Читать книгу Im Palast der sieben Sünden - Susanne Scheibler - Страница 13

9. Kapitel

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Xenia Pawlowna Lasarowa, Swetlanas inzwischen achtzehnjährige Schwester, verließ als eine der letzten das düstere Backsteingebäude der Xenia-Schule. Sie hatte ihre Büchertasche mit einem bunten Band zusammengebunden und trug sie über der Schulter. Ihr langes braunes Haar, das sich in unzähligen kleinen Locken um ihr Gesicht kringelte, war im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten und nachlässig aufgesteckt. Sie hatte eine hochgeschlossene hellgraue Bluse an, dazu einen dunkelgrauen Rock und einen blauen Mantel.

Wera Karlowna, ihre Mutter, war jedesmal höchst indigniert, wenn sie ihre zweitälteste Tochter betrachtete. »Wie du wieder aussiehst, Kind!« pflegte sie zu sagen. »Wie eine Gouvernante. Mußt du denn ewig diese unkleidsamen dunklen Farben tragen und eine so schmucklose Frisur? Wirklich, ich verstehe dich nicht.«

Auch Xenias Antwort fiel bei solchen Gelegenheiten ziemlich stereotyp aus. »Lassen Sie mich so sein, wie ich möchte, Mama! Für die Schule bin ich genau richtig angezogen. Und ich fühle mich wohl in diesen Sachen. Ich habe einfach keine Lust, mich herauszuputzen wie Irina. Freuen Sie sich, daß Sie wenigstens in ihr eine vorzeigbare Tochter haben.«

Bei dem Gedanken an ihre jüngste Schwester lachte Xenia leise in sich hinein. Irina sollte in diesem Winter in die Gesellschaft eingeführt werden, und sie war jetzt schon ganz zappelig vor Vorfreude.

Fast jeden Tag probierte sie neue Frisuren mit ihrem weichen, etwas dünnen Haar aus, jammerte über ihre schmale Figur, die ihrer Meinung nach viel zu wenig weibliche Rundungen aufwies, und zog Xenias elegante Kleider an, die vor zwei Jahren für sie angefertigt worden waren, als sie noch mit Swetlana zusammen an Bällen und Gesellschaften teilgenommen hatte.

Seit Swetlanas Verheiratung ging Xenia kaum mehr aus und hatte die prachtvollen Abendtoiletten, Gesellschaftskleider und Kostüme mitsamt den Accessoires in den hintersten Winkel ihres Kleiderschranks verbannt.

Xenia Lasarowas einziges Interesse galt dem Lernen. Sie war eine der Besten ihrer Klasse und bereitete sich neben den Schularbeiten zielstrebig auf das spätere Medizinstudium vor, indem sie halbe Nächte hindurch in den Büchern las, die sie sich mit Hilfe eines Studenten von der Petersburger Universität ausgeliehen hatte.

Pjotr Bogdanowitsch Dobrowjew war vier Jahre älter als sie, ein magerer, hochaufgeschossener junger Mann mit linkischen Bewegungen und kantigem Gesicht, das freilich von wunderschönen warmen Augen beherrscht wurde.

Xenia hatte ihn im Lesesaal der Universitätsbibliothek kennengelernt, und seitdem traf sie sich gelegentlich mit ihm, heimlich, versteht sich, denn ihre Eltern hätten ihr nie gestattet, sich mit einem mittellosen Studenten bürgerlicher Herkunft abzugeben, der seine Ausbildung hauptsächlich durch ein Stipendium finanzierte.

Und noch entsetzter wären sie gewesen, wenn sie über die politischen Ansichten des jungen Mannes Bescheid gewußt hätten.

Pjotr Bogdanowitsch Dobrowjew gehörte der sozialdemokratischen Partei Rußlands an, die im Frühjahr 1898 in Minsk gegründet worden war. Er hatte Xenia viel von den Zielen seiner Partei erzählt, und das meiste, was er sagte, leuchtete ihr ein.

Rußland brauchte Reformen. Der Zar mußte dem Volk eine Verfassung und, wie in anderen Ländern, eine frei gewählte parlamentarische Vertretung zugestehen.

»Das«, so sagte Pjotr, »ist der einzige Weg, um Schritt für Schritt das Elend der Arbeiter und Bauern zu verbessern, ein vernünftiges Sozialwesen zu begründen und die ererbten Vorrechte einer zahlenmäßig geringen Oberschicht abzubauen.«

An diesem Nachmittag war Xenia mit Pjotr in einer Teestube am Heumarkt verabredet. Dort fanden in einem Hinterzimmer in unregelmäßigen Abständen geheime Treffen der Sozialdemokraten statt. Sie kamen immer nur in kleinen Gruppen zusammen, falls die Geheimpolizei ihre Versammlungen aufspürte.

Pjotr empfing Xenia bereits in der Teestube. Er küßte sie auf beide Wangen. »Schön, daß du da bist. Terenkow hat etwas mitgebracht, das dich gewiß interessieren wird.«

Terenkow war ein Deckname, das wußte Xenia. Viele, die hierherkamen, benutzten falsche Namen.

Der Mann, der sich Terenkow nannte, saß im Hinterzimmer an einem großen Holztisch, und der Raum wurde nur durch eine Gaslampe erhellt. Zwei Männer und eine hagere, grobknochige Frau um die Dreißig waren bei ihm.

Xenia war Terenkow noch nie begegnet, aber Pjotr hatte ihr von ihm erzählt. Er sei in Minsk bei der Parteigründung dabeigewesen und ein Vertrauter von Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich inzwischen Lenin nannte. Während Lenin in der Verbannung in Sibirien gewesen sei, habe Terenkow durch Mittelsmänner ständig Kontakt mit ihm gehabt und in seinem Sinne die Untergrundarbeit der gleich nach ihrer Gründung verbotenen Partei fortgesetzt.

Als Pjotr und Xenia den Raum betraten, blickte Terenkow die junge Frau überrascht an. »Wer ist das?«

»Sie heißt Xenia«, erklärte Pjotr. »Sie gehört noch nicht zu uns, aber sie sympathisiert mit unseren Zielen. Du kannst beruhigt sein, Terenkow, sie wird uns nicht verraten.«

Dessen Miene verfinsterte sich. »Es war ausgemacht, daß keine Neuen mitgebracht werden sollten. Du hast gegen die Abmachung gehandelt.«

Er war ein großer, vierschrötiger Mann mit einem eigentlich häßlichen Gesicht. Dennoch faszinierte er durch das leidenschaftliche Feuer, das von ihm ausging. Er gehörte zu den Menschen, die, wenn sie einen Raum betraten, sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich zogen.

Pjotr legte den Arm um Xenia. »Ich sage dir doch, von ihr droht keine Gefahr. Ich bürge für sie.«

Die Frau, die am Tisch saß, stand plötzlich auf. Sie nahm die Lampe auf und leuchtete Xenia ins Gesicht. »Irgendwoher kenne ich sie. Aber ich weiß nicht ...« Sie brach ab. »Wie heißt sie noch außer Xenia?«

»Lasarowa«, antwortete Xenia, von dem scharfen, feindseligen Blick der Frau unangenehm berührt. Als Pjotr zischend den Atem ausstieß, begriff sie, daß sie offenbar einen Fehler gemacht hatte.

Die Frau wich zurück. »Xenia Pawlowna, was? Eine von der Lasarow-Brut!« Sie fuhr zu Terenkow herum. »Weißt du, wer das ist? Die Tochter von Graf Pawel Lasarow! Laß uns verschwinden, ehe sie uns die Ochrana auf den Hals hetzt. Ich kenne sie, ich hab’ sie ein paarmal gesehen, wenn sie mit ihrer feinen Mama und den Schwestern ausfuhr.«

»Stimmt das?« fragte Terenkow. Er fixierte Xenia, als schätze er ab, ob man sie als harmlos einstufen oder am besten auf der Stelle eliminieren sollte.

