Читать книгу Im Palast der sieben Sünden - Susanne Scheibler - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеDie Verlobung, die nach orthodoxem Ritus fast ebenso bindend wie eine Trauung war, wurde in der Auferstehungskirche vollzogen.
Es war Abend, noch immer herrschte eisige Winterkälte, und der Schnee knirschte unter den Hufen der Pferde, die die Schlitten mit der Verlobungsgesellschaft nach der kirchlichen Zeremonie zum Lasarowschen Palais brachten.
An den Straßenecken brannten große hellodemde Feuer, an denen sich die Passanten wärmen konnten, und die bunten Dächer und Kuppeln der Petersburger Kirchen waren dick verschneit.
Wie es Tradition war, wurden an jenem Abend im Lasarow-Palais auch die Armen gespeist, die sich im Hinterhof des Wirtschaftstraktes eingefunden hatten. In langer Reihe standen sie da, Bettler und Obdachlose, aber auch solche, die krank und elend waren und keine Arbeit hatten.
Es gab Kohlsuppe aus großen Kesseln, mit viel Fleisch darin, Kascha mit dicker Sahne, Brot, Kwass und heißen Tee, und die Diener hatten Anweisung, die mitgebrachten Töpfe der Leute reichlich zu füllen und ihnen nicht zu verwehren, sich auch noch für morgen oder übermorgen Brot und Speck in die Taschen zu stopfen.
Auch hier brannte ein prasselndes Holzfeuer in der Mitte des Hofes, und darum drängten sich viele, wenn sie etwas zu essen ergattert hatten, um die vom Frost erstarrten Glieder zu wärmen.
»Gott segne Seine Gnaden«, sagten die Leute, bevor sie mit ihren vollen Näpfen zum Feuer schlurften, um sich erst einmal gierig satt zu essen. »Er schenke ihm und seiner Familie ein langes Leben.«
»Gott segnet ohnehin nur die Reichen«, erhob sich plötzlich eine scharfe, helle Frauenstimme über das demütige Gemurmel. »Deshalb ist es unnötig, daß ihr ihn noch darum bittet. Fluchen solltet ihr ihm, weil er blind und taub geworden ist für eure Not. Oder ist jemals für euch Brot vom Himmel gefallen, wenn ihr am Verrecken wart, oder aus Wasser Milch geworden, wenn eure Kinder an der Schwindsucht krepierten?«
Die Frau stand in der Nähe des Feuers, und der Flammenschein beleuchtete ihr hageres Gesicht mit den tiefliegenden Augen. Sie war in einen schmutzigen, löcherigen Kutschermantel gehüllt, und noch während sie sprach, waren etliche, die in ihrer Nähe waren, zurückgewichen, so daß sich auf einmal ein kleiner freier Platz um sie gebildet hatte.
Aber die Frau ließ sich dadurch nicht abschrecken. Furchtlos blickte sie in die Runde und fuhr in der gleichen Lautstärke wie vordem fort:
»Was seid ihr doch für Dummköpfe! Für ein bißchen Fressen kriecht und winselt ihr und küßt noch den Fuß, der sonst nach euch tritt! Was ist es denn schon, was der allergütigste, allergnädigste Graf Lasarow und seinesgleichen euch zukommen lassen? Ein elendes Almosen! Dort drinnen fressen sie Kaviar und saufen französischen Champagner. Sie tragen Samt und Pelze, und von einer einzigen Kette, die so ein adliges Hürchen um den Hals hängen hat, könnten ein paar Dutzend von euch ein ganzes Jahr lang leben!«
»Halt’s Maul!« mischte sich ein alter Mann ein und drohte ihr mit der Faust. »Willst du, daß man die Polizei ruft und uns hinausjagt? Die Leute, die noch nichts gekriegt haben, stehen bis an die Straße hinunter. Sollen sie leer ausgehen nur wegen der Hetzreden eines verdammten Frauenzimmers?«
Die Frau lachte und zog ihren Mantel enger um sich. »Hast du Angst, Ziegenbart? Dann geh und mach dir in die Hose. Aber vergiß nicht, noch ein paar Segenswünsche für Seine Gnaden, den Grafen Lasarow, anzufügen. Vielleicht verwandelt das deinen Gestank in puren Weihrauch!«
