Читать книгу Im Palast der sieben Sünden - Susanne Scheibler - Страница 12

8. Kapitel

Оглавление

Swetlanas Sohn wurde am 28. Mai geboren, und er war ein kräftiges, schönes Kind mit den blauen Augen seines Vaters und den edlen Gesichtszügen seiner Mutter.

Es war eine schwere Geburt; Swetlana lag drei Tage lang in den Wehen, ein armes, gepeinigtes Stück Mensch, das ganz allein war in seiner Not.

Allerdings waren zwei Ärzte um sie, deren bedenkliche Mienen ihr jedoch Furcht einflößten, statt ihr Zuversicht zu vermitteln. Leonid Iwanowitsch hatte die Mediziner gerufen, als die ersten Wehen einsetzten.

Auch Swetlanas Mutter war gekommen, aber Wera Karlowna brachte wie immer nichts anderes zustande als ein großes Lamento darüber, wie sehr es sie doch schmerzte, die Qualen der Tochter mit anzusehen.

Es war niemand da, an dessen Hand sich die junge Frau hätte festhalten können, wenn Schmerzen und Angst sie zu überwältigen drohten, niemand, dessen Liebe ihr Kraft gegeben hätte.

Leonid Soklow hatte das Haus verlassen, sobald die Ärzte eingetroffen waren, und Swetlana sah ihn erst wieder, als ihr Sohn geboren war.

»Ein kleiner Leonidowitsch Soklow«, sagte er, als er drei Stunden nach der Geburt des Kindes auftauchte. »Hast du schon einen Vornamen für ihn?« Er roch nach Wodka und einem fremden süßlichen Parfüm.

»Fjodor«, sagte Swetlana matt. »Er soll Fjodor heißen.«

»Gut, einverstanden!« Soklow lachte, während er das Kind betrachtete, dessen Wiege neben ihrem Bett stand. »Mein Großvater mütterlicherseits hieß so. Wir werden sagen, daß wir das Kind nach ihm benannt haben.« Er warf Swetlana einen gehässigen Blick zu. »Vorerst gebe ich dir freie Hand bei seiner Erziehung. Aber später, wenn er etwas älter geworden ist, werde ich mich darum kümmern. Schließlich trägt der Bastard meinen Namen.«

Sie wollte in seiner Gegenwart nicht weinen, aber sie war so elend, daß sie den Tränen keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Er sah es und lachte wieder.

»Bricht dir die Vorstellung das Herz, ich könnte deinen Sohn zu einem Kerl wie mich machen? Nun, ich fühle mich recht wohl in meiner Haut, finde mein Leben amüsant und abwechslungsreich, und das solltest du dem kleinen Fjodor Leonidowitsch ebenfalls gönnen.«

Sie wollte den Kopf zur Wand drehen, doch er umfaßte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Merke dir eines: Falls du dir einbildest, du könntest irgendwann deinen Sohn gegen mich beeinflussen, so ist das vergebene Liebesmüh. Du würdest ihm und dir selbst keinen Gefallen damit tun. Hast du das begriffen?«

»Ja«, sagte Swetlana leise. Ein paar Sekunden lang betrachtete sie ihn, sah die scharfe Nase, von der sich zwei Falten zu den Mundwinkeln zogen, die merkwürdigen braungelben Augen mit den dichten Brauen darüber und das breite, Roheit verratende Kinn. Dann fügte sie hinzu: »Es macht dir einfach Freude, andere Menschen zu demütigen, nicht wahr? Du liebst es, gemein und bösartig zu sein.«

»Es ist wesentlich vergnüglicher, als den Ehrenmann zu spielen. Und da alle, die mich näher kennen, von mir nichts Gutes erwarten, kann ich meist tun, was ich gerade will. Also bringt es im Grunde nur Vorteile, wenn man einen schlechten Ruf hat.«

Sie wünschte sich, daß er ginge, aber er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an ihr Bett.