Sie nickte. »Ja, aber was hat das damit zu tun, daß ich jetzt hier bin? Pjotr und ich sind Freunde. Ich weiß vieles von ihm und euch. Wenn ich euch hätte verraten wollen, hätte ich es längst tun können.«

»Und warum bist du hier?«

»Weil Pjotr sagte, es wäre vielleicht interessant für mich. Er möchte, daß ich irgendwann auch zu euch gehöre. Wie kann ich das, wenn ich niemanden von euch kennenlerne?«

»Laß uns verschwinden!« wiederholte die Frau drängend, doch Terenkow wischte ihren Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Sei still, Sofia!«

Er hatte keinen Blick von Xenia genommen, und auf einmal lächelte er.

»Du bist also neugierig, was? Und du hast ein bißchen Appetit darauf, gegen deine Eltern zu opponieren? Das Grafentöchterlein mit der sozialistischen Ader. Willst vielleicht sogar ein bißchen Revolutionär spielen – aber des Nachts in die Behaglichkeit des gräflichen Bettchens zurückkehren. Morgens heiße Schokolade, mittags Tee mit Kascha in einem verräucherten Hinterzimmer oder einem feuchten Keller – und abends Kaviar, Champagner und französische Seidenroben. Solche wie dich gibt es mehrere. Sie wissen nicht, wie Armut brennt, wie Hunger den Magen zerreißt, Kälte die Glieder krumm macht und Angst die Eingeweide zusammenzieht. Sie haben nur Überdruß und Langeweile, und deshalb suchen sie nach einem neuen Nervenkitzel, den sie nie zuvor gekannt haben. Ist es nicht so?«

»Nein«, antwortete Xenia. Dieser Terenkow ärgerte sie, aber trotzdem übte er eine sonderbare Faszination auf sie aus. Einem solchen Mann war sie noch nie begegnet, gleichzeitig abstoßend und anziehend, von kalter Intelligenz und sprühender Leidenschaftlichkeit.

Sie holte tief Atem. »Ich habe weder Überdruß noch Langeweile, wie Sie das nennen, denn ich gehe noch zur Schule und will im nächsten Jahr Medizin studieren. Meine Eltern werden mir das vermutlich nie erlauben, und so wird mir gar nichts anderes übrigbleiben, als fortzugehen und mich allein durchzuschlagen. Ich muß sehr fleißig sein, damit ich vielleicht ein Stipendium bekomme. Aber ich werde es schaffen.«

Die Frau, die Sofia hieß, lachte schrill. »Glaub ihr kein Wort, Terenkow! Man kennt sie doch, diese adligen Hürchen. Die machen sich nicht die feinen weißen Fingerchen in einem Spital schmutzig, wischen Erbrochenes auf und hätscheln schreiende Bälger mit Krätze und Ungeziefer. Ihre Mildtätigkeit erschöpft sich darin, daß sie ein paar Hände voll Kopeken unter die Leute werfen, wenn sie in ihren Karossen vorüberfahren und man ihnen zuwinkt. Allenfalls lassen sie gelegentlich von der Dienerschaft Suppe und Brot unter den Armen verteilen oder gestatten einem halb erfrorenen Bettler, im Pferdestall zu schlafen, damit er nicht im Frost vor ihrer Haustür krepiert. Ich sage dir ...«

»Halt den Mund, Sofia!« unterbrach Pjotr sie. Er war ganz blaß vor Empörung. »Ich weiß ja, daß du neidisch und giftig bist, aber du wirst dein boshaftes Mundwerk nicht länger an Xenia Pawlowna wetzen. Wenn ich gewußt hätte, daß du heute auch hier bist, hätte ich sie gar nicht mitgebracht.« Er griff nach Xenias Hand. »Komm, wir gehen. Verzeih bitte, daß ich dich diesen Ungelegenheiten ausgesetzt habe.«

Sie machte sich los. »Es sind keine Ungelegenheiten. Ich kann verstehen, daß man mir mit Mißtrauen begegnet, nachdem man weiß, daß mein Vater Graf Pawel Lasarow ist.« Sie funkelte Terenkow an. »Aber das heißt noch lange nicht, daß Sie wissen, wer ich bin. Sie kennen nur meinen Namen.«

Diesmal lachte er. »Sie hat Schneid, die Kleine, das muß man ihr lassen.« Mit einer raschen Handbewegung umfaßte er ihr Kinn und blickte ihr in die Augen. »Von mir aus kannst du bleiben. Und wenn du tatsächlich, wie Sofia befürchtet, ein doppeltes Spiel spielst, dann wird dich das teuer zu stehen kommen. Auch wenn man uns alle hier verhaftet – für einen stehen zwanzig auf, und dann geht es dir an den Kragen, mein hübsches blaublütiges Täubchen.«

Er wandte sich zu den beiden Männern um, die die Szene bisher schweigend beobachtet hatten. »Ljuba, German, seid ihr einverstanden mit meiner Entscheidung?«

»Du wirst schon wissen, was du tust«, antwortete der eine, der wie ein schwarzbärtiger Kaukasier aussah, und der andere hob die Schultern. Er war untersetzt und glatzköpfig, mit rosiger Haut und hellen blauen Augen.

»Ist mir egal, ob sie da ist oder geht. Aber vielleicht hat sie ja die Wahrheit gesagt, und sie kann uns eines Tages sogar nützlich sein, wenn sie Medizin studiert. Wir brauchen immer welche, die unseren Leuten die Kugeln herausschneiden und Wunden vernähen. Damit kann man nicht zu jedem Arzt.«

»Dann setz dich zu ihnen an den Tisch«, sagte Terenkow und versetzte Xenia einen freundschaftlichen Stups. »Setzt euch alle. Sofia, schenk Tee ein.«

Die hagere Frau kniff die Lippen zusammen, tat aber, was er von ihr verlangte.

Terenkow hatte indessen ein paar eng beschriebene Seiten aus der Tasche seiner dunkelblauen Kosakenbluse geholt. Er zog die Lampe näher heran und breitete die Blätter auf dem Tisch aus.

»Ich habe eine wichtige Information für euch. Leo Nikolajewitsch Tolstoj hat einen offenen Brief an den Zaren geschrieben. Hierist die Kopie. Ihr könnt sie euch alle nachher durchlesen, aber die wichtigsten Abschnitte will ich zuvor mit euch besprechen.«

Xenia spürte ihr Herz aufgeregt gegen die Rippen schlagen. Leo Tolstoj, der berühmte russische Schriftsteller, von dem ihr Literaturprofessor erst kürzlich in der Schule gesagt hatte, er sei der zweite heimliche Herrscher Rußlands, einer, dessen Thron durch nichts zu erschüttern wäre, hatte sich an den Zaren gewandt ...

Im vergangenen Jahr hatte der Heilige Synod Tolstoj exkommuniziert, wie sie von ihrem Vater wußte, der diesen Schritt natürlich auf das freudigste begrüßt hatte.

Für ihn war der Verfasser von ›Krieg und Frieden‹, ›Anna Karenina‹ und ›Herr und Knecht« ein gottloser, verdammungswürdiger Mensch, der an den heiligen Grundfesten der zaristischen Ordnung rüttelte und seinen eigenen Stand – schließlich war er gräflicher Abstammung – verriet.