Einige Umstehende fielen in ihr Lachen ein, und ein jüngerer Mann in einer abgerissenen Uniform, dem der rechte Arm fehlte, rief: »Sie hat recht. Es ist wirklich nur ein Almosen, das wir hier kriegen, und dafür muß man nicht in Dankbarkeit zerfließen. Sie haben so viel, die Herren, und können jeden Tag Tausende von Rubeln verprassen, während wir vor Hunger nicht in den Schlaf kommen. Man sollte ihnen ihre Kohlsuppe ins Gesicht schütten und den Palast stürmen, um zu sehen, wie sie dort fressen und saufen. Erbärmliche Ausbeuter sind es, die durch unsere Not reich und immer reicher werden!«
»Stopft ihm die Schnauze, dem Aufwiegler!«
»Jagt ihn und das Frauenzimmer zum Teufel!«
»Weg mit den beiden, bevor die Diener die Hunde auf uns hetzen!« So erhoben sich laute, aufgebrachte Stimmen, doch andere widersprachen:
»Nein, laßt sie weiterreden. Wir sind ein paar hundert, und wenn man uns fortjagen will, können wir uns wehren! Viel zu lange haben wir gekuscht und uns ducken lassen!«
Die Frau im Kutschermantel hob den Arm. »So ist’s recht! Laßt euch nichts gefallen! Wenn wir nur wollten, Brüder, wir könnten das reiche Pack zu Paaren treiben und aus seinem eigenen Palast hinausjagen. Tun wir’s doch und feiern oben in den Prunksälen auf unsere Art das Verlobungsfest der Grafentochter. Ich wette, jeder von uns wird satt und besoffen und kann sich noch die Taschen vollstopfen mit goldenem Tafelgerät und Juwelen. Wir brauchen nur zuzugreifen!«
Sie verstummte, weil einer aus der Menge – ein hünenhafter, bärtiger Kerl war es – ihr den Mund zuhielt.
»Willst du uns alle ins Unglück bringen, Hexe? Du weißt wohl nicht, wie sie mit Aufrührern umgehen? Oder bist du schon mal vor einer Schwadron Kosaken hergerannt, während sie hinter und neben dir die Leute niederritten? Sind dir schon mal Kugeln um die Ohren gepfiffen, und du hast dich in den Dreck geworfen, um ihnen zu entgehen? Ich sage dir, da lernst du beten!«
»Beten – ja, du krummbeiniger Idiot!« schrie die Frau. »Zu wem? Zu einem Phantom, das nur in deinem dämlichen Hirn existiert? Wann hätte dieser Gott dich, falls es ihn gäbe, denn jemals vor einem Übel bewahrt? Ich sage euch, es gibt keinen Gott, und wenn ihr euer himmelschreiendes Elend bessern wollt, dann müßt ihr euch selbst helfen!«
»Sie lästert Gott!« rief eine dicke Frau aus der Menge. »Stopft ihr das Maul! Schlagt ihr die Zähne ein! Heilige Schmerzensmutter, was für eine verkommene Hure!«
Die Frau im Kutschermantel wich zurück, als etliche mit erhobenen Fäusten sie bedrängten. Die dicke Frau spuckte ihr ins Gesicht, und in diesem Moment fiel der erste Schuß.
Einer der Diener war, gleich nachdem die Unruhe sich unter den Leuten ausgebreitet hatte, ins Haus gelaufen und hatte die Wachen alarmiert, die das Hauptportal bewachten, da das Zarenpaar erwartet wurde.
Nun drängte ein halbes Dutzend Uniformierte in den Innenhof. Ihr Anführer hatte zunächst nur in die Luft geschossen.
»Geht auseinander, Leute!« schrie er. »Es gibt nichts mehr zu fressen! Bedankt euch bei denen dafür, die die Freigiebigkeit und Güte Seiner Gnaden mißbraucht haben, um euch aufzuwiegeln. Los, los, nehmt die Beine in die Hand und verschwindet!«
Angesichts der Soldaten liefen die ersten tatsächlich davon. Sie drängten zu der Seitenpforte, durch die sie eingelassen worden waren. Andere dagegen, die den Suppenkesseln am nächsten standen, reckten flehend ihre Töpfe und Schüsseln hoch.
»Habt Erbarmen!« riefen sie. »Wir haben noch nichts bekommen, und wir haben Hunger! Gebt uns Kascha und Brot!«
Die Diener versuchten, sie zurückzuschieben, doch die Menge der Nachdrängenden war stärker. Ein Mann riß einem Diener die Schöpfkelle aus der Hand und füllte seinen Topf mit Suppe, den er sofort gierig an den Mund setzte.
Die Kelle wurde weitergereicht, während andere einfach ihre Töpfe in die Kessel tauchten oder sich an den Tischen die Taschen mit Brot und Speck füllten.