»Die beiden letzten Nächte habe ich beispielsweise bei einer niedlichen Ballettelevin vom Kaiserlichen Theater verbracht. Die Kleine hat mehr Feuer im Hintern als du. Vielleicht bringe ich euch einmal zusammen, damit du von ihr lernen kannst, denn offen gestanden, mein Kind, hast du mich in letzter Zeit zunehmend gelangweilt. Und wenn ich etwas hasse, dann ist es Langeweile. Das weißt du doch, nicht wahr?«

»Ich will und werde niemals irgend etwas mit einer deiner Geliebten zu tun haben«, erwiderte Swetlana. Ihr war eiskalt geworden, denn sie glaubte zu ahnen, was er da andeutete. »Dazu kannst du mich nicht zwingen. Eher wende ich mich an die Zarin und bitte sie um ihren Schutz für mich und mein Kind vor deiner Niedertracht. Darum bilde dir auch nicht ein, ich würde jemals zulassen, daß du meinen Sohn mit deiner Schmutzigkeit vergiftest.«

Seine Augen wurden tückisch. »Die Zarin weiß also ganz genau, daß dein Bastard das Kind ihres Schwagers ist?«

»Natürlich«, antwortete sie und fühlte zum ersten Mal, daß sie ihm überlegen war, und das erfüllte sie trotz ihrer Mattigkeit mit einem gewissen Triumph. »Ich habe es ihr gesagt, bevor du mir die Ehre deines Antrags erwiesen hast.«

Sie verstummte, weil er aufsprang und ihre Schultern umfaßte. »Du dreckige kleine Hure! Du trägst Wasser auf beiden Schultern, was? Und jetzt willst du uns gegeneinander ausspielen!«

»Ich tue es nur, wenn du mich dazu zwingst. Also treib mich nicht dahin.«

Er schüttelte sie, und seine Finger, die sich in ihr Fleisch gruben, fügten ihr Schmerzen zu. »Laß mich los, du tust mir weh ...«

Überraschenderweise gehorchte er, und Swetlana fiel in die Kissen zurück. Soklow blickte mit zusammengezogenen Brauen auf sie hinunter. »Weißt du was? Du langweilst mich tödlich – mitsamt deinem Windelscheißer! Eine Zeitlang war ich verrückt nach dir, aber du bist nur halb so gut im Bett, wie ich erwartet habe, und Mittelmaß hat mich noch immer zum Gähnen gebracht. Kann sein, daß ich dir trotzdem noch ein oder zwei Kinder mache, weil ich nicht nur diesen Bastard hier großziehen will. Doch im übrigen werde ich mir meine Vergnügungen außerhalb des ehelichen Bettes suchen.«

An diesem Tag bekam Swetlana Fieber. In dem angenehmen Dämmerzustand zwischen Traum und Wirklichkeit verschwammen die Konturen. Alles, was sie quälte, schien fern und gedämpft.

Ihre Mutter kam und brachte einen Arzt mit, außerdem eine Amme für das Kind. Schura Nikititschna war eine Ukrainerin mit üppigen Brüsten und melancholischen Augen, deren Schnitt verriet, daß unter ihren Vorfahren einmal ein schwarzäugiger Usbeke oder Tunguse vertreten war. Sie hatte vier Kinder, das fünfte, ein kleines Mädchen, war einen Tag zuvor gestorben. Und sie hatte so viel Milch, daß sie noch zwei weitere Neugeborene hätte stillen können.

Soklow machte wahr, was er angekündigt hatte: Er war selten daheim, auch des Nachts nicht. Manchmal brachte er die Kumpane, mit denen er herumzog, mit in den Palast, und dann hörte Swetlana die Männer grölen und herumpoltern. Auch das helle Kreischen von Frauenstimmen und laute Zigeunermusik drangen bis in ihr Schlafzimmer.

Es war ihr gleichgültig. Leonid konnte tun und lassen, was er wollte, solange er nur sie in Frieden ließ.

Das Fieber, von dem Dr. Grischajew zunächst angenommen hatte, es sei das gefürchtete Kindbettfieber, ging rasch zurück. Dennoch erholte Swetlana sich nur langsam von der Geburt. Sie fühlte sich matt und elend und verließ das Bett immer nur für ein paar Stunden.

Die Zarin hatte ihr zur Geburt ihres Sohnes ein silbernes Teegeschirr geschickt und ein paar Zeilen dazugeschrieben.

Gott segne Sie und Ihren Sohn. Möge er Ihnen nur Freude bereiten, meine liebe Madame Soklowa. Ich bin sehr begierig, den Kleinen kennenzulernen, und hoffe, daß Sie bald einmal mit ihm nach Zarskoje Selo kommen, um ihn uns zu präsentieren.

