd durch den Salon, hinter dem Hund her, den sie Chou-Chou nannten und dem die vierjährige Olga einen Ball zuwarf, den er mit seinem kleinen spitzen Fang schnappte und nicht wieder hergeben wollte.
Die Zarin verzog manchmal bei dem fröhlichen Lärm gequält das Gesicht, aber sie sagte nichts.
Während der Teestunde drehte sich das Gespräch um Alltäglichkeiten. Die Orbeljani berichtete von der Erkrankung einer anderen Ehrendame, der sie einen Besuch abgestattet hatte, und die Wyrubowa ließ sich lang und breit über einen englischen Roman aus, den sie gelesen hatte und der, ihrer Aussage nach, unglaublich gottlos, ja, geradezu teuflisch gewesen sei.
Swetlana war still und in sich gekehrt. Sie dachte an Georg – wann hätte sie nicht an ihn gedacht? Er hatte gesagt, daß er die Wyrubowa nicht leiden konnte, sie sei primitiv und von geradezu hysterischer Frömmigkeit.
Manchmal richtete die Zarin das Wort an Swetlana. Dann gab sie höflich und mit einem kleinen, wie festgeklebt wirkenden Lächeln Antwort und fühlte sich dabei, als wäre sie in zwei Hälften gespalten.
Die eine Hälfte saß hier im Winterpalais mit der Zarin beim Tee, die andere konnte nicht aufhören, sich zu erinnern, wie Georg gestorben war. Swetlana hatte keine Einzelheit vergessen, und es tat immer noch so weh wie am ersten Tag.
Später entließ die Zarin ihre Damen, und auch die Kinderfrau wurde mit den kleinen Großfürstinnen hinausgeschickt.
Die Wyrubowa freilich trödelte noch herum, rückte hier ein Bild und dort eine Vase gerade und fragte, ob ihre ›teuerste Herrscherin‹ auch bequem sitzen würde oder ob sie noch eine Decke oder ein Kissen benötigte.
Alexandra Fjodorowna verneinte. »Gehen Sie nur, meine Liebe. Ich brauche nichts mehr, und sollte es der Fall sein, werde ich nach einem Diener läuten.«
Die Wyrubowa verneigte sich. »Ich werde trotzdem im Vorzimmer bleiben. Euer Majestät brauchen mich nur zu rufen.«
Als die Zarin endlich mit Swetlana allein war, beugte sie sich in ihrem Sessel nach vorn.
»Seine Majestät, der Zar, wollte ursprünglich bei unserer Unterhaltung zugegen sein, aber ich dachte, es ist besser, wenn wir zunächst einmal allein miteinander sprechen. Es geschieht mit Rücksicht auf Sie, meine Liebe, weil ... Nun ja, Großfürst Georg Alexandrowitsch hat sehr offen mit uns gesprochen. Es war wohl nicht so, daß Sie und er die Grenzen des Anstands eingehalten haben.«
Sie verstummte und wirkte auf einmal befangen. Offenbar war es ihr peinlich, ein für sie so heikles Thema überhaupt anzuschneiden.
»Wir haben uns geliebt. Euer Majestät«, sagte Swetlana ruhig. »Und da die Verhältnisse es nicht gestatteten, daß wir heiraten durften, bin ich seine Geliebte geworden.«
Das Gesicht der Zarin färbte sich mit flüchtiger Röte. »Solche Dinge kann man natürlich nicht gutheißen. Ich jedenfalls kann es nicht«, verbesserte sie sich rasch. »Obwohl ich weiß, daß Georg Alexandrowitsch ein sehr anziehender Mann war. Und Sie sind eben noch sehr jung. Da gibt man leicht einer Verführung nach.«
Swetlana hob die Schultern. »Selbst auf die Gefahr hin, daß Euer Majestät mich jetzt für verdorben halten – ich bereue keine Stunde, die wir zusammen verbracht haben. Und ich danke Gott dafür, daß Georg Alexandrowitsch durch mich ein wenig glücklich geworden ist. Euer Majestät werden vielleicht bestätigen können, daß es so war.«
»Nun ja, gewiß...« Die Zarin zupfte nervös an den schwarzen Spitzenmanschetten ihrer Bluse. »Trotzdem ist es natürlich eine sehr ... fatale Geschichte, die zudem noch ein Menschenleben gekostet hat. Ich habe Rittmeister Barschewskij hoch geschätzt.«