»Ja, nehmt euch alles! Nehmt, soviel ihr tragen könnt!« rief jemand. Es war der Invalide, dem der rechte Arm fehlte. Er war auf einen Mauersockel geklettert. »Vorwärts, Brüder, gebt es dem verfluchten Gesindel, das euch nicht einmal für ein paar Stunden einen vollen Magen gönnt!«
Seine letzten Worte gingen im Lärm der Menge unter. Noch immer wollten etliche auf die Straße hinaus, doch sie wurden von denen, die sich nach vorn zu den Kesseln drängten, einfach mitgerissen.
»Zurück, ihr Idioten!« schrie der Anführer der Wachen. Es war ein junger Leutnant, der noch nie auf Menschen hatte schießen müssen. Ihm graute davor. Andererseits gefiel er sieh darin, forsch und schneidig aufzutreten. Er wußte, er dürfte sich keine Blöße geben.
Zudem hatte er Angst. Was war, wenn die Meute der Hungrigen, Aufgewiegelten tatsächlich den Palast zu stürmen versuchte? Dann würde man ihm die Schuld geben, daß er sie nicht aufgehalten hatte.
»Zurück!« brüllte er abermals, und seine junge Stimme überschlug sich. »Seid ihr wahnsinnig, ihr stinkendes Lumpenpack? Ich zähle bis drei, und wenn ihr dann nicht kehrtgemacht habt, kriegt ihr Blei zwischen die Rippen! Eins – zwei ...« Er zögerte, sah, wie wiederum einige vergeblich versuchten, zum Ausgang zu gelangen, während die meisten immer noch vorwärts drängten, und fügte schreiend »Drei!« hinzu.
Seine Soldaten hatten schon angelegt, während er zu zählen begonnen hatte. Bei ›Drei‹ schossen sie. Ihre Kugeln rissen die ersten zu Boden. Die hinter ihnen waren, wurden von den Nachdrängenden einfach weitergeschoben. Man trat auf die Verletzten, Wehklagen und Wutschreie erfüllten die Luft, wurden von einer erneuten Gewehrsalve übertönt.
Die Diener waren ins Haus geflüchtet, verriegelten die Türen und schoben Möbelstücke davor. Ein paar Fensterscheiben gingen zu Bruch, als die aufgebrachte Menge mit Töpfen und Kannen und was sie sonst noch bei sich hatte, auf die Wachsoldaten losging. Andere rissen brennende Holzscheite aus dem Feuer und schleuderten sie gegen die Schützen. Tische und Kessel kippten um, und Kascha und Kohlsuppe ergossen sich in den Schnee.
Bei der nächsten Gewehrsalve wandten sich freilich die meisten zur Flucht, und es wiederholte sich, was zuvor mit den von den ersten Kugeln Getroffenen geschehen war: Wer stürzte und am Boden liegenblieb, wurde niedergetrampelt.
Die Wachen schossen nun blindwütig in die Menschen. Der Einarmige in seiner zerrissenen Uniform, der noch immer auf dem Mauersockel stand und schrie: »So bleibt doch! Weicht nicht zurück!« wurde von einer Kugel in den Hals getroffen. Ein, zwei Sekunden stand er noch, schwankte wie ein Betrunkener hin und her, während das Blut, das aus seiner Kehle floß, seine Kleider benetzte, und stürzte dann in einer grotesken Drehung auf die verschneite Erde.
Die Frau im Kutschermantel hatte sich hinter einem umgestürzten Tisch verschanzt. Als sie versuchte, dahinter hervorzukriechen, um zur Pforte zu gelangen, traf sie gleichfalls ein Schuß.
Sie riß die Arme hoch, schrie gellend auf, ehe sie nach vorn kippte und auf Händen und Knien noch ein paar Schritte weiterzukommen versuchte. Sie schaffte es nicht mehr. Blut lief ihr aus Mund und Nase, und sie krallte die Hände in den Schnee und starb.
Später zählte man mehr als achtzig Tote, die erschossen oder niedergetrampelt worden waren. Man brachte sie nach draußen in eine dunkle Seitengasse neben dem Lasarowschen Palast, die zur Mojka hinunterführte. Polizisten sperrten das Gelände ab, untersuchten die Leichen, ob unter ihnen bereits bekannte subversive Elemente waren, und ließ sie dann auf großen Pferdeschlitten abtransportieren.
Es waren zu viele, um sie einfach in einem Eisloch in der Newa zu versenken. So würde man wohl weit draußen vor der Stadt ein neues Massengrab ausheben müssen. Verdammte Aufrührer! Selbst im Tod machten sie noch Scherereien. Die Erde war eisenhart gefroren. Man würde Sprengungen vornehmen müssen, um das Loch tief genug zu machen.