Dies geschah Anfang Juli. Über St. Petersburg hing eine brütende Hitze, der Himmel war fast weiß, und Milliarden von Mücken schwärmten aus den benachbarten Sumpfgebieten aus. Dennoch war die kaiserliche Familie nicht, wie sonst im Hochsommer, nach Petershof übersiedelt, sondern in Zarskoje Selo geblieben.

Den Grund dafür erfuhr Swetlana, nachdem sie der Zarin ihren kleinen Sohn vorgestellt hatte.

Alexandra schaute ihn lange an, und Swetlana sah, daß ihr Tränen in die Augen traten.

»Er gleicht seinem Vater«, meinte die Kaiserin leise. »Ach Gott, warum mußte Georg Alexandrowitsch so früh sterben! Wir alle vermissen ihn so sehr. Darf ich den Kleinen einmal halten?«

Swetlana legte ihr das kleine, nach russischer Sitte in einen bunt bestickten Strampelsack gehüllte Bündelchen Mensch in die Arme, und die Zarin wiegte es sacht hin und her.

»Ich werde auch bald einen Sohn haben«, sagte sie mit einem entrückten Lächeln. Sie hatte Swetlana allein empfangen – in ihrem Boudoir, das an das Schlafzimmer des Kaiserpaares im Alexander-Palast von Zarskoje Selo grenzte. »Mitja Koljaba und Bruder Basil haben es mir beide prophezeit, und Vater Johann von Kronstadt hat mir geschrieben, daß ich ihnen unbedingt Glauben schenken darf. Sie seien heilige, von Gott inspirierte Männer, trotz ihrer armseligen irdischen Gestalt. Es gefalle dem Allmächtigen, sich durch die Ärmsten der Armen zu offenbaren.«

Vater Johann kannte Swetlana, da sie ihm einige Male beim Zarenpaar begegnet war. Er war ein hochgewachsener weißhaariger Priester mit seltsam leuchtenden Augen, die jedem Menschen bis auf den Grund der Seele zu blikken schienen.

Die Zarin sprach mit kindlicher Bewunderung von ihm, besaß er doch neben seiner tiefen Frömmigkeit große spirituelle Fähigkeiten. Er sollte durch Handauflegung und Gebet mancherlei Schmerzen nehmen und gelegentlich sogar wahrsagen können. Auf jeden Fall aber war er ein integrer Mann, dessen Aufrichtigkeit außer Frage stand.

»Wer sind Mitja Koljaba und Bruder Basil?« fragte Swetlana, weil sie diese beiden Namen noch nie gehört hatte.

Alexandra setzte sich mit dem Kind auf den Armen in einen Sessel. »Ach, das wissen Sie ja noch gar nicht! Die beiden sind Pilger, die durch Rußland wandern, also Stranniki. Sie schlafen in Klöstern oder bei frommen Leuten, die sie aufnehmen, und nach Kasteiung und Gebet verfallen sie vielfach in einen Zustand, in dem sie predigen und weissagen. Vielleicht erleben Sie es einmal mit, wenn die beiden ihre Andacht abhalten.«

Swetlana wußte, daß die Zarin einen ausgeprägten Hang zu religiösem Mystizismus hatte, den vor allem die Wyrubowa förderte. Die Hofdame liebte es, bei jeder Gelegenheit von Wundertätern und heiligen Narren zu erzählen. Es waren ganz unglaubliche Geschichten darunter, die Alexandra Fjodorowna aber geradezu begeistert und völlig kritiklos in sich aufsog.

Gelegentlich kamen solche Stranniki an den Hof. Meist hatte die Wyrubowa sie in Petersburg gesehen oder von ihnen reden gehört und die Zarin bestürmt, sie zu empfangen. Es waren armselige, schmutzige Gestalten in zerlumpten Kutten, mit wirrem Haar und Bart und fanatischen Gesichtern, die Swetlana eher Widerwillen einflößten.

Sie war ein gläubiger Mensch, aber sie besaß zuviel gesunden Instinkt, um auf das oftmals abstoßende Gebaren dieser Leute hereinzufallen.