Swetlana blickte auf ihre Hände. »Ich auch. Und das ist auch das einzige, was ich wirklich bereue: daß er bei einem so unsinnigen Duell gestorben ist. Vielleicht ist die Lage, in der ich mich heute befinde, eine Art Strafe dafür.«
Alexandra Fjodorowna empfand plötzlich Mitleid mit ihr. »Das sollten Sie nicht denken«, sagte sie rasch. »Diese Duelle sind der pure Wahnsinn, und kein vernünftiger Mann sollte sich darauf einlassen. Aber genug davon. Viel wichtiger ist, was jetzt aus Ihnen wird. Darüber hat Georg Alexandrowitsch sich große Sorgen gemacht, seit er wußte, daß er nicht wieder gesund werden würde. Er wollte in keinem Fall, daß Sie nach seinem Tod in einem Elternhaus bleiben, in dem Sie vermutlich große Schwierigkeiten zu erwarten haben, wenn er nicht mehr da ist, um Sie zu schützen. Darum habe ich ihm versprochen, Sie in den Hofdienst zu nehmen.«
Zum ersten Mal, seit sie hier war, zeigte Swetlanas starre, wie versteinerte Miene eine Regung. Überraschung, Rührung, ja, sogar eine winzige zaghafte Freude spiegelte sich darin. Doch gleich darauf verschloß sie sich wieder.
»Das ist sehr gütig von Eurer Majestät, aber ich fürchte, es wird nicht gehen.«
»Und warum nicht?« fragte die Zarin befremdet. »Glauben Sie vielleicht, weil ich Ihnen eben ein paar Vorhaltungen gemacht habe, ich ließe Sie immer und ewig entgelten, was mir tadelnswert erscheint? Das müssen Sie nicht, liebes Kind. Wir haben jetzt darüber gesprochen, und damit ist die Sache für mich erledigt.«
»Für mich nicht«, widersprach Swetlana leise, und ihr Gesicht war auf einmal so todtraurig, daß es der Zarin ins Herz schnitt. Sie stand auf und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Grämen Sie sich doch nicht so! Natürlich ist es schrecklich, was Ihnen widerfahren ist, aber glauben Sie mir, eines Tages werden Sie damit anfangen, es zu überwinden.«
Swetlana begann plötzlich zu weinen. »Niemals!« stieß sie hervor. »Weil ... Es gibt etwas; das mich immer erinnern wird. Ich ... ich erwarte ein Kind.«
Alexandra Fjodorowna war zurückgefahren. Ihre erste Reaktion war Entsetzen. Aber gleich darauf schämte sie sich dessen.
Sosehr ihr die Sittenlosigkeit des russischen Adels mißfiel, so heftig sie Menschen verachtete, die keine Moral und keine Grundsätze besaßen, sondern nur ihren Augenblicksgelüsten nachgaben, so wenig war sie engherzig und mitleidlos.
»Ach, meine Liebe«, sagte sie weich und zog Swetlanas Kopf an ihre Brust. »Das ist natürlich eine riesengroße Sorge. Aber es ist gut, daß Sie sie mir anvertraut haben. Haben Sie es schon Ihren Eltern gesagt?«
»Nein. Ich hatte Angst. Ich weiß nicht, was mein Vater tut, jetzt, wo Georg tot ist ...«
»Aber Sie müssen es ihnen sagen. Lange werden Sie Ihren Zustand ohnehin nicht verheimlichen können.«
»Ich weiß. Wahrscheinlich wird mein Vater mich wieder nach Kowistowo schicken, und wenn das Baby geboren ist, wird er es mir fortnehmen und zu Pflegeeltern geben. Aber das will ich nicht. Dieses Kind ist doch das einzige, was mir von Georg geblieben ist.«
Swetlana schlug die Hände vor das Gesicht, und die Zarin ließ sie weinen, streichelte nur hin und wieder beruhigend über ihren Rücken.
»Ich muß nachdenken, wie man Ihnen helfen kann. Ich muß vor allem mit Seiner Majestät darüber reden«, sagte sie, nachdem Swetlana sich ein wenig gefaßt hatte. »Auf keinen Fall darf man Ihnen das Kind nehmen und es womöglich in einer dubiosen Pflegefamilie aufwachsen lassen. Fahren Sie jetzt nach Hause, meine Liebe, aber seien Sie gewiß, daß Sie unter meinem ganz persönlichen Schutz stehen. Das habe ich Georg Alexandrowitsch versprochen, und dabei bleibt es.«
Die schmale kränkliche Person strahlte plötzlich eine so große Würde und Autorität aus, daß Swetlana sich tatsächlich ein wenig getröstet fühlte.