Von den Wachsoldaten war keiner ernstlich verletzt. Einige hatten Brandwunden von den brennenden Holzscheiten davongetragen, zwei oder drei ein paar Beulen und blutige Schrammen, und Graf Lasarow, den man von dem Zwischenfall unterrichtet hatte, verließ die Verlobungsfeier seiner Tochter, um den Männern persönlich zu danken und anzuordnen, daß sie auf das Beste versorgt wurden.
Der Haupttrakt des Palastes, wo sich die Gesellschaftsräume befanden, lag weit genug von den Wirtschaftsgebäuden entfernt, so daß man dort kaum etwas von dem Tumult gehört hatte.
Freilich meinten einige, es seien irgendwo Schüsse gefallen, doch niemand kümmerte sich darum. Neuerdings wurde häufig geschossen in St. Petersburg, um verbotene Demonstrationen aufzulösen oder irgendwelche anarchistischen Vereinigungen auszuheben.
Graf Lasarow legte Dienern und Wachen, die um die Vorgänge wußten, strengstes Stillschweigen darüber auf, damit kein Schatten auf das glänzende Fest fiel, und kehrte zu seinen Gästen zurück.
Gegen elf Uhr abends traf das Zarenpaar ein. In seiner Begleitung befanden sich außer den kaiserlichen Adjutanten und den üblichen Ehrendamen auch der jüngere Bruder von Nikolaus II., Großfürst Georg Alexandrowitsch, der vor vier Jahren offiziell zum Zarewitsch ernannt worden war, da Zarin Alexandra bis jetzt noch keinen männlichen Thronerben geboren hatte.
Georg war gerade von einer Auslandsreise zurückgekehrt und beugte sich mit einem charmanten Lächeln über Swetlanas Hand, als sie ihm vorgestellt wurde.
Er hatte die gleichen blauen Augen wie sein Bruder, war blond und breitschultrig und war, so hatte Swetlana schon vor der Begegnung mit ihm sagen hören, der bestaussehende Mann des ganzen Hofes.
Aber er sah nicht nur gut aus. Er wirkte klug und herzlich, und seine strahlende, offene Art machte ihn sogleich zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft.
»Meine allerherzlichsten Glückwünsche zu Ihrer Verlobung, Swetlana Pawlowna«, sagte er, und es klang keineswegs wie die erwartete Floskel, sondern warm und aufrichtig. Ungeniert betrachtete Georg ihr Gesicht. »Obwohl es andererseits natürlich ein Jammer ist, daß eine so bezaubernde junge Dame schon im ersten Winter ihres Petersburger Aufenthaltes eine feste Bindung eingeht. Wollen Sie sich die Sache nicht noch einmal überlegen?«
»Nein, Kaiserliche Hoheit«, antwortete sie und fragte sich im selben Augenblick, ob sie sich nicht in der Tat zu schnell für Boris Petrowitsch entschieden hatte, viel zu schnell ...
Hastig blickte sie zu ihrem Verlobten hoch. Sie spürte den leichten Druck seiner Finger auf ihrem Arm und stieß den Atem aus.
Guter, lieber Boris! Wie konnte sie so etwas nur denken! Sie war doch ganz sicher gewesen, und natürlich würden sie sehr glücklich miteinander werden.
»Schade«, sagte der Großfürst leichthin und wandte sich Swetlanas Verlobtem zu. »Ihnen muß man kein Glück wünschen, mein lieber Barschewskij. Sie haben es bereits. Halten Sie es gut fest.«
»Das werde ich, Kaiserliche Hoheit.« Boris schlug die Hacken zusammen und verneigte sich. Seine Augen glänzten, und er war offensichtlich sehr stolz darauf, daß der Großfürst seine Braut so reizend fand.
Später, als sie miteinander tanzten, sagte Boris ihr das auch. »Du hast großen Eindruck auf Seine Kaiserliche Hoheit gemacht, Swetlana. Aber das ist kein Wunder. Wer wäre nicht von dir hingerissen!«
Sie wehrte lachend ab. »Du übertreibst wie immer!« Aber in ihrem Inneren hatten seine Worte eine kleine Unruhe geweckt. Gefiel sie dem Großfürsten tatsächlich?
Georg Alexandrowitsch saß neben der Zarin auf einem Sofa in einer Fensternische des großen Ballsaales. Er hatte noch nicht getanzt, sondern unterhielt sich angeregt mit seiner Schwägerin. Swetlana sah, daß die beiden einander ganz offensichtlich zugetan waren. Die Art, wie die Zarin beim Gespräch die Hand auf seinen Arm legte, verriet viel freundschaftliche Vertrautheit.