Eigentlich hätte sie aus diesem Grunde lieber auf ein Zusammentreffen mit den beiden neuen Stranniki verzichtet, aber noch während sie mit der Zarin plauderte und diese den kleinen Fjodor auf den Armen hielt, meldete die diensttuende Kammerfrau Anna Wyrubowa an, die gleich darauf in das Boudoir gestürmt kam.

»Euer Majestät mögen verzeihen, wenn ich störe, aber Bruder Basil und Mitja Koljaba verlangen nach Ihnen. Bruder Basil hat wieder eine Offenbarung gehabt, die Euer Majestät betrifft.«

Die Zarin sprang sofort auf. »Wahrhaftig? Wo sind sie? Ich will sie sehen!«

Sie drückte Swetlana das Kind in die Arme, und die Wyrubowa deutete nach draußen. »In der Kammer, die Sie den beiden zuweisen ließen. Sie haben vor der Ikone des Heiligen Alexej gebetet, gemeinsam mit mir und ... Aber kommen Sie nur und sehen Sie selbst!«

Alexandra Fjodorowna forderte Swetlana auf, sie zu begleiten, und zu dritt liefen sie durch die Vorzimmer, einen Flur, die Treppe hinunter und ins Parterre.

Swetlana hielt ihren Sohn fest an sich gedrückt. Schon in der Halle hörte sie einen seltsam monotonen Singsang, von dem sie einzelne Worte, aber nicht den Sinn verstand. Dann erhob sich eine andere Stimme zu einem ekstatischen Kreischen, das abrupt abbrach, als die Wyrubowa eine Tür aufriß.

In dem Raum dahinter wurden in der Regel herumreisende Pilger und Stranniki untergebracht, wenn sie nach Zarskoje Selo kamen. Das Zimmer war karg möbliert mit zwei Betten, einem Schrank, Tisch und Stühlen und einer allerdings sehr kostbaren großen Ikone zwischen den Fenstern.

Davor lag ein Mann. Seine Arme und Beine zuckten, und er schlug immer wieder mit der Stirn auf den Boden. Seine Füße waren nackt, schmutzig und von großen Schwielen bedeckt. Die Kutte war halb nach oben gerutscht, und Swetlana sah, daß die Waden blutige Wunden von Geißelhieben aufwiesen.

Ein zweiter Mann, offenbar der, der eben noch so entsetzlich geschrien hatte, warf sich auf die Knie, als er der Zarin ansichtig wurde, und rutschte zu ihr hin.

»Mütterchen! Kaiserin!« stammelte er mit einer kindlich hellen Stimme, während Speichel aus seinem Mund tropfte. Swetlana machte unwillkürlich eine Abwehrbewegung, als er Alexandra Fjodorownas Knie umklammerte, aber die Zarin sagte:

»Lassen Sie ihn. Kolja Mitjaba ist ein heiliger Mann.« Dann beugte sie sich zu ihm hinunter. »Segne mich, Bruder kolja. Male mir das Kreuzzeichen auf die Stirn.«

Er tat es und murmelte dabei allerhand unverständliches Zeug, von dem Swetlana wiederum nur einige Satzfetzen verstand. »Du Gütige ... Mutter eines neuen Zaren ... Gepriesen sollst du sein und die Gnade Gottes auf dir liegen ...«

Dann sank er in sich zusammen, und ein jammervolles Schluchzen kam aus seinem Mund.

Die Zarin berührte ihn an der Schulter. »Steh auf, Bruder Kolja, ich bitte dich.«

Aber er kroch noch mehr in sich zusammen und schüttelte den struppigen Kopf. »... bin es nicht wert ... Muß im Staub liegen und Buße tun für die Sünden, die im heiligen Rußland geschehen. Sie schreien zum Himmel, all die Hurerei, das Prassen, das Betrügen und Morden. Sie morden nicht nur mit Gift und Dolch und Pistolen. Sie töten vor allem die Seelen, diese Teufel, und ich muß mich geißeln, geißeln, um das Böse zu sühnen ...«

Er richtete sich halb auf und riß im Rücken seinen dunklen schmutzigen Bauernkittel auseinander, den er zu Hose und Stiefeln trug. Seine Haut war von halb verschorften, eitrigen Wunden bedeckt, die näßten und bluteten.