Aber Tolstojs Anhängerzahl war seit seiner Exkommunikation noch viel größer geworden, und er selbst scheute sich nicht, in offenen Briefen an Minister und Generäle die russischen Verhältnisse zu kritisieren. Zudem ließ er diese Briefe in ausländischen Zeitungen veröffentlichen.

Darum hatte es bisher auch niemand gewagt, ihm ernstlich etwas anzuhaben, denn das hätte eine Welle der Empörung in ganz Europa ausgelöst und die Vorstellung vom ›barbarischen Rußland‹ wieder voll aufleben lassen.

Und nun hatte Leo Tolstoj sogar an den Zaren geschrieben!

»Sein Brief ist eine ernsthafte und eindrucksvolle Warnung an Väterchen, endlich den Erfordernissen der Zeit Rechnung zu tragen und die reaktionären Bestrebungen seiner Ratgeber und Handlanger im Keim zu ersticken«, sagte Terenkow. »Er schreibt hier:

›Die Autokratie ist eine überkommene Regierungsform, die den Bedürfnissen eines Stammes in Mittelafrika, der von aller Welt abgesondert lebt, genügen mag, aber nicht den Bedürfnissen des russischen Volkes, das sich die Weltkultur immer mehr zu eigen macht. Deshalb kann diese Herrschaftsform ebenso wie die Orthodoxie, die mit ihr verbunden ist, nur mit Mitteln der Gewalt aufrechterhalten werden. Anders ausgedrückt: So, wie es heute durch die Verstärkung der Ochrana geschieht, durch Verbannung, Hinrichtungen, religiöse Verfolgung, Bücher- und Zeitungsverbot und im allgemeinen durch alle Arten von schlimmen und brutalen Maßnahmen ... Sie hätten diese Taten nicht ausführen können, wenn Sie nicht auf den unbedachten Rat Ihrer Mitarbeiter hin das unmögliche Ziel verfolgt hätten, das Leben des russischen Volkes nicht nur anzuhalten, sondern es zu einem früheren völlig überholten Zustand zurückzuführen ...‹«

Terenkow blickte in die Runde. »Was glaubt ihr? Wird dieser Brief etwas beim Zaren bewirken?«

Sofia – sie nannte sich mit Nachnamen, wie Xenia später erfuhr, Burlagina – lachte laut auf. »Empörung, was sonst? Er wird ihn lesen und sich über die Anmaßung ärgern, daß man ihm, dem gottgewollten Herrscher, Vorhaltungen und Vorschriften zu machen wagt. Tolstoj hätte sich mit dem Papier, auf das der Brief geschrieben ist, ebensogut den Hintern abwischen können.«

Der mit Ljuba Angeredete drehte sich eine Zigarette und zündete sie sich an. »Sei nicht so ordinär. Immerhin ist es bekannt, daß Väterchen ein großer Verehrer von Leo Nikolajewitsch ist. Außerdem wissen wir nicht, ob der Brief nicht in irgendeiner großen französischen oder belgischen Zeitung abgedruckt wird. Oder sogar in einer russischen. Vielleicht in der ›Iskra‹ oder ›Oswoboschdjenije‹. Wir sollten dafür sorgen, daß das geschieht. Dann kann der Zar den Brief nicht ignorieren.«

»Darum habe ich mich bereits gekümmert«, erwiderte Terenkow. »Struwe in Paris ist der Text zugegangen.«

»Struwe ist dafür nicht mehr der richtige Mann!« warf der rundliche German ein. »Er war mal ein scharfer Hund, aber inzwischen sind ihm die Zähne ausgefallen, und er predigt Mäßigung. Veränderungen – natürlich, aber um Himmels willen nur ja nicht durch Gewalt, sondern mit schleimscheißerischer Verhandlungstaktik! Er jammert über jeden Aufruf zum Klassenkampf, zetert in seiner Zeitschrift über die Semstwos, die ihre Befugnisse überschreiten, wenn sie die allgemeine Schulpflicht und die Abschaffung der Körperstrafe fordern, und hebt diese samtweichen Intellektuellen in den Himmel, die in ihren Utopien von einer weisen Beschränkung des Zarentums sprechen und in einet demokratischen Verfassung das Heil für Rußland sehen.«

»Struwe soll den Brief ja nur abdrucken«, widersprach Terenkow. »Seine Zeitung wird überall gelesen, und gerade die von dir so geschmähten Intellektuellen, ob sie nun der ›Einheit für die Befreiung‹ oder anderen gemäßigteren Organisationen angehören, werden dadurch erfahren, daß ihr hochverehrter Tolstoj wesentlich radikaler als sie selber denkt. Das kann nur gut sein.«

»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Pjotr zu. »Und vielleicht ist Tolstojs Brief ein erster Schritt zur Annäherung zwischen solchen Gemäßigten und uns.«

»Spinner sind das«, murrte German. »Auf die können wir leicht verzichten.«

Xenia hatte sich indessen die Kopie von Tolstojs Brief herangezogen und studierte ihn Satz für Satz. Die Eindringlichkeit seiner Vorhaltungen, die Leidenschaft, mit der er sich für ein neues Rußland einsetzte, und seine Liebe zu den Abertausenden, deren menschenunwürdiges Dasein er verbessern wollte, bewegten sie zutiefst.

Terenkow hatte sie beobachtet und setzte sich plötzlich neben sie auf die Holzbank. »Na, mein Täubchen, was hältst du davon? Ist deine zarte adlige Seele entsetzt, daß Graf Tolstoj es wagt, in solch einem Ton mit dem erlauchtigsten Herrscher aller Rußen zu reden?«

Heftig schüttelte Xenia den Kopf. »Nein, es ist wunderbar, was er schreibt, und vollkommen richtig. Der Zar kann und wird sich dem nicht verschließen.«

»Wenn er vorher nicht seine ›liebe Alix‹ um Rat fragt«, versetzte Terenkow sarkastisch. »Sie wird ihm schon beibringen, daß der gesalbte, gekrönte Herrscher so hoch über allen anderen Sterblichen steht wie der Mond, den die Hunde anbellen.«

Er legte Xenia den Arm um die Schultern, und die Berührung traf sie, als wäre sie mit einem bloßliegenden elektrischen Stromkabel in Kontakt gekommen. »Du kennst den Zaren persönlich, nicht wahr?«

Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Sinn seiner Frage zu begreifen. Dann nickte sie. »Ja, ich bin ihm vor zwei Jahren vorgestellt worden und seitdem noch einige Male bei Hof begegnet. Er ist, glaube ich, ganz anders, als die meisten vermuten.«

»Der gute, liebe Nicky, was?« spottete Terenkow. »Blauäugig, edelmütig und nachgiebig. Ein Kleinbürger reinsten Wassers. Mag sein, daß das bis zu einem gewissen Grade auf ihn zutrifft. Aber für den Zaren von Rußland sind es absolut unpassende, ja, gefährliche Eigenschaften.«

Er drückte ihre Schulter. »Ich könnte dir einen langen Vortrag darüber halten, aber ich will dich nicht gleich bei unserem ersten Kennenlernen allzu sehr schockieren, meine kleine Gräfin. Vielleicht sehen wir uns ja öfter, und dann wirst du – wenn du so klug bist, wie es den Anschein hat – sehr schnell dahinterkommen, warum wir diesen Zaren so satt haben, daß wir ihn aus vollem Herzen zum Teufel wünschen.«

Xenia schwieg. Sie hatte auf einmal das Empfinden, daß sie Pjotr besser nicht zu diesem Treffen begleitet hätte.

Es lag nicht an dem, was sie hier erfahren hatte, sondern an der Tatsache, daß dieser Terenkow eine tiefe Unruhe in ihr hervorrief.