Alexandra Fjodorowna sah kränklich aus an diesem Abend. Dazu mochte zwar auch ihr lindgrünes Samtkleid beitragen, das sie noch blasser machte, als sie ohnehin war, aber zudem hatte sie einen leidenden Zug um den Mund, und ihre Augen wirkten glanzlos und verschleiert, als hätte sie geweint.
Dennoch forderte sie nach einer Weile Swetlanas Vater zum Tanz auf und anschließend Boris Petrowitsch. Aber man sah ihr an, daß sie damit nur eine Pflicht erfüllte.
Auf Grund ihrer hohen Stellung wählten die Mitglieder der Zarenfamilie sich ihre Tanzpartner immer selbst aus; es wäre ein unglaublicher faux pas gewesen, wenn ein anderer sie dazu aufgefordert hätte.
Der Zar tanzte, wie es die Höflichkeit gebot, zuerst mit Wera Karlowna. Swetlana beobachtete, wie ihre Mutter in seinen Armen förmlich dahinschmolz. Sie genoß dieses Verlobungsfest in vollen Zügen.
Nachdem der Kaiser sie nach Beendigung des Tanzes zu ihrem Gatten zurückgebracht hatte, verneigte er sich leicht vor ihr und kam dann auf Swetlana zu.
»Werden auch Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Swetlana Pawlowna?« fragte er in seiner freundlichen, zurückhaltenden Art, und sie stand auf und spürte, wie ihr Herz vor Aufregung und Freude heftig zu klopfen begann.
Nikolaus II. war ein sehr guter Tänzer; es machte Spaß, sich von ihm führen zu lassen. Allerdings blickte er aus den Augenwinkeln immer wieder einmal zu seiner Frau hinüber, die noch mit Boris tanzte. Dann meinte Swetlana, Sorge und Unruhe in seinen sanften blauen Augen aufblitzen zu sehen.
Die Zarin und Boris beendeten den Walzer, und er führte sie zu ihrem Sofa zurück, wo sie sich wieder neben ihrem Schwager niederließ. Offenbar war ihr heiß geworden, denn sie tupfte sich ein paarmal mit einem Spitzentuch über Stirn und Oberlippe.
Dennoch setzte sie ein unbeschwertes Lächeln auf, als ihr Mann auf sie zukam. »Was für ein gelungenes Fest«, sagte sie und nickte Swetlana zu. »Ich wünschte, Seine Majestät und ich hätten ebenfalls eine solch harmonische Feier gehabt, als wir uns verlobten. Leider war es nicht der Fall.« Sie blickte zu ihrem Mann auf und schob ihre Hand in die seine. »Trotzdem waren wir sehr glücklich, auch, wenn wir lange darum kämpfen mußten, daß wir ein Paar werden durften.«
Großfürst Georg Alexandrowitsch lächelte Swetlana zu. »Jetzt bin aber ich an der Reihe, mit der Braut zu tanzen. Oder möchten Sie erst eine kleine Pause einlegen, Swetlana Pawlowna?«
»Nein, absolut nicht«, erwiderte sie. »Dazu tanze ich viel zu gern.«
Er führte sie in die Mitte des Ballsaals und legte die Arme um sie. Und von diesem Augenblick an war ihr zumute, als sei alles, was vordem für sie von Bedeutung gewesen war und später einmal Bedeutung erlangen könnte, zu etwas Nichtigem, völlig Unwichtigem geschrumpft. Es gab nur diesen Mann, der auf sie hinunterblickte mit seinen unwahrscheinlich blauen Augen, dessen Bewegungen ihr unbegreiflicherweise so vertraut waren, als hätte sie ihn schon immer gekannt, und dessen Lächeln sie bannte, so daß sie gar nicht anders konnte, als ihn unaufhörlich anzusehen.
Irgend etwas in ihr dachte sehr deutlich: Du bist verrückt, Swetlana. Dies ist deine Verlobung mit Boris Petrowitsch, du wirst ihn heiraten und hast die Pflicht, ihn glücklich zu machen, weil er dir vertraut. Und der Mann, in dessen Armen du jetzt bist, ist der Bruder des Zaren. Er absolviert einen Pflichttanz mit dir, nichts weiter, und ganz gewiß hat er irgendwo eine Geliebte – oder es gibt sogar schon eine Frau, die er heiraten will. Aber dann schob sie diese Gedanken mit aller Vehemenz von sich, und als Georg sie bei einer Drehung eine Spur fester an sich drückte und sie auch danach nicht mehr losließ, dachte sie gar nichts mehr, sondern fühlte nur noch, wie sein Körper sich an ihrem bewegte, spürte seine Hand auf ihrem Rücken und meinte, in seinem Blick zu versinken.