»Da seht, was ich für sie tue, die Huren und Mörder! Seht es, Mütterchen, und betet mit mir zu Gott, daß er mein Opfer annimmt! Denn sonst wird Rußland die Strafe des Herrn treffen, und es wird versinken in einer Flut von Elend. Die sieben Plagen werden über das Land kommen, und nur ich, Kolja Mitjaba, der Bruder der Armen, kann es verhindern.«

Er ist wahnsinnig, dachte Swetlana, von Grauen erfaßt. Das Kind in ihrem Arm, aufgeschreckt durch die wüste, laute Stimme, begann zu weinen. Sie preßte es an sich und barg sein Köpfchen an ihrer Schulter.

Rasch wollte sie den Raum verlassen, doch Kolja hielt sie zurück. »Bleib, Töchterchen. Laß es mich ansehen, dein Kind, und laß es von mir gesegnet werden.«

Sie fuhr zurück, als er seine Hände nach Fjodor ausstreckte, doch die Zarin nickte ihr zu. »Lassen Sie ihm die Hände auflegen, meine Liebe. Es sind Hände, die Wunder bewirken können.« Ihre Augen glänzten, und die Röte auf ihrem Gesicht verriet ihre tiefe Erregung.

»Sei Gott geweiht, Söhnchen«, murmelte Kolja Mitjaba und schlug das Kreuz über Fjodor. »Spuck dem Satan ins Gesicht, hörst du? Schlag die Sünde ans Kreuz und bete, bete für Rußland ...« Der Blick seiner flackernden Augen bohrte sich in den von Swetlana. »Und du, Töchterchen ... bist in Samt und Seide gehüllt und hast glitzernde Steine um den Hals. Sieh zu, daß sie dich nicht brennen und würgen, die Hurensteine ...«

Er kam auf die Füße und lief mit grotesken Bewegungen zu der Bettstatt hinüber, auf der seine speckige Fellmütze lag. »Hurensteine!« wiederholte er. »Blendwerk des Satans ...« Er fiel auf die Decke und verstummte. Mit leeren, dumpfen Augen starrte er vor sich hin.

Die Wyrubowa ging auf die Ikone zu und berührte den am Boden Liegenden an der Schulter. »Bruder Basil«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Steht auf. Ihr seid erschöpft. Ihr müßt neue Kräfte sammeln. Soll man Euch etwas zu essen und zu trinken bringen?«

Als der Mann den Kopf hob, um sie anzublicken, sah Swetlana, daß sein Gesicht schweißüberströmt war. Er war älter, als sie angenommen hatte, vielleicht um die Sechzig, mit tiefen Falten und gelblicher Haut. Er lächelte der Wyrubowa zu und entblößte dabei seinen fast zahnlosen Mund.

»Nichts essen ... nur ein wenig ruhen. Ich war fort, weit fort. Das hat mich müde gemacht.«

»Wo wart Ihr?« fragte Anna Alexandrowna. »Erzählt es Ihrer Majestät, so wie Ihr es mir vorhin gesagt habt.«

Auf sie gestützt, stand er auf und ließ sich zu Alexandra führen. Er lächelte noch immer, und seine schwarzen tiefliegenden Augen erinnerten Swetlana an den starren Blick eines Raubvogels.

Sie versuchte, den immer noch schreienden Fjodor zu beruhigen, blies ihren warmen Atem in sein helles flaumiges Haar und wiegte ihn hin und her, bis sein Weinen verstummte.

»Ich war am Meer«, sagte Bruder Basil mit monotoner Stimme. »Oder nein, es war ein Kornfeld. Der Weizen wogte hin und her wie Wellen, goldgelbe Wellen, Mütterchen. Es war so friedlich. Doch auf einmal ging ein Stöhnen durch das Korn – wie von Menschenstimmen war es. Die Halme neigten sich, und der Himmel wurde dunkel. Und dann begann die Erde zu zittern. Tausende von Pferdehufen stampften sie. Ich hörte Schüsse und Geschrei, und Soldaten ritten über das Feld und schossen alles nieder. Der goldgelbe Weizen wurde rot von Blut, und ich sah Menschen wie Puppen durch die Luft wirbeln und am Boden sterben.«

»Wie grauenhaft!« Die Stimme der Zarin klang etwas brüchig, und sie faßte haltsuchend nach dem Arm der Wyrubowa.