Sie blickte ihn an, sah sein unrasiertes, zerklüftetes Gesicht mit der dunklen Haarmähne, die ihm weit in den Nacken reichte, seine schwarzen Augen mit den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen, roch seine Ausdünstung nach Schweiß und Kohl und Zwiebeln – alles Dinge, die ihr bisher Widerwillen eingeflößt hatten, und verstand sich selbst nicht, daß sie sich auf einmal auf unerklärliche Weise davon angezogen fühlte.

Sie wünschte, er würde seinen Arm von ihrer Schulter nehmen, und fürchtete diesen Augenblick zugleich, da seine Berührung einen prickelnden Schauer in ihr hervorrief.

Ich bin verrückt, dachte sie und rutschte auf ihrem Sitz ein bißchen tiefer in sich zusammen, um Terenkows Hand auszuweichen, die immer noch ihre Schulter preßte.

In seinen Augen lag ein wissender Ausdruck, als er es bemerkte, und er zog lächelnd seine Finger zurück.

»Und jetzt müssen wir uns leider von dir verabschieden, meine hübsche kleine Gräfin. Wir haben noch etwas zu bereden, das nicht für deine Ohren bestimmt ist.«

Als sie aufstand, wollte Pjotr sie begleiten, doch Terenkow sagte: »Du bleibst, Dobrowjew. Ich brauche dich noch.«

»Ich bringe Xenia Pawlowna nur zur Straße«, erwiderte Pjotr hastig und hielt ihr die Tür auf.

Sofia lachte über die kleine Höflichkeitsbezeugung. »Wie ein echter Bourgeois, findet ihr nicht?«

Xenia warf ihr einen aufgebrachten Blick zu. »Muß man schlechte Manieren haben, um von Ihnen akzeptiert zu werden?«

Die Männer lachten, und draußen sagte Pjotr zu ihr: »Das war richtig. Sofia ist wirklich manchmal unerträglich. Sie steckt voller Gift und schüttet es über alle und alles aus.«

»Ist sie Terenkows Freundin?« fragte Xenia neugierig, und er hob die Schultern.

»Ich glaube nicht. Auf jeden Fall ist sie hinter ihm her. Aber Terenkow ist keiner, der sich an eine Frau bindet. Er sagt, Gefühle kann man sich nicht erlauben, wenn man im Untergrund arbeitet. Es wäre zu gefährlich.«

»Er ist ziemlich radikal, nicht wahr?«

»Er hat seine Überzeugung, und dafür tut er viel«, erwiderte Pjotr vage, und sie runzelte die Stirn.

»Meinst du, er würde auch Bombenattentate planen?«

»Davon hat er noch nie etwas gesagt. Nein, ich bin sicher, daß er wie wir denkt: Streiks und Demonstrationen sind legale Mittel, um etwas durchzusetzen, auch wenn der Zar sie als ungesetzlich bezeichnet. Aber Terroranschläge und ähnliche Gewaltmaßnahmen – nein, dazu wird Terenkow niemals ja sagen.«

Am Abend fand im Lasarowschen Palais ein Souper statt. Etwa hundert Gäste waren geladen, darunter auch Swetlana und Leonid Soklow.

Widerstrebend hatte Xenia die Weisung ihrer Mutter befolgt und sich von Akulina Iwanowna in eine elegante Abendtoilette helfen lassen. Irina, ihre Schwester, trug ein reizendes violettes Spitzenkleid, das mit dunklerer Zackenlitze und ebensolchen Seidenbändern verziert war. Dazu hatte sie weiße Rosen in ihrem Haar und an dem breiten Schärpengürtel.

Xenia ging in silbriggrauem Taft, der ein etwas dunkleres Karomuster aufwies. Das Haar hatte sie im Nacken mit einer großen schwarzen Samtschleife zusammengebunden.

Ein Orchester spielte auf der Empore des großen Speisesaals, der verschwenderisch mit Blumen aus den Treibhäusern des Lasarowschen Palastes geschmückt war.

Xenias Tischherr war ein Leutnant aus Jurijs Garderegiment, ein Graf Konstantin Baljentschew, etwa in Jurijs Alter, der während des Essens pausenlos von den Paraden auf dem Marsfeld und in Krasnoje Selo und den glanzvollen Bällen der Wintersaison schwadronierte. Sein Geschwätz langweilte Xenia, und sie war erleichtert, als ihr Vater die Tafel aufhob und die Gäste in die einzelnen Salons und den Wintergarten bat, wo noch Getränke, Petit fours, Konfekt und alle möglichen Delikatessen serviert wurden.

Man fand sich in kleinen Gruppen zusammen, plauderte, lauschte einer Sängerin, die italienische Arien zum besten gab, und einem jungen Lyriker, der eine pathetische Hymne auf das Haus Romanow geschrieben hatte, die er nun vortrug.

In der Bibliothek und im Arbeitszimmer Graf Lasarows wurde geraucht und lebhaft über politische Fragen diskutiert. Die Baronin Praljamowa setzte sich im Musikzimmer an den Flügel und spielte Melodien aus ›Eugen Onegin‹, und Wera Karlowna winkte ihren drei Töchtern und tuschelte ihnen zu, sie sollten sich gefälligst eine Weile mit Tante Jekaterina unterhalten.

»Ihr habt sie noch kaum beachtet, und das gehört sich nicht. Ich möchte keinesfalls, daß sie einen schlechten Eindruck von euch mit nach Hause nimmt.«

Jekaterina Karessowa, die seit ewigen Zeiten verwitwete Cousine der Gräfin, thronte auf einem Kanapee im chinesischen Salon, wie immer ein Miniaturbild der Zarin an der Brust, und lächelte den drei Lasarow-Töchtern huldvoll entgegen.

Jede küßte ihr pflichtschuldig die Hand und erhielt die Aufforderung, sich zu ihr zu setzen. Swetlana war die erste, die von ihr examiniert wurde, hauptsächlich natürlich über das Zarenpaar, die kleinen Großfürstinnen und ob es denn stimme, daß die Kaiserin wieder in gesegneten Umständen sei.

Nikolaus und Alexandra hielten sich im Augenblick in Peterhof auf, und Swetlana war nur für zwei Tage in die Hauptstadt gekommen, um bei ihrer Schneiderin ein paar neue Toiletten für die Wintersaison in Auftrag zu geben und die Soiree ihrer Eltern zu besuchen.

»Ja«, erwiderte Swetlana, »Ihre Majestät erwartet ein fünftes Kind, und wir beten alle darum, daß es diesmal ein Sohn sein möge.«

»Es wird ein Sohn«, sagte Tante Jekaterina. »Doktor Nizier Philippe hat ihn ihr doch vorausgesagt.«

»Sie kennen ihn?« fragte Swetlana überrascht, und die Karessowa nickte.

»Er ist mir im letzten Winter im Haus des Fürsten Romanowskij vorgestellt worden. Das war, bevor er offiziell an den Hof eingeladen wurde. Ein sehr beeindruckender Mann. Ihre Majestät tut gut daran, ihm zu vertrauen.«

Swetlana schwieg. Seit Nizier Philippe vor einem Vierteljahr an den Hof gekommen war, hatte er einen fast unbegrenzten Einfluß auf die Kaiserin – aber auch auf Zar Nikolaus gewonnen.

Philippe stammte aus Lyon, wo er bereits große Erfolge als Hellseher, Wunderheiler und Hypnotiseur errungen haben sollte. Bei Hof führte er vielbestaunte spiritistische Sitzungen und Hypnoseexperimente durch und behandelte auch die körperlichen Leiden der Zarin.

Sei es nun, daß er wirklich etwas von Naturmedizin verstand, sei es, daß Alexandras grenzenloses Vertrauen zu ihm eine Besserung bewirkt hatte, auf jeden Fall erschien sie gesünder und ausgeglichener als seit langem.