Georg Alexandrowitsch lächelte nicht mehr. Seine Augen hatten sich verdunkelt, und Swetlana meinte, einen tiefen Ernst darin zu entdecken.
»Warum sind wir uns nicht früher begegnet?« fragte er fast flüsternd. »Oder warum konntest du nicht warten, bis ich nach St. Petersburg zurückkam?«
Ja, warum nicht? Swetlana spürte, wie ein Zittern sie durchlief. »Bitte«, stieß sie hervor. »Das dürfen Sie nicht sagen!«
»Nein«, gab er mit einem flüchtigen Lächeln zu. »Aber ich sage es trotzdem ... obwohl es natürlich eine ganz unsinnige Frage ist.«
Für einen Moment gruben sich seine Finger fast schmerzhaft in ihren Rücken. »Bestimmt fragst du dich das gleiche. Willst du mir wenigstens das zugeben?«
O Gott, er sollte aufhören, sie so anzusehen! Oder warum hörte nicht wenigstens die Musik auf, und der Großfürst brachte sie zu Boris zurück.
Boris, dachte Swetlana, lieber, lieber Boris ... Sie dachte es, wie sie als Kind manchmal zu irgendeinem Heiligen gebettelt hatte, er solle ihr doch aus einer schlimmen Lage helfen oder einen Wunsch erfüllen.
Allerdings war das nie passiert, und auch jetzt nützte ihr der stumme Stoßseufzer nichts. Boris war ihr so fern gerückt, als hielte er sich in einer anderen Dimension auf. Alles war fern gerückt – bis auf diesen Mann, der mit ihr tanzte. Die Musik verstummte, aber Georg Alexandrowitsch gab den Spielern ein Zeichen, und sie setzten von neuem ein, wieder mit einem Walzer.
Swetlana war ein wenig schwindlig, und der Großfürst schien es zu merken, denn er hielt sie noch enger an sich gepreßt, so daß sie durch ihr Mieder die juwelenbesetzten Knöpfe seines Uniformrocks fühlte.
Eine Weile tanzten sie schweigend, und der weiß-goldene Saal, die Ballroben der Damen, die schimmernden Galauniformen und Seidenfräcke der Herren, das flirrende Licht der Kronleuchter – alles verschwamm vor Swetlanas Augen zu einem farbigen Wirbel, in dem der einzige feste Punkt Georg Alexandrowitsch war.
»Ich werde heute nicht mehr mit dir tanzen«, hörte sie ihn sagen. »Es würde auffallen. Aber ich muß dich Wiedersehen. Morgen nachmittag um vier ... an der Wladimir-Kirche? Du weißt, wo das ist?«
»Ja«, flüsterte sie. Sie kannte die Gegend. Gleich hinter dem Platz, wo sich die Kirche ›Unserer Lieben Frau von Wladimir‹ befand, gab es eine Reihe von Straßen mit dunklen, grauen Mietshäusern. Kein romantischer Ort für ein Stelldichein, aber bestimmt der richtige für ein heimliches Treffen des Thronfolgers und Zarenbruders. Wer würde ihn dort schon vermuten?
Schweigend beendeten sie den Walzer. Dann brachte Georg Alexandrowitsch Swetlana zu Boris zurück und verneigte sich vor ihr. »Es war mir ein großes Vergnügen, Swetlana Pawlowna.«
Boris nickte er freundschaftlich zu. »Es bleibt dabei, mein Lieber: Sie sind ein echter Glückspilz!«
Boris’ offenes, sympathisches Gesicht erhellte sich. »Ich weiß es, Kaiserliche Hoheit.«
Er war erbarmungswürdig ahnungslos, und Swetlana empfand plötzlich tiefe Scham.
Ich werde morgen nicht zur Wladimir-Kirche gehen, nahm sie sich vor. Ich darf Georg Alexandrowitsch nicht wiedersehen.
Sie hielt sich an ihren Vorsatz. Aber natürlich ließ es sich nicht umgehen, daß sie den Zarewitsch bei anderen Gelegenheiten traf: bei einer Parade auf dem Senatsplatz, einer Ballettaufführung im Kaiserlichen Theater, die sie mit ihren Eltern und Boris besuchte, bei einem Ball im Hause des Fürsten Radolin, der am deutschen Kaiserhof als russischer Botschafter akkreditiert und für ein paar Wochen nach St. Petersburg zurückgekehrt war.
Georg merkte, daß Swetlana ihm auswich und respektierte das, indem er seinerseits nicht ihre Nähe suchte. Aber oft genug ertappte sie ihn dabei, daß er zu ihr hinsah – oder sich selbst, daß ihre Blicke selbstvergessen an seiner großen breitschultrigen Gestalt und dem blonden Haar hingen.