»Weiter, Bruder Basil«, drängte diese, »was habt Ihr noch gesehen?«

»Es war eine Schlacht, und als sie vorüber war, wurde der Himmel im Osten wieder hell, und der Weizen richtete sich auf und verdeckte die Toten. Und ich hörte eine Stimme, die von überall her zu kommen schien, und sie rief: ›Der Sohn der guten Zarin wird das Blut abwaschen und seinem Reich Himmelsfreuden schenken. Im Zarendorf wird er empfangen und geboren werden. Gesegnet sei die Zarin, die über das Meer gekommen ist. Sie hält Rußland in betenden Händen.‹«

Der alte verstummte und senkte in einer Geste der Ergebenheit den Kopf. »So war es, allergnädigstes Mütterchen. Ihr könnt mir den Kopf abschlagen und meine Haut bei lebendigem Leib abziehen lassen, ich werde Euch nichts anderes sagen können.« Er schauderte zusammen und schlurfte wieder zu der Ikone, um sich davor zu Boden zu werfen.

Alexandra Fjodorowna wandte Swetlana das Gesicht zu. In ihren Augen glänzten Tränen. »Es sind fast dieselben Worte, die er schon einmal in einer Vision gehört und mir berichtet hat. Der Sohn der guten Zarin ... Im Zarendorf, also hier in Zarskoje Selo, werde ich ihn empfangen und zur Welt bringen. Verstehen Sie nun, meine liebe Swetlana Pawlowna, warum wir in diesem Sommer um keinen Preis nach Peterhof oder Oranienbaum gegangen sind? Die Prophezeiung muß sich hier erfüllen.«

Mit einem Blick, in dem Rührung und ein so grenzenloses Verlangen lagen, daß es Swetlana ins Herz schnitt, umfaßte Alexandra den kleinen Fjodor auf den Armen seiner Mutter.

»So Gott will, werde ich auch bald einen Sohn haben. Gott hat meine Gebete erhört. Er hat es mich durch seine Auserwählten wissen lassen.«

Arme Zarin, dachte Swetlana. Arme Alexandra Fjodorowna! Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, weil das Mitleid mit der unglücklichen Frau sie überwältigte.

In was für eine Welt nur flüchtete sich die Kaiserin von Rußland in ihrer verzweifelten Sehnsucht nach einem Thronfolger! Wie war es möglich, daß sie diesem Geisteskranken, der unter religiösen Halluzinationen litt, ebenso blind glaubte wie dem anderen, dem der Wahnsinn ins Gesicht geschrieben stand?

Oder waren diese beiden nur Scharlatane, die durch ein geschickt aufgeführtes Theater die Gunst der Zarin erringen wollten?

Swetlana wußte es nicht. Aber sie war sehr deprimiert, als sie in den Soklowschen Palast auf der Wassiljewskij-Insel zurückkehrte. Und sie hatte Angst um Alexandra Fjodorowna.

Im Frühherbst nahm Swetlana den Hofdienst wieder auf. Sie bezog ihr früheres Appartement in Zarskoje Selo, in dem nun einer der Räume als Kinderzimmer eingerichtet worden war. Schura Nikititschna, Fjodors Amme, und Jeanette, ihre französische Zofe, begleiteten sie.

Leonid Soklow kam gelegentlich ebenfalls an den Hof. Dann spielte er wie immer den liebevollen Ehemann und den in seinen Sohn vernarrten Vater.

Manchmal schlief er auch mit Swetlana, aber sie wußte, daß er zahlreiche Geliebte hatte, denn er liebte es, ihr von ihnen zu erzählen und mit seinen amourösen Erlebnissen zu prahlen.

Swetlana war an einem Punkt angelangt, an dem sie das nicht mehr verletzen konnte. Ihr einziges Glück war ihr Sohn. Ihm schenkte sie all die brachliegende Liebe, die in ihr war, und in ihn projizierte sie all das hinein, von dem sie jemals geträumt hatte. Er sollte es gut haben, ihr kleiner Fjodor, und glücklich sein.

Als Swetlana an den Hof zurückkehrte, waren zwar Bruder Basil und Kolja Mitjaba nach Moskau weitergewandert, doch sie erfuhr von der Zarin, daß sie zurückkommen würden.