»Doktor Philippe verfügt wirklich über rätselhafte, ungewöhnliche Kräfte«, fuhr Jekaterina Karessowa fort. »Die Baronin Rosen und die Gräfin Ignatjew konsultieren ihn regelmäßig. Er deutet ihre Träume, legt ihnen die Hände auf und hat die Baronin Rosen dadurch von ihrer Migräne und die Gräfin von ihrem Magenleiden befreit. Er hat ihnen auch verraten, daß er Einfluß darauf nehmen kann, ob eine Frau einen Sohn oder eine Tochter zur Welt bringt. Dann werden wir also endlich bald einen kleinen Zarewitsch haben.«

Xenia hörte nur mit halbem Ohr hin, wie die Karessowa sich anschließend darüber ausließ, daß die Geburt eines Thronfolgers endlich ›den schlechten Menschen, die das Zarenpaar anfeinden, den Mund stopfen werde‹. All diese Sozialisten und verrührten Narren, die es wagten, Seiner Majestät Reformen vorzuschreiben und sogar von einem Umsturz redeten, diese unverschämten Agitatoren, die die Arbeiter zu Streiks aufriefen und den Bauern predigten, sie sollten den Großgrundbesitzern das Land wegnehmen, würden dann einsehen, daß Gott mit dem Zaren war und man gegen Ihn sündigte, wenn man Seine Majestät angriff.

In Xenias Ohren klang es beispiellos dumm, was die Karessowa redete, aber sie hatte derlei Dinge immer wieder bis zum Überdruß in ihrem Elternhaus gehört.

Begriff denn niemand, daß die Situation viel ernster und bedrohlicher war, als alle hier glaubten?

Und was würden Papa und Mama, Tante Jekaterina und diese ganze illustre Gesellschaft sagen, wenn sie wüßten, wo sie, Xenia, heute nachmittag gewesen war?

Sie unterdrückte ein nervöses Kichern. Mama und die Tante, dachte sie, würden in Ohnmacht fallen und Papa alles aus mir herauszuprügeln versuchen, was ich von Pjotr, Terenkow und den anderen weiß. Aber ich würde nichts verraten, denn ich stehe auf ihrer Seite.

Wenn sogar Tolstoj ihre Ideen und Ziele teilte, mußten sie gut und richtig sein.

Xenia sah Terenkow ein paar Tage später wieder. Sie kam vom Newskij-Prospekt, wo sie Besorgungen gemacht hatte, und überquerte gerade die Anitschkow-Brücke, als eine Mietdroschke neben ihr hielt. Terenkow beugte sich aus dem offenen Fenster.

»Steig ein, ich bringe dich nach Hause.«

Xenia erschrak ein wenig. »Aber ich bin gleich daheim. Es sind nur noch ein paar Schritte.«

Er lachte. »Ich weiß. Wir können einen Umweg fahren. Nun komm schon, ich beiße dich nicht. Oder soll ich Euer Gnaden sagen und dich untertänigst um die Gunst bitten, daß du dich eine kleine Weile mit einem Niedriggeborenen wie mir unterhältst?«

Sie war achtzehn Jahre jung, und sein Spott weckte ihren Trotz.

»Ich rede mit jedem, der sich anständig benimmt«, sagte sie und warf einen Blick auf die Uhr, die an einer Goldkette um ihren Hals hing. »Eine halbe Stunde hätte ich Zeit.«

»Dann komm«, sagte er, öffnete die Kutschentür und half ihr beim Einsteigen.

Dann wandte er sich dem Kutscher zu. »Bring uns auf die Petersburger Seite, Onkelchen.«

Das Pferdchen, eine kleine rotbraune Stute mit dunklerer Mähne, zog gemächlich an. Sie fuhren über die Schloßbrükke, an der Börse auf der Wassiljewskij-Insel vorbei, und Terenko sagte: »Hier wohnt sie irgendwo, deine Schwester, die mit dem fürstlichen Schwein Leonid Soklow verheiratet ist, nicht wahr?«

Xenia hatte Soklow von Anfang an genauso wenig leiden können wie Swetlana. Deshalb hatte sie es ziemlich getroffen, daß ihre schöne Schwester ausgerechnet ihn geheiratet hatte.

Seitdem hatte Xenia immer wieder zu erfahren versucht, wie Swetlanas Leben mit Leonid verlief. Aber ihre Schwester sprach nicht darüber, und wenn Xenia ihr direkte Fragen gestellt hatte, hatte sie immer nur geantwortet: »Ich bin nicht glücklicher oder unglücklicher als andere Frauen, die eine Vernunftehe eingegangen sind. Mach dir keine Gedanken, Malenka, es geht mir nicht schlecht.«

»Heh, woran denkst du?« Terenkow stieß Xenia leicht in die Seite. »Ich habe dich etwas gefragt.«

Sie wandte den Kopf zum Fenster. »Meine Schwester wohnt in der Nähe vom Bolschoj-Prospekt. Aber Sie sind anscheinend ganz gut über meine Familie informiert?«

Er lachte. »Ich habe mich erkundigt, nachdem Pjotr dich mitgebracht hatte. Ärgert es dich, daß ich deinen Schwager als fürstliches Schwein bezeichnet habe?«

Xenia preßte die Lippen zusammen. »Es ist mir egal, wie Sie ihn nennen. Der ganze Leonid Iwanowitsch ist mir egal!«

»Oha, du magst ihn offenbar nicht besonders? Warum nicht?«

Sie warf ihm einen halb lachenden, halb ärgerlichen Blick zu. »Das geht Sie nichts an. Haben Sie mich nur mitgenommen, um mich nach meiner Familie auszufragen?«

»Nein«, sagte er und strich mit der Hand über ihr Haar. Seine Finger glitten unter den langen Zopf, zu dem sie es gebunden hatte, und umfaßten ihren Nacken.

»Ich wollte dich Wiedersehen. Du interessierst mich – ein Vögelchen, das das seidene, gut gepolsterte Nest verlassen will, um sich in ein ungewisses Abenteuer zu stürzen. Warum tust du das?«

Sie dachte einen Moment über ihre Antwort nach. Dann sagte sie, und es klang irgendwie rührend in seiner ernsthaften Aufrichtigkeit: »Weil ich nicht so leben möchte wie meine Mutter. Weil ich es überhaupt nicht richtig finde, wie sie und die vielen anderen leben, die ich kenne. Ich will etwas Nützliches tun, und ich möchte die Freiheit haben, mir auszusuchen, was das sein soll. Aber dort, wo ich herkomme, ist das nicht möglich, und darum denke ich, daß man es ändern muß.«

Die Droschke zockelte jetzt über eine der vielen Brücken, die über die kleine Newka führten.

»Du bist also eine Idealistin«, sagte Terenkow nach einer Weile.

Xenia lachte leise. Sie fühlte sich plötzlich wohl in seiner Gesellschaft. Er nahm sie ernst, und sie konnte mit ihm, genau wie mit Pjotr, über all das reden, was sie beschäftigte.

»Ich weiß nicht. Meine Pläne sind eigentlich ziemlich real. Pjotr hat Ihnen ja schon davon erzählt. Ich will Ärztin werden. Und irgendwie werde ich es schaffen«, setzte sie trotzig hinzu.

Er warf ihr einen schrägen Seitenblick zu. »Ich glaube fast, du hast recht. Du bist sehr zielstrebig und resolut.«

Wieder lachte sie. »Ich habe zum Glück den Dickkopf meines Vaters geerbt. Es wird schlimm werden, wenn wir uns über meine Pläne auseinandersetzen. Er wird nicht nachgeben – und ich auch nicht.«

»Und was willst du dann tun?«

»Was wohl? Meine Sachen packen und fortgehen. Das heißt, ich hoffe, daß ich meine persönlichen Dinge mitnehmen darf. Ich besitze ein wenig Schmuck und eine Menge unnützer teurer Kleidungsstücke, die ich kaum getragen habe. Man kann das alles verkaufen, und ich denke, daß ich davon eine Weile leben kann. Und vielleicht bekomme ich ja auch ein Stipendium. Sie müssen wissen, daß ich eine der besten Schülerinnen meines Jahrgangs bin.«

Wieder lächelte er über den unverkennbaren Stolz in ihrer Stimme. »Und wann wird sie stattfinden, diese unvermeidliche Auseinandersetzung zwischen dir und deinem Papa?«

Sie hob die Schultern. »Im nächsten Jahr, schätze ich, wenn ich die Schule beendet habe und mich an der Universität eintragen lassen will. Ich hoffe nur, Papa wird nicht so wütend, daß er mich nach Kowistowo schickt. Dann müßte ich nämlich bei Nacht und Nebel verschwinden.« Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wie heißen Sie übrigens sonst noch – außer Terenkow?«

»Du kannst mich Grischa nennen«, erwiderte er und strich abermals über ihren Nacken.

»Grischa – und weiter?«

»Nichts weiter. Keinen Iwanowitsch oder sonst einen Vatersnamen. Den habe ich abgelegt, weil er nichts zur Sache tut.«

»Also gut, Grischa ...« Xenia drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um der Berührung seiner Hand zu entgehen.

»Magst du das nicht?« fragte er sofort, und sie wurde rot.

»Ich glaube, nein. Außerdem muß ich nun wirklich nach Hause.«

Er ließ sie los und beugte sich auf dem Kutschensitz nach vorn. »Wie du willst. Onkelchen, fahr zurück!« rief er dem Kutscher zu, der etwas Unverständliches als Antwort brummte, aber gehorsam sein Pferdchen wendete.

Terenkow schwieg, bis sie die Schloßbrücke passierten und der Wagen in den Newskij-Prospekt einbog. Dann erkundigte er sich: »Soll ich dich an der Sadowaja absetzen? Dann hast du es nicht mehr weit bis zu eurem gräflichen Palais.«

»Ich kann nichts dafür, daß ich dort wohne«, erwiderte sie, verärgert über den Spott in seiner Stimme. »Und vermutlich wird es nicht mehr lange der Fall sein.«

»Nein, nicht mehr lange«, entgegnete er gedehnt. »So oder so.« Mit einem Finger seiner dunkel behaarten und kräftigen Hand strich er über ihre Nase.

»Also genieße noch ein Weilchen die seidenbezogenen Fauteuils, die Schokolade am Morgen in deinem spitzenberieselten Bettchen und die perfekte Schönheit, die euch Reiche dank eurer Dienstboten umgibt. Ein Hälmchen Unkraut im Park, und es wird ausgezupft. Ein Stäubchen Ruß auf dem Kamin, und es wird fortgewischt, eine Fluse auf dem kostbaren Teppich, sie wird aufgenommen. Und ihr macht euch nie die feinen weißen Fingerchen schmutzig. Darum ekelt ihr euch auch vor den Armen, weil sie so dreckig und zerlumpt sind, nicht wahr? Angewidert dreht ihr den Kopf zur Seite, wenn ihr solch einen Menschen seht. Nur ja keinen zweiten Blick riskieren, man könnte ja vor lauter Abscheu ein paar Eiterbläschen auf die Lippen bekommen. Vielleicht wirft man ihm ein paar Kopeken hin, diesem erbärmlichen Bündel Mensch – die moderne Art des Ablaßhandels, um sich von der Sünde der Gewissenlosigkeit und der Ausbeutung loszukaufen, aber ...«

Xenia riß die Kutschentür auf. »Ich weiß nicht, warum ich mir das anhören soll! Halt an, Kutscher, ich will aussteigen.«

Verletzt und zornig blickte sie Terenkow an und konnte es nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen schossen. »Was habe ich Ihnen getan, daß Sie auf einmal so voller Haß sind? Lassen Sie mich doch in Ruhe!«

Die Kutsche kam zum Stehen, und Xenia sprang so hastig hinaus, daß sie mit dem Knöchel umknickte und humpelnd davonlief.

Eine Woche später, sie kam gerade aus der Schule und war in Begleitung der beiden Nobokow-Töchter Darja und Lara, begegnete Terenkow ihr auf der Straße. Er grüßte sie im Vorübergehen mit übertriebener Höflichkeit und folgte ihr dann in einigem Abstand.

Xenia bemerkte es, als sie einmal stehenblieb, um sich ihr Schuhband zu richten.

Darja und Lara Nobokowa wohnten neben der Kasanschen Kathedrale. Nachdem sie sich von Xenia verabschiedet hatten, beschleunigte Terenkow seinen Schritt und holte sie wenig später ein.

»Wie ich sehe, gehst du wieder ganz normal. Du hast dir also neulich, bei deinem überstürzten Abgang, keine ernsthafte Verletzung zugezogen«, sagte er. »Das freut mich.«

Sie ging weiter und warf ihm nur einen schrägen Seitenblick zu. »Und warum laufen Sie mir heute nach? Wieder nur, um mich zu kränken?«

»Nein, ich wollte dir Abbitte leisten. Es tut mir leid, was ich dir neulich an den Kopf geworfen habe, obwohl es natürlich für fast alle deines Standes zutrifft. Du bist, so scheint es, eine Ausnahme.«

Daß er sich bei ihr so ohne alle Umschweife entschuldigte, entwaffnete sie. Ein Lächeln flog über ihr hübsches Gesicht, und Terenkow dachte: Sie ist wirklich süß. Man muß kein Opfer bringen, wenn man sie sich gefügig machen will. Es würde mir auch so Freude machen, sie zu verführen, selbst wenn sie keine Gräfin Lasarowa wäre.

Eine Kutsche fuhr langsam vorüber, und aus dem Wagenfenster winkten Xenia einige junge Leute zu. Sie biß sich auf die Lippen.

»Jetzt hat man uns zusammen gesehen. Hoffentlich tratschen die Mossolows es nicht brühwarm weiter. Wenn meine Eltern erfahren, daß ich mit einem fremden Mann auf der Straße geredet habe, werden sie genau wissen wollen, wer das war und was wir zusammen gesprochen haben.«

»Nun, dann denkst du dir eben eine Geschichte aus«, meinte er leichthin und fügte in dem gleichen nebensächlichen Ton hinzu: »Mossolow? Heißt so nicht der Kabinettchef des Hofministers?«

Sie nickte. »In der Kutsche saßen seine Enkeltöchter, wenn ich richtig gesehen habe, und die beiden Söhne von General Kuropatkin. Alexandra Mossolowa ist eine fürchterliche Klatschbase und so neugierig wie eine Katze.«

»Aber sie gehört zu deinem engeren Bekanntenkreis, ja? Und die jungen Kuropatkins auch?« forschte er.

»Ja – schon. Vorgestern waren die Mossolows zum Tee bei uns, und am Freitag findet bei den Kuropatkins, glaube ich, ein Liederabend statt, an dem Schaljapin singt. Haben Sie ihn schon einmal gehört? Er hat eine wunderbare Stimme.«

»Ja, das ist wahr«, sagte Terenkow. »Ich war einmal in der Oper und habe ihn auf einer Probe zu ›Ein Leben für den Zaren‹ gehört. German – du hast ihn ja kennengelernt – hat einen Bruder, der dort Bühnenarbeiter ist. Der hat mich in den Zuschauerraum geschmuggelt.«

»Und sonst waren Sie noch nie in der Oper?« fragte sie, und Terenkow schüttelte den Köpf.

»Nein. Du vergißt, daß unsereins dafür kein Geld hat. Ganz abgesehen davon, daß mich jeder Logenschließer wegen meiner abgerissenen Kleider hinauswerfen würde.«

An diesem Mittag trug er eine Kosakenbluse und eine speckige Mütze zu einer Kniehose, die mehrfach ungeschickt geflickt war. Meist war der Stoff nur mit groben Stichen zusammengezogen worden.

Xenia sah es und empfand plötzlich Mitleid mit ihm. Er sah es an ihrem Augenausdruck und knurrte: »Hör zu, Kätzchen, ich kann alles vertragen, aber nicht, wenn mich jemand bedauert.«

»Und ich mag es nicht, wenn man mich Kätzchen nennt«, konterte sie lachend.

»Gut, dann sind wir quitt.« Er bemerkte, daß sie einen verstohlenen blick auf ihre Uhr warf. »Du mußt heim, was? Schade, ich hatte gedacht, wir könnten noch eine Weile miteinander reden. Aber vielleicht können wir uns ein anderes Mal treffen.«

Sie wußte, daß sie dazu besser nein sagen sollte, aber sie tat es nicht. Noch nie war sie einem Menschen wie diesem Grischa Terenkow begegnet. Er interessierte sie, und sie wollte mehr von ihm erfahren.

Seine Ausdrucksweise war gebildet, also stammte er vermutlich aus einer gutbürgerlichen Familie, die ihm den Besuch einer höheren Schule ermöglicht hatte. Auch hatte er ein absolut sicheres Auftreten, ohne die geringste Spur von Unterwürfigkeit.

Aber wovon lebte er? Er hatte offenbar viel Zeit, also schien er nicht zu arbeiten. Auch hatte er nie irgendeinen Beruf erwähnt.

»Also was ist?« drängte Terenkow. »Hast du morgen nachmittag Zeit?«

»Ja«, antwortete sie sehr zögernd. »Ich kann sagen, daß ich zum Französischkurs muß. Der findet immer von drei bis fünf Uhr nachmittags statt, und ich habe ihn belegt, um meine Sprachkenntnisse etwas zu verbessern. Aber natürlich kann ich die Stunden auch einmal ausfallen lassen.«

»Schön, dann treffen wir uns im Park hinter der Erlöserkirche. Ich warte beim Hauptportal, einverstanden?«

»Einverstanden.« Sie lachte ein wenig. »Aber seien Sie pünktlich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand nicht die verabredete Zeit einhält.« Sie winkte ihm verabschiedend zu und lief dann eilig davon.

Terenkow sah ihr mit glitzernden Augen nach. Er war sicher, daß er mit Xenia Lasarowa einen phantastischen Fang gemacht hatte!

Grischa Terenkow, der eigentlich Gregor Lwowitsch Lapuchin hieß, stammte aus einer angesehenen Moskauer Kaufmannsfamilie. Während seines Studiums war er mit linksextremistischen Studentengruppen in Verbindung gekommen und hatte sich ihnen mit glühender Begeisterung angeschlossen.

Er verachtete die wohlanständige Bürgerlichkeit seiner Familie, den Geschäftssinn seines Vaters, die Frömmigkeit von Mutter und Schwestern und brach sein Studium ab, um bei einer Zeitung zu arbeiten, deren Büros bereits wenige Wochen darauf von der Geheimpolizei geschlossen wurde. Einige Mitarbeiter, darunter auch Grischa, wurden verhaftet, und nur dem Einfluß seines Vaters war es zu verdanken, daß er nach ein paar Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.

Trotzdem war der Bruch mit seiner Familie nicht mehr aufzuhalten. Nach einer letzten heftigen Auseinandersetzung mit seinem Vater verließ Grischa Moskau und ging nach Minsk, wo er kurze Zeit später der neugegründeten russischen Sozialdemokratischen Partei beitrat.

Zehn Tage nach ihrer ersten Versammlung wurde die Organisation durch eine Anzahl Festnahmen auseinandergesprengt.

Dennoch bestand sie illegal weiter, und Terenkow, wie Grischa sich nunmehr nannte, wurde ein Mitglied des Zentralkomitees der Partei. Lenin, aus seiner dreijährigen Verbannung nach Sibirien zurückgekehrt, erkannte die Fähigkeiten dieses leidenschaftlichen Anhängers der sozialistischen Lehre und betraute ihn mit allerhand Sonderaufgaben, besonders agitatorischer Art, die Grischa in der Folgezeit durch halb Rußland führten.

Er organisierte Streiks und Demonstrationen und war einer der Drahtzieher bei der Ermordung des Bildungsministers Bogolepow gewesen.

Auch nachdem Lenin sich ins Ausland abgesetzt hatte, um von dort aus seine politische Arbeit fortzusetzen, blieb Grischa einer der wichtigsten Verbindungsleute für ihn in Rußland. Er lieferte Artikel und Reportagen für die ›Iskra‹, eine Zeitung, die Lenin in seinem Exil ins Leben gerufen hatte und in der entschlossen zum revolutionären Kampf in Rußland und die Abschaffung des Zarentums aufgerufen wurde.

Terenkow war ein Revolutionär reinsten Wassers und bereit, für den geplanten Umsturz jedes Opfer zu bringen. Was zählte da eine Xenia Lasarowa?

Lenin hatte einmal von den ›nützlichen Idioten‹ gesprochen, den Steigbügelhaltern seiner Machtübernahme, und nicht anders bewertete Terenkow die Tochter von Graf Pawel Lasarow. Sie sollte sein ganz persönlicher ›nützlicher Idiot‹ sein.

Xenia kannte viele Leute, die am Zarenhof eine wichtige Rolle spielten, verkehrte in den besten Häusern und konnte ihm auf diese Weise manche wertvolle Information liefern. Und genau das war es, was sie für Terenkow so wertvoll machte. Daß sie zudem jung und hübsch war, war in seinen Augen eine angenehme Zugabe.

Von jenem Mittag an trafen sie sich zwei- oder dreimal wöchentlich in der kleinen Parkanlage hinter der Erlöserkirche, gingen spazieren, wenn das Wetter es erlaubte, oder tranken Tee in einem der zahlreichen Lokale zwischen der Fontanka und dem Katharinen-Kanal.

Dort standen enge hohe Häuser mit schmutzigen Hinterhöfen, es war ein schlecht beleumundetes Viertel, aber es hatte den Vorteil, daß Xenia hier auf keinen Bekannten stoßen würde.

Terenkow wohnte in der Nähe; er hatte zwei Dachzimmer in der Stoliarnyj Pereulok gemietet, und als er Xenia das erste Mal dorthin mitnahm, war sie entsetzt, in welcher Armseligkeit er lebte.

Die kleinen Fenster gingen auf einen Hinterhof mit geschwärzten Brandmauern hinaus, der Gestank von Müll und Katzenkot wehte herauf, wenn man sie öffnete, und die kärgliche Einrichtung – ein Tisch, zwei wacklige Lehnstühle, ein wurmstichiger Schrank und eine ebensolche Anrichte – war zerschlissen und voller Flecken.

Durch die halboffene Tür waren ein ungemachtes, zerwühltes Bett und ein emailliertes, halb verrostetes Gestell mit Waschschüssel und Krug zu sehen.

Terenkow gewahrte Xenias schockierte Blicke und lachte. »Ich weiß, du hast es feiner daheim. Aber mir genügt es. Außerdem kann ich schnell von hier verschwinden, falls es einmal nötig sein sollte. Vom Fenster aus führt eine Feuerleiter in den Hof, und durch die Keller und andere Hinterhöfe ist man weg wie eine Ratte, die hundert Schlupflöcher hat.«

Er fegte einen Stapel Broschüren und Schriftstücke von einem der Stühle. »Komm, setz dich. Du brauchst keine Angst zu haben, Wanzen gibt es hier nicht. Und die Alte, von der ich die Zimmer gemietet habe, kommt auch nicht gleich heraufgestampft und schreit Zeter und Mordio, weil ich ein Mädchen bei mir habe. So was ist man hier gewöhnt.«

Xenia gehorchte und zog ihr dunkelgrünes Cape, das an der Innenseite mit einem karierten Schottenstoff gefüttert war, enger um sich. »Es ist kalt«, sagte sie, und Terenkow ging zu dem Ofen in der Ecke.

»Warte, ich mach’ uns Feuer. In zehn Minuten ist es warm.«

Sie beobachtete ihn, wie er Papier und Holzspäne aus einem Korb nahm und in die Feuerstelle schichtete. Dann entzündete er das Papier, und gleich darauf züngelten die ersten Flämmchen hoch.

Er blies ein wenig hinein und legte Holz nach. Dann stand er auf und holte aus der Anrichte eine Flasche und zwei Gläser. »Es ist guter Wodka, kein Fusel. Trink einen Schluck, der wärmt dich zusätzlich von innen.«

Sie hatte noch nie Wodka getrunken, und der scharfe Alkohol ließ sie husten. Er rann ihre Kehle hinunter in den Magen, und gleich darauf verspürte sie tatsächlich eine angenehme Wärme, die sich in kleinen Wellen in ihr ausbreitete.

Terenkow lachte, weil sie das Gesicht verzog, und leerte sein Glas in einem Zug. Dann ging er vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hände. »Warum sagst du nichts? Hast du Angst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Müßte ich das denn?«

»Vermutlich bist du zum ersten Mal mit einem Mann in dessen Wohnung allein. Und dann noch mit einem so ungehobelten, unberechenbaren, auf dessen gute Manieren man nicht bauen kann. Meine kleine Gräfin, was bist du doch für ein leichtsinniges Geschöpf!«

Sie wollte ihre Finger zurückziehen, doch er hielt sie fest und legte sie gegen seine Wange. »Oder bin ich gar nicht der erste bei dir? Hast du schon deine verbotenen Spielchen gespielt?«

»Nein«, sagte sie. »Und ich bin auch nicht hergekommen, um jetzt damit anzufangen. Ich wollte sehen, wie du lebst, das war alles.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Oh, was sind wir doch für eine Heuchlerin, meine teure Xenia Pawlowna! Für was hältst du mich? Für einen grünen Jungen wie deinen Pjotr Dobrowjew? Den kannst du vielleicht mit einem Wink deiner hübschen Augen dirigieren und ihm weismachen, daß du ein tugendhaftes Mädchen bist, das man nur aus der Ferne anhimmeln darf. Aber ich habe vom ersten Augenblick an gemerkt, daß du Feuer im Hintern hast und wie sehr es dir gefällt, wenn ich dich berühre. Also gib es ruhig zu.«

Sie biß die Zähne zusammen, um das Zittern ihrer Lippen zu unterdrücken, als er ihre Brust umfaßte und mit der Daumenkuppe darüberstrich.

»Das ist doch nicht wahr. Ich habe nie ... Bitte, laß mich los!«

Er gab keine Antwort, sondern fing an, sie wild und zügellos zu küssen. Xenia drehte vergeblich den Kopf hin und her, um ihm zu entkommen. Als die die Arme gegen ihn stemmen wollte, drückte er sie so fest an sich, daß sie keinen Finger mehr rühren konnte.

»Wehr dich doch nicht. Sag lieber, daß du es willst, genauso sehr wie ich. Los, sag es ...«

»Nein«, würgte sie hervor. »Bitte, ich will gehen ...«

Er gab sie so abrupt frei, daß sie taumelte und in den Lehnstuhl zurückfiel. Während er seinen Atem zur Ruhe zwang, musterte er sie aus schmalen, funkelnden Augen. Dann sagte er leise: »Ich bin dir nicht gut genug, was? Du bist zwar scharf auf mich, aber gleichzeitig schaudert deine hochadlige Seele vor mir zurück. Der dreckige Muschik, der in einer Dachkammer haust ... An so etwas wirft sich eine Lasarowa nicht weg. Gut, dann geh. Beweg deinen verdammten Hintern und verschwinde!«

Fast hätte er gelacht, als sie genauso reagierte, wie er es erwartet hatte: Sie blieb sitzen, die Hände im Schoß verkrampft, und blickte unglücklich zu ihm hoch.

»Du siehst das falsch, Grischa. Ich bin wirklich nicht hochmütig. Man sucht sich das Haus nicht aus, in dem man geboren wird. Aber du warst plötzlich so anders ... so gewalttätig. Das hat mich erschreckt.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht, mein Kind. Wenn ich zu deinen adligen Vornehmtuern gehörte oder wenigstens ein gutbetuchter Bourgeois wäre – mit Haus und Dienerschaft, hättest du mich nicht zurückgewiesen. Aber du hast schon recht: Was willst du mit einem wie mir? Ich nehme dich höchstens in den Dreck mit, in dem ich lebe. Unsereins steht doch immer mit einem Bein im Gefängnis oder riskiert, zum Krüppel geschossen, von Kosakenpferden niedergeritten oder nach Sibirien geschickt zu werden. Nein, nein, du hast vernünftig gehandelt, daß du dich da nicht hineinziehen läßt.«

Seine Stimme klang bitter, und der Blick, mit dem er Xenia bedachte, war so verletzt und voller Traurigkeit, daß ihr das Herz schmolz.

»Du hältst mich für feige, was?« fragte sie. »Du meinst, ich hätte das alles nur dahergeredet, was ich dir über meine Einstellung zu euren Zielen gesagt habe. Aber das ist nicht wahr. Ich bewundere dich, daß du für eine neues, besseres Rußland kämpfst und dafür deine Sicherheit aufs Spiel setzt, und ich wünsche, ich könnte dir dabei helfen. Für mich bist du kein dreckiger Muschik, Grischa, sondern ein sehr mutiger, selbstloser Mann, der freiwillig ein so armseliges Leben führt, weil er sich seine Ideale nicht abkaufen läßt.«

Er hatte ihr inzwischen erzählt, daß er aus einem wohlhabenden, angesehenen Elternhaus stammte, dessen Tür ihm wegen seiner politischen Überzeugung verschlossen war, und das hatte Xenia sehr beeindruckt.

Sie stand auf und ging auf Terenkow zu. Mit einer scheuen Bewegung legte sie die Hände auf seine Brust und schmiegte ihre Wange gegen den rauhen Stoff seines Hemdes.

»Laß das«, sagte er und versuchte, sie von sich zu schieben. »Ich bin auch nur ein Mensch, Xenia, und ich begehre dich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Deshalb solltest du jetzt wirklich gehen. Verzeih mir, daß ich eben den Kopf verloren habe. Es wird nicht wieder geschehen.«

»Verzeih du mir«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen, »daß ich dich zurückgewiesen habe. Aber ich war wirklich nur erschrocken, weil du auf einmal so verändert warst.« Sie seufzte und hob den Kopf, und er sah, daß Tränen in ihren Augen standen. »Ich fürchte, ich bin sehr unerfahren, Grischa. Du wirst behutsam mit mir umgehen müssen.«

Da hob er sie hoch und trug sie in seine Schlafkammer zum Bett.

Im Palast der sieben Sünden

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