»Ja, er ist wirklich ein Bild von einem Mann«, sagte Fürst Leonid Soklow bei einer solchen Gelegenheit. Es war während eines Konzertabends in der Eremitage, zu dem Swetlana mit ihren Eltern eingeladen war. Boris konnte sie nicht begleiten, er hatte Dienst bei der Garde. »Wenn man ihn so sieht, möchte man kaum glauben, daß er die Schwindsucht hat.«
Der italienische Tenor, der gerade eine Arie aus Rimski-Korsakows Oper ›Sadko‹ vorgetragen hatte, wurde mit einem freundlichen Applaus belohnt. Swetlana vergaß zu klatschen und wandte sich zu Soklow um.
»Von wem sprechen Sie? Wer hat die Schwindsucht?«
»Unser gnädigster Zarewitsch, Seine Kaiserliche Hoheit Großfürst Georg Alexandrowitsch. Wußten Sie das nicht?«
Ihr war zumute, als hätte jemand ein Eisenband um ihren Brustkorb gelegt und zöge es mit aller Unnachgiebigkeit zu. »Nein! Ist das wirklich wahr?«
Soklow lächelte mit dünnen Lippen. »So wahr, wie ich Sie liebe, Swetlana Pawlowna. Nein, nein, ziehen Sie nicht Ihre hübsche glatte Stirn kraus. Sagen wir besser, daß ich Sie aus der Ferne anbete, nachdem Sie Boris Barschewskij mir vorgezogen haben. Es war ein herber Schlag für mich, aber ich werde lernen müssen, damit zu leben. So wie Sie mit der betrüblichen Tatsache, daß Georg Alexandrowitsch ein schwerkranker Mann ist, auch wenn man es ihm im Augenblick nicht ansieht. Ich kann verstehen, daß Sie ihn bewundern. Wer tut das nicht?«
Der italienische Tenor trat ab, und ein kleines Kammerorchester nahm auf dem sechseckigen Podium in der Mitte des Saales Platz. Während die acht Männer noch einmal ihre Instrumente stimmten, kämpfte Swetlana um Fassung.
Wäre sie über Soklows Behauptung nicht so außer sich gewesen, hätte sie ihn wegen seiner aufdringlichen Reden in seine Schranken gewiesen. Aber in ihrem Kopf blieb nur haften, was er über den Großfürsten gesagt hatte. Georg Alexandrowitsch litt an Lungentuberkulose? Dieser strahlende, heitere Mann trug eine solch gefährliche Krankheit in sich, an der er eines Tages vielleicht sterben konnte!
Unwillkürlich beugte Swetlana sich über die vergoldete Balustrade der Empore, auf der sie mit ihren Eltern saß, um zu den etwas erhöhten Mittelplätzen im Parterre zu sehen, wo die kaiserliche Familie Platz genommen hatte.
Georg Alexandrowitsch unterhielt sich gerade mit seinem Cousin, dem Großfürsten Andrej Wladimirowitsch. Sie sah, wie er ihm lachend etwas zuflüsterte und mußte sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Soklow, der sie beobachtete, legte ihr flüchtig die Hand auf den Arm. »Echauffieren Sie sich nicht so, meine Liebe. Seine Kaiserliche Hoheit trägt sein Leiden mit großer Tapferkeit und möchte nicht, daß man allzu mitleidig darauf reagiert.«
Sie wich seiner Berührung aus. »Ich bin nur so erschrokken, weil ... weil ich keine Ahnung von seiner Krankheit hatte.«
Das Gespräch brach ab, da das Kammerorchester zu spielen begann, und der Fürst lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Er saß schräg hinter Swetlana und konnte sehen, wie sie immer wieder zu Georg hinunterblickte und dabei nervös ihren Spitzenfächer zwischen den Fingern drehte.
In der Konzertpause wurden Champagner und kleine Pasteten gereicht. Swetlana trank zwei Gläser hintereinander. Essen konnte sie nichts. Sie stand auf und entschuldigte sich bei ihren Eltern. »Ich habe auf der gegenüberliegenden Seite Natalja Lipkina gesehen und möchte sie einladen, morgen mit mir und Boris Petrowitsch zum Eislaufen zu kommen.«
»Geh nur, Kind«, erwiderte Wera Karlowna und nickte ihr in ihrer üblichen zerstreuten Art zu. »Und grüße die Lipkins von Papa und mir.«
Swetlana wechselte nur ein paar Worte mit Natalja, die zu ihren neugewonnenen Petersburger Freundinnen gehörte. Dann verließ sie den Saal durch einen Nebenausgang und lief die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Sie hörte, wie drinnen das Konzert fortgesetzt wurde, aber sie meinte, keinen Augenblick länger ruhig in ihrem Sessel sitzen und der Musik – es war diesmal ein Duett aus irgendeiner italienischen Buffo-Oper – zuhören zu können.
Statt dessen trat sie auf die kleine Terrasse hinaus, die sie an der rückwärtigen Front des Vorsaals entdeckte.
Beißende Kälte empfing sie, so daß sie in ihrem rosefarbenen Samtkleid zusammenschauerte.
Trotzdem blieb sie für eine Weile draußen und starrte in den Himmel, über den schwere Wolken zogen, die neuen Schnee verhießen.
Als Swetlana sich umwandte, um in die schützende Wärme der Eremitage zurückzukehren, stand plötzlich Georg Alexandrowitsch vor ihr.
»Ich habe gesehen, daß du fort warst«, sagte er, »und da bin ich dich suchen gegangen. Ich dachte, wir müßten noch einmal miteinander reden. Warum bist du neulich nicht gekommen? Ich habe fast zwei Stunden gewartet, weil ich nicht glauben wollte, daß du dich mir entziehst.«
»Muß ich das nicht, Kaiserliche Hoheit?« fragte sie, und statt einer Antwort legte er die Arme um sie.
»Das mußt du«, erwiderte er und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen kleinen Küssen. Dann nahm er ihre Hand und zog Swetlana mit sich in einen kleinen, offenbar unbenutzten Salon, dessen Polstermöbel mit weißen Leinenfüchern abgedeckt waren.
Im Schein der Wandlampen, die er angeknipst hatte, betrachtete er Swetlana.
»Ich brauche dich so sehr«, sagte er. »Ich habe versucht, es mir auszureden, aber es geht nicht. Du und ich – wir sind wie die zwei Hälften einer Nußschale, die zusammenpassen. Die Franzosen nennen so etwas einen Coup de foudre. Und sag selbst, war es nicht so zwischen uns? Wir haben einander gesehen, und es war, als ob ein Blitz uns getroffen hätte und alles auslöschte, was vordem für uns wichtig war.«
Sie wich zurück, als er auf sie zukam. »Nein! Das sind Hirngespinste. Ich will das nicht. Bitte, Kaiserliche Hoheit, lassen Sie mich gehen.«
Er sah eine kleine Ader an ihrem Hals pochen und preßte seinen Mund darauf. »So schön ...«, murmelte er. »So schön!«
Sie wußte, daß sie verloren war, wenn sie ihm nur einen halben Schritt entgegenkam. Trotzdem legte sie die Arme um seinen Hals, bog den Kopf zurück und stöhnte auf, als Georg fortfuhr, sie zu küssen, ihren Hals, die Schläfen, die geschlossenen Augen, den Mund.
Sie zitterten beide, und Swetlana dachte: Es ist Wahnsinn. Es wird niemals irgendeine Chance für uns geben, aber es ist mir egal. Er hat ja recht: Außer ihm gibt es nichts mehr, das für mich zählt.
Sie küßten einander, berührten sich, scheu zunächst, als seien sie in einem Zauber gefangen, erkundeten ihre Münder, ihre Körper, bis Swetlana meinte, es nicht mehr aushalten zu können, und sich aus Georg Umarmung zu lösen versuchte.
Er gab ihr nach, ließ sie los, und ihr war zumute, als sei sie beraubt worden, weil sie nicht mehr an seiner Brust lag.
Diesmal war sie es, die zu ihm kam, mit allem Ungestüm ihrer Liebe, und er umfaßte ihr Gesicht und legte mit seinen Lippen eine zärtliche Spur darüber.
Ach, er war so schön, und es tat so gut, in seinen Armen zu sein!
»Werden wir uns wiedersehen?« fragte Georg, und Swetlana nickte.
»Wo?« wollte sie nur wissen. »Und wann?«
Er dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Ich werde eine Wohnung mieten. Ich sende dir Nachricht. Aber diesmal mußt du wirklich kommen.«
»Ich schwöre es«, erwiderte sie mit dem ganzen Ernst ihrer siebzehn Jahre, und dann küßten sie einander wieder, bis draußen im Treppenhaus Schritte und Stimmen laut wurden.
»Das Konzert ist zu Ende«, flüsterte Georg. »Geh du voraus. Ich komme später nach.«
An der Tür flog sie noch einmal an seine Brust, und er preßte seine Lippen auf ihren Mund. Und Swetlana wußte immer noch, daß alles vollkommen hoffnungslos und verfahren war – und war dennoch glücklich.