Statt ihrer beherbergte Zarskoje Selo eine Reihe von anderen Stranniki, auch Frauen darunter, die alle eines gemeinsam hatten: Sie waren schmutzig, zerlumpt und ekstatisch fromm. Es waren Epileptiker und Schwachsinnige darunter, deren Gebaren Swetlana oftmals angst machte. Aber die Zarin verbrachte viel Zeit mit ihnen, nahm an ihren Gebetsstunden teil und lauschte gläubig ihren wirren Ausbrüchen angeblicher Erleuchtung.

Es war eine ungesunde, fiebrige Atmosphäre, und Swetlana wünschte, Alexandra Fjodorowna würde sich daraus befreien. Doch selbst der Zar erschien gelegentlich bei den Stranniki und ließ keinen Zweifel daran, daß er zumindest einigen von ihnen tatsächlich spirituelle Fähigkeiten zugestand.

Dann wurde Zarin Alexandra wieder schwanger, und seitdem stand es für sie fest, daß sie dieses Mal den verheißenen Sohn zur Welt bringen würde.

»Seine Majestät hat mir zwar nie den geringsten Vorwurf gemacht oder eine Spur von Enttäuschung an den Tag gelegt, daß ich nur Mädchen geboren habe«, vertraute sie Swetlana an. »Aber ich weiß, wie sehr er darunter gelitten hat, besonders seit Georg Alexandrowitschs Tod. Sein jüngster Bruder Großfürst Michael, ist nicht der Richtige, um einmal den Thron zu besteigen. Er ist zu schwerfällig und hat nur seine eigenen Interessen im Kopf. Außerdem will er um keinen Preis Zar werden. Also ist es ganz allein meine Aufgabe, Rußland endlich den Zarewitsch zu geben.«

Sie sprach viel von dem Ungeborenen und klagte nicht über die vielfältigen Beschwerden der Schwangerschaft. Statt dessen wirkte sie so zuversichtlich und ruhig, wie Swetlana sie noch nie erlebt hatte. Sie war wie eine Mensch, der das Ziel all seiner Wünsche greifbar vor Augen hat.

Swetlana war in Zarskoje Selo, als die Wehen bei der Zarin einsetzten, eine knappe Woche vor dem erwarteten Geburtstermin. Auf Alexandra Fjodorownas Wunsch blieb sie bei ihr während der langen Nachtstunden, in denen die Geburt nur langsam voranschritt.

Auch Sonja Orbeljani war da, während die Wyrubowa vor ein paar Tagen nach Moskau gereist war, um dort eine erkrankte Verwandte zu pflegen. Swetlana war froh darüber. Sie konnte die schwarzhaarige, dickliche Frömmlerin immer weniger leiden, die sie insgeheim für die Hinwendung der Zarin zu einem so ungesunden Mystizismus verantwortlich machte.

Es wurde eine quälende Geburt, die Alexandra Fjodorowna unsagbar geduldig durchlitt.

Sie schrie nicht, wimmerte nur manchmal leise mit fest zusammengepreßten Lippen und war für jedes tröstende Wort und jede Handreichung rührend dankbar.

Endlich, in den Abendstunden des folgenden Tages, erblickte das neue Zarenkind das Licht der Welt – und es war wiederum ein Mädchen.

Alexandra war zunächst zu erschöpft, um allzu enttäuscht zu sein. Außerdem war sie eine gute, liebevolle Mutter. Als man ihr das kleine Mädchen in den Arm legte, küßte sie es und drückte es an sich. Nie hätte sie das Kind, das auf den Namen Anastasia getauft werden sollte, entgelten lassen, daß es nicht der so heiß erflehte Zarewitsch war.

Aber die Verzweiflung kam später.

»Gott hat mich verlassen«, klagte die Zarin, als sie zwei Tage nach der Entbindung mit der Fürstin Orbeljani und Swetlana einmal allein war. Blaß und hinfällig lag sie in den Spitzenkissen ihres Bettes, und ihre Augen waren rot vom Weinen. »Was jede russische Bäuerin zuwege bringt, ihrem Mann gesunde, kräftige Söhne zu schenken, hat er mir versagt. Warum nur? Will er, daß meine Gegner noch mehr über mich triumphieren, als sie es ohnehin tun?«