Erst abends, als sie im Bett lag, kamen Angst und Kummer mit aller Heftigkeit zurück.
Die junge Frau starrte in die Dunkelheit, hörte, wie der Wind im Kamin jaulte und den Eisregen, der draußen niederging, gegen die Fenster warf, und kämpfte vergeblich gegen die tiefe Hoffnungslosigkeit an, die sie erfüllte.
Georgs Tod hatte ihrem Leben nicht nur alle Helligkeit und Wärme genommen, er hatte auch ihre natürliche Widerstandskraft gelähmt. Sie kam sich vor wie in einem dunklen Raum gefangen, aus dem keine Tür hinausführte.
Morgen werde ich meiner Mutter sagen, daß ich schwanger bin, nahm Swetlana sich vor. Aber dann tat sie es doch nicht. Sie verschob ihre Mitteilung von einem Tag auf den anderen, halb aus Furcht, halb, weil sie sich in ihrer dumpfen Erschöpfung nicht dazu aufraffen konnte.
Und dann war es ihre alte Kinderfrau Akulina, die den Stein ins Rollen brachte ...
Sie kam wie allmorgendlich mit einem Frühstückstablett in Swetlanas Zimmer, nachdem sie zuvor schon Irina und Xenia mit heißer Schokolade und frischem knusprigem Weißbrot mit Butter und Honig versorgt hatte.
»So, mein Schwänchen«, sagte sie in jenem übertrieben optimistischen Ton, den sie seit Georgs Tod Swetlana gegenüber immer anschlug, »nun iß und trink aber tüchtig. Du bist so dünn geworden. Darum habe ich dir extra noch ein Schälchen Sahne mitgebracht, damit du sie in deine Schokolade rührst.«
Swetlana litt seit etwa vier Wochen an gelegentlicher Übelkeit, die sie bisher vor den anderen hatte verbergen können.
Doch an diesem Morgen wurde ihr beim Anblick der dick gebutterten Weißbrote und dem Schokoladengeruch so schlecht, daß sie es gerade noch schaffte, aus dem Bett zu springen und in den angrenzenden Waschraum zu flüchten, wo sie sich würgend erbrach.
Schwer nach Luft ringend, hielt sie sich am Becken fest und hörte, wie Akulina hereinkam.
»Was ist denn? Was hast du, mein Schwänchen?«
»Nichts«, brachte Swetlana mühsam hervor und goß kaltes Wasser aus dem Krug in das Waschbecken. »Es geht schon wieder.«
Akulina betrachtete sie stumm, wie sie sich Gesicht und Hände wusch. Dann sagte sie plötzlich: »Heiliger Jesus Christ, war ich denn blind? Du bekommst ein Kind, nicht wahr?«
Swetlana schüttelte den Kopf, doch Akulina faßte sie bei den Schultern und blickte ihr ins Gesicht. »Natürlich, das ist es! Vergiß nicht, daß ich deine Kleider und deine Wäsche in Ordnung halte. Es hätte mir ja schon längst auffallen müssen, aber manchmal achtet man nicht so darauf. O Gott, was für ein Unglück!«
»Halt den Mund!« fuhr Swetlana sie an, doch die alte Frau rannte, ehe sie sie zurückhalten konnte, mit fliegenden Röcken zur Tür hinaus.
Ein paar Minuten später wußte es Wera Karlowna und kam völlig aufgelöst in Swetlanas Zimmer.
»Ist es wahr?« fragte sie nur, und die Tochter, die auf der Bettkante saß, nickte stumm.
Es hatte keinen Sinn mehr, etwas zu leugnen. Dumpf und gleichgültig ließ sie das Lamento ihrer Mutter und den verbissenen Zorn ihres Vaters über sich ergehen.
Graf Lasarow hatte gerade das Haus verlassen wollen, als seine Frau ihn mit der schockierenden Neuigkeit überfiel. In seiner ersten Wut wollte er Swetlana schlagen, aber etwas in ihren Augen hinderte ihn daran.
Es war diese stumpfe Ergebenheit, die sie seit Georgs Tod an den Tag legte und die er bisher nur bei seinen Hunden und Pferden erlebt hatte, wenn sie alt und krank waren und sterben wollten.
»Und was nun?« fragte Pawel Konstantinowitsch und rannte wie ein gefangener Löwe hin und her.
Seine Frau drehte ihr naßgeweintes Taschentuch zwischen den Fingern. »Man muß es verheimlichen. Niemand darf etwas davon erfahren ...«
Er blieb vor ihr stehen. »Und wie soll das gehen?« brüllte er. »Eines Tages ist es da, das Hurenbalg! Es quäkt und schreit, und jeder kann es sehen. Verheimlichen – pah!«
Da er seinen Zorn nicht an Swetlana auslassen konnte, ergoß er sich nun über seine Frau. »Wie kann man nur mit einem so dummen Weib geschlagen sein! Jede Wanze ist intelligenter! Sitzt da und flennt und tut so, als könne sie ihrer Tochter den Bastard in den Bauch zurückschieben, wenn er heraus will!«
Wera Karlowna schrie auf. »Um Gottes willen, Pawel Konstantinowitsch! Sie werden ja ordinär!«
»Na und?« Er stieß mit dem Fuß nach einem Stuhl, der polternd umfiel. »Warum nicht? Ich bin der ordinäre Vater einer ordinären Schlampe, die sich ein uneheliches Kind hat anhängen lassen! Ha, ich kann mir vorstellen, wie sie hinter meinem Rücken lachen werden – die Nobokows mit ihren reizlosen Töchtern, die Durnowos, die Schipows und Goremykins. Besonders die werden hochzufrieden über mein Unglück sein, hat mich doch Iwan Goremykin in letzter Zeit glühend beneidet, weil er von Seiner Majestät aus dem Amt des Innenministers entlassen worden ist, während der Monarch mich nach wie vor durch große Liebenswürdigkeit auszeichnet.«
An Swetlana rauschte der Ausbruch ihres Vaters vorbei. Was lag ihr daran, was die Leute redeten oder dachten? Sie kümmerte es nicht, denn sie war an einem Punkt angelangt, wo die gesellschaftliche Médisance zu etwas völlig Unbedeutendem zusammenschrumpfte.
Wenn man nicht weiß, was wirklich Schmerz ist, mag man vielleicht über einem Schnitt in den Finger in Tränen ausbrechen. Aber wenn man erfahren hat, wie grauenvoll ein Mensch leidet, der von brutalen Fäusten halb tot geprügelt worden ist, dann verblassen solch kleine Blessuren zu etwas, worüber man nur noch zu lächeln vermag.
Swetlana war vom Schicksal halb tot geprügelt worden, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich jemals wieder erholte.
»Man muß sie nach Kowistowo bringen«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Dort kann sie das Kind bekommen, und dann geben wir es weg. Auf diese Weise wird hier niemand etwas erfahren. Man sieht ihr ja zum Glück noch nichts an.«
»Aber in Kowistowo wird man es ihr ansehen, wenn ihr Bauch anschwillt wie ein Ballon. Kennt man uns dort vielleicht nicht, he? Und wenn die Leute auf dem Gut Bescheid wissen, tratschen sie es weiter – zu den Dienstboten der Blenheims, der Tschigorows, der Petschorins, und hui, weiß es die Herrschaft ebenfalls und posaunt es überall herum, bis nach Petersburg und Moskau. Nein, nein, sie muß irgendwohin, wo niemand uns kennt. Am besten ins Ausland, und ihr reist natürlich unter anderem Namen.«
»Wir?« wiederholte Wera Karlowna, und ihr Mann nickte, puterrot im Gesicht.
»Soll sie vielleicht allein herumzigeunern? Du wirst sie begleiten und dafür sorgen, daß sie nicht noch mehr Schande über uns bringt.«
Swetlana grub die Nägel in die Handflächen. In diesem Augenblick haßte sie ihren Vater aus tiefstem Herzen.
Er wollte ihr das Kind nehmen, und er verfügte über sie, als wäre sie seine Leibeigene. Die Bauern waren von der Leibeigenschaft befreit worden, aber an ihre Stelle waren bei Männern wie ihrem Vater die Frauen und Töchter getreten. Sie übten Gewalt über sie aus und meinten noch, das sei gut und richtig so.
Ich will mein Kind behalten, dachte Swetlana trotzig. Aber sie wußte nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte – es sei denn, die Zarin half ihr.