Swetlana wollte widersprechen, doch Alexandra hob die Hand. »Nein; nein, meine gute Soklowa, machen Sie mir nichts vor. Ich weiß, daß ich am Hof mehr Feinde als Freunde habe. Man nimmt es mir übel, daß ich gewisse Unsitten anprangere und einen Betrüger und Kriecher ebenso verachte wie diejenigen, die meinen, alles besser zu wissen und besser zu können als der Zar. Er ist zu gütig, um zu durchschauen, daß sie ihn am liebsten zu ihrer Marionette machen würden. Sie wollen einen Herrscher, der gehorsam unterschreibt, was sie ihm an Gesetzesänderungen und angeblichen Reformen vorlegen. Glücklicherweise habe ich einige Male verhindern können, daß solche Zerstörer des Zarentums im Amt blieben, aber das verzeiht man mir nicht. Ach ...« Sie begann wieder zu weinen. »Und nun werden sie sich die Hände reiben und sagen: Sie taugt zu nichts, diese deutsche Prinzessin, die noch nicht einmal richtig Russisch gelernt hat. Sie wäre besser im Kindbett gestorben. Und damit haben sie vermutlich sogar recht.«

Swetlana nahm ihre Hände. »Um Gottes willen, das dürfen Majestät nicht einmal denken! Wir lieben Sie doch, und Seine Majestät wäre ganz außer sich, wenn er Sie so reden hörte. Er ist ganz vernarrt in die kleine Großfürstin Anastasia. Sie müßten nur sehen, wie gern er sie herumträgt und wie andächtig er sie betrachtet, wenn sie schläft.«

»Ja, er ist so gut«, flüsterte die Zarin. »Und sie ist ja auch reizend, meine kleine Anastasia. Aber sie ist kein Sohn ... kein Sohn!«

Ein neuer Tränenstrom ließ sie verstummen. Sie preßte das Gesicht in die Kissen und weinte so heftig, daß Sonja Orbeljani den Leibarzt der Zarin, Doktor Korowin, rief, der ihr ein Medikament zur Beruhigung eingab.

»Sie wird jetzt ein paar Stunden schlafen«, sagte er später im Vorsaal zu Swetlana. »Aber sie sollte, wenn sie erwacht, nicht allein sein. Würden Sie dafür Sorge tragen, Fürstin?«

Swetlana nickte. Sie wußte ihren kleinen Fjodor in der Obhut von Schura Nikititschna gut aufgehoben, aber sie hatte ihn in den letzten drei Tagen immer nur für ein paar Minuten sehen können, weil sie sich fast ständig in den Gemächern der Kaiserin aufgehalten hatte. Sie hatte sogar auf Alexandras Wunsch hin in einem der Vorzimmer geschlafen.

Aber wenigstens jetzt, wenn die Zarin ein wenig schlummerte, wollte Swetlana eine Weile mit ihrem Sohn verbringen.

Fjodor hatte im Mai seinen ersten Geburtstag gefeiert. Er war ein süßes, lebhaftes Kind von fröhlicher Gemütsart, und Swetlanas Herz floß über vor Liebe, wenn sie mit ihm zusammen war.

»Ich werde veranlassen, daß Ihre Majestät keinen Augenblick lang allein ist«, versprach sie dem Arzt. Er war mager und krummbeinig und erinnerte sie in seinen dunklen Kleidern immer ein wenig an einen zerrupften Raben.

Aber sie wußte, daß er nicht nur ein äußerst gewissenhafter Mediziner war, sondern auch hohe menschliche Qualitäten besaß. Der Zarenfamilie war er aufrichtig ergeben – im Gegensatz zu vielen anderen bei Hofe.

Alexandra Fjodorowna hatte die Wahrheit gesagt; sie war fast nirgendwo beliebt, nicht einmal beim Volk, das sonst so bereit war, in seinem gekrönten und gesalbten Herrscherpaar eine Art Mittelding zwischen Gott und den Menschen zu sehen.

Dieser Zar war fern und fremd und ohne Verständnis, so dünkte es den einfachen Russen, und seine Frau eine hochmütige Fremde, die ›Väterchen‹ zum Unguten beeinflußte.

Dr. Korowin nickte Swetlana zu. »Was für eine arme Frau«, sagte er leise. »Wenn man ihr nur helfen könnte!«

Im Palast der sieben Sünden

Подняться